Lärchenstrasse 12
»Sag, wo steckt eigentlich Kathi? Wenn ich es mir recht überlege, habe ich sie seit einer Woche nicht mehr gesehen.« Kurt rührte mit jener Lustlosigkeit, die sich einstellt, wenn man um halb fünf Uhr morgens frühstückt, in seiner Kaffeetasse.
»Die hat in ein paar Tagen Prüfung, lernt mit einer Freundin und schläft auch gleich dort, weil sie in der Nähe der Uni wohnt.« Eva hantierte mit etwa der gleichen Lustlosigkeit in der Küche und bereitete sich ein Müsli zu. »Warum
musst du eigentlich heute so früh raus?«
»Sondereinsatz. Was war das nochmal gleich. Eine Demo. Nein, eine Hausbesetzung. Alles, was gehen kann, ist heute dorthin kommandiert.« Kurt trank den heißen Kaffee in kleinen Schlucken.
»Seit unsere Tochter studiert habe ich irgendwie völlig den Faden zu ihr verloren.« Er musste an die Zeit zurückdenken, in der Kathi ein Volksschulkind war, oder auch noch in den ersten Jahren im Gymnasium. Damals stellte sie alle Fragen, die ihr
wichtig waren, schriftlich auf kleinen Zettelchen, die sie so versteckte, dass er sie finden musste. »Paps, warum ist der Himmel blau?«, fand er da mal in seiner Uniformjacke. Oder »Paps, gehen wir am Wochenende ins Bad?« Er schrieb dann die Antwort ebenfalls auf den Zettel und versteckte ihn so, dass sie ihn finden musste. Ein kleines Spiel zwischen ihm und seiner Tochter, das er sehr mochte, und das ihm heute noch ein Lächeln ins Gesicht zauberte, wenn er daran dachte.
Kurt stellte die leere Kaffeetasse auf den Küchentisch und stand auf. »Ich muss dann mal los.« Eva hielt ihm wortlos die Stirn zum Kuss hin, ein
Ritual, das sich in langen Ehejahren eingespielt hatte und zwischen den beiden keiner Erklärung mehr bedurfte.
Er ging ins Vorzimmer, zog sich die Uniformjacke an, rief noch ein »Tschüss!« in die Küche und verließ das Haus. Eva hörte die Tür hinter ihm ins Schloss fallen, als sie schon damit beschäftigt war, das Frühstücksgeschirr wieder abzuräumen. Irgendwann hatte sie es sich zur Regel gemacht, mit ihrem Mann zu frühstücken. Auch wenn ihr Tag viel später begann und Polizisten ganz allgemein sehr merkwürdige Dienstzeiten haben.
*
Kurt stieg aus dem Mannschaftsbus, der ihn und fünfzig andere Kollegen an den Einsatzort Lärchenstraße 12 gebracht hatte, und landete mitten im Chaos.
Die Hausbesetzer hatten links und rechts des Hauses über die gesamte Straßenbreite Barrikaden errichtet. Davor hatte jeweils eine Kette Polizisten in der martialischen Demonstrationsausrüstung, wie man sie aus dem Fernsehen kannte, Stellung bezogen. Mit ihren Helmen, Nackenschutz, Brustpanzern, Schlagstöcken und transparenten Kunststoffschilden sahen sie aus wie
Außerirdische. Aus den Fenstern des Gebäudes hingen handgemalte Transparente mit Aufschriften wie »Zieht endlich Leine, ihr Bullenschweine!»
Als sich eine der Polizistenketten öffnete, um einen Räumpanzer nach vorzulassen, ertönte ein Pfeifkonzert, das auf eine beachtliche Menge an Hausbesetzern schließen ließ. Aus den oberen Stockwerken ergoss sich ein Regen von allen möglichen Gegenständen auf das Polizeifahrzeug und ein paar besonders findige Besetzer versuchten, Kübel mit weißer Farbe so über das Räumfahrzeug zu entleeren, dass dem Fahrer die Sicht genommen wird.
Kurt hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Die Aussicht, in diesem unbeschreiblichen Chaos unter kriegsähnlichen Umständen ein Haus zu stürmen, schrieb Sorgenfalten auf seine Stirn. Er mochte diese Art von Einsätzen nicht. Dafür war er nicht Polizist geworden.
»Einsatzbereitschaft herstellen! Noch zwei Minuten!« Kurt befolgte die zigfach geübten Handgriffe automatisch. Helm aufgesetzt und festgeschnallt. Visier herabgeklappt. Knüppel, Pfefferspray
und Dienstwaffe überprüft. Bei jedem Atemzug beschlug das Visier leicht. Er blickte nach links und rechts zu seinen Nachbarn. Ab jetzt war er eine Art Dienstmaschine, die nicht mehr über Sinn und Unsinn des Handelns nachdachte, sondern Befehle ausführte.
Als sie sich dem Gebäude mit über den Köpfen gehaltenen Schilden näherten, begann das Theater von neuem. Trillerpfeifen versuchten die Polizeilautsprecher zu übertönen, Sprechchöre über die internationale Solidarität und tote Polizisten, Wurfgeschosse, herabgeschüttete Farbe und zuguterletzt aufgeschlitztes
Bettzeug, aus dem die Daunen herabschwebten und an den farbnassen Schilden kleben blieben. Geteert und gefedert unter dem Gelächter der Zuschauer.
Kurt war heilfroh, als sie den Eingangsbereich erreichten. Das alte, morsche Tor leistete der Ramme nur wenig Widerstand und gab nach wenigen Schlägen nach. »Drei Mann Treppenhaus sichern, zwei Mann erster Treppenabsatz, drei Mann Korridor links, drei Korridor rechts!«
Kurt und zwei Kollegen waren dazu
bestimmt, das Treppenhaus gegen den linksseitigen Hausflur zu sichern. Gestank schlug ihnen entgegen, als sie in das Haus rannten. Im Halbdunkel fiel ihnen die Orientierung nicht leicht. Von oben war das Stiegenhaus ständigem Bewurf mit schweren und schwersten Gegenständen ausgesetzt. Donnernd schlug eine herabgeworfene Waschmaschine unmittelbar neben einem Polizisten ein. Auch Kurts beide Kollegen waren kurzfristig mit der Entfernung des Ungetüms beschäftigt, so dass sich Kurt alleine in dem offenbar völlig verlassenen Hausflur vorfand.
Er schaltete seine Helmlampe ein, um
sich zu orientieren. Zwei Wohnungstüren links zur Straßenseite, zwei rechts zur Hofseite. Er versuchte, die erste Tür der linken Seite zu öffnen. Sie war verschlossen. Rechts ebenso. Hinter ihm wurde der Tumult im Stiegenhaus immer größer. Offenbar versuchten die Hausbesetzer so etwas wie einen Gegenangriff.
Kurt ging angespannt weiter. Auch die zweite Tür links war verschlossen. Langsam wurde er ruhiger und dachte, in all diesem Chaos noch das ruhigere Ende erwischt zu haben. Zweite Tür rechts, kein Türgriff und kein Schloss.
Kurt drückte langsam die Tür auf. Dahinter war es dank der hofseitigen Wohnungsfenster deutlich heller als am Flur. Jetzt war die Tür weit geöffnet. Ein Vorraum, daran anschließend drei Zimmer, keine Türen, jede Menge Dreck, zerschlagenes Mobiliar, Schutt und Scherben.
Er begann mit dem ersten Zimmer. Ein rascher Blick in die toten Winkel hinter der Tür. Nichts, leer. Hier muss es vor langer Zeit mal schön zu wohnen gewesen sein. Durch das zerschlagene Hoffenster sah man einen riesigen Kastanienbaum und ein paar Beete, die früher mal der Stolz ihres Besitzers
gewesen sein müssen.
Kurt ging zurück in den Vorraum. Nächstes Zimmer. Blick links hinter den leeren Türrahmen. Nichts. Blick rechts. Verdammt! Mechanisch griff er an seinen Knüppel. Erst als er diesen in der Hand hielt, realisierte er, dass von dem Bündel Mensch, das dort in der Ecke kauerte, keine Gefahr ausging. Schwarze Hose, schwarzer Pullover, rote Turnschuhe, so hockte dort zitternd ein Etwas mit von den Armen umschlungenen, angezogenen Knien, den Kopf darin vergraben.
Der Knüppel wanderte wieder zurück in
seine Halterung am Einsatzgurt und Kurt kniete sich neben die zusammengekauerte Gestalt. Er suchte nach ein paar Worten des Zuspruchs. Als er sanft nach dem Oberarm griff, um die Gestalt aus ihrer Angststarre zu bekommen, bemerkte er, dass es ein Mädchen sein musste.
»Na komm. Es wird dir schon keiner den Schädel abrei---«. Kurt war vom Donner gerührt, als die Gestalt langsam den Kopf von den Armen hob und ihn anblickte. »Kathi?«, stammelte er ungläubig, als er in das verweinte Gesicht seiner Tochter blickte.
Als Polizist wurde er sein ganzes Arbeitsleben darauf trainiert, Entscheidungen innerhalb von Sekundenbruchteilen zu treffen, zu ihnen zu stehen und sie durchzuziehen. Möglich, dass ihm diese antrainierte Fähigkeit nun zur Seite stand. Nachdenken musste er jedenfalls nicht.
Kurt stand auf, vergewisserte sich, dass ihm noch keiner seiner Kollegen in diese Wohnung gefolgt war, ging an das Fenster und warf einen Blick in den Hof. Hier war es völlig ruhig. Von dem Inferno im Stiegenhaus war nichts zu bemerken. Er seufzte erleichtert, als er sah, dass das Tor in das gegenüber des
Hofes liegende Haus offen stand.
Kathi kauerte immer noch mit verheulten Augen in der Ecke des Zimmers. Kurt zog sie hoch, nahm sie an der Hand und ging mit ihr zum Fenster. »Siehst du das Tor da drüben? Da durch kommst du in die nächste Parallelstraße. Eigentlich sollte dort Ruhe sein. Wenn dich doch jemand aufhält, dann sagst du einfach deinen Namen und dass du den Einsatz beobachten wolltest, weil du das für dein Jus Studium brauchst. Ich habe dir das erlaubt.«
Ein Lächeln huschte über Kathis
Gesicht. Sie fiel ihrem Vater kurz um den Hals, kletterte durch die Fensteröffnung, sprang die knapp zwei Meter runter in den Hof, rannte zum Hoftor des gegenüberliegenden Gebäudes und verschwand.
Kurt wartete noch ein paar Sekunden, dann rückte er das Visier wieder zurecht, verließ die Wohnung und nickte einem der Kollegen, der ihn bereits vermisste zu. »Alles in Ordnung. Hier ist alles sauber.«
Wenn ihn später jemand fragen würde,
wie er den Einsatz Lärchenstraße 12 erlebt hätte, er würde lügen müssen. Denn er verbrachte die nächsten Stunden wie in Trance und würde nicht in der Lage sein, sich an irgendetwas von dem, was er tat, zu erinnern.
*
»Ich muss dann mal los.« Wortlos hielt Eva ihm die Stirn zum Kuss hin. Wie an jedem Tag, wenn Kurt den Weg in den Dienst antrat. Mit keinem Wort hatte er die Ereignisse erwähnt, den Einsatz heruntergespielt, obwohl die Nachrichtensendungen breit darüber
berichtet hatten.
Im Vorzimmer zog Kurt die Schuhe an und schlüpfte in die Uniformjacke. Erst als er bereits im Auto saß und nach Kleingeld für die Zeitung kramte, stieß er auf den kleinen Zettel in seiner Jackentasche. »Danke, Paps« stand darauf zu lesen.