Prolog
„Sie wissen, warum sie hier sind?“
Roberta Heidenreich stand starr wie eine Statue. Die Hände hielt sie ineinander gefaltet. Sie wagte es nicht, den Blick zu heben. Sie wusste genau, dass dieses Treffen einen Grund hatte. Das Gremium bat nicht einfach so um eine Unterredung. Das letzte mal als sie mit diesen Leuten gesprochen hatte war, als Norman Hammond seinen Rücktritt ankündigte. Sie war als neue Leitung von Willow Creek ausgewählt worden. Sie sollte Stabilität und Sicherheit innerhalb der Anstalt gewährleisten, nachdem die Dinge aus dem Ruder
gelaufen waren. Angefangen hatte es damals mit Ethan Rain. Aufgrund einer Fehleinschätzung seinerseits waren dutzende von Patienten aus dem Sanatorium entkommen. Individuen von gefährlicher Natur. Letztendlich hatte man wohl gehofft, dass sie die Wogen wieder glätten konnte. Sie selbst hatte daran geglaubt. Nun stand sie hier vor den Männern und Frauen, die ihr die Chance gaben alles wieder gut zu machen. Sie fragte sich inständig, was sie falsch gemacht hatte. Das gesamte Jahr über hatte sie versucht die Lage zu stabilisieren. Offenbar umsonst. So hob sie den Kopf. Nur ein Mitglied des Gremiums war tatsächlich anwesend.
Alle anderen sahen über Bildschirme zu, die an der Wand hingen. Russel Studwick saß hinter dem langen Besprechungstisch, der den halben Raum ausfüllte. Ein robuster Mann mit stoppeligem Bart und markanten Gesichtszügen. Seine braunen Augen suchten sie. Sahen sie eindringlich an, als würde er in ihr lesen wie in einem Buch. Neben ihm saß Nathan Rivers, sein Assistent, der ruhig und gewissenhaft jeden Fetzen dieses Gesprächs aufschrieb.
„Ich denke, das Gremium wird seine Gründe haben“, erläuterte sie. Studwick lächelte matt und strich sich den Kragen seines Jacketts gerade. Anschließend
nahm er einen Schluck aus dem Wasserglas zu seiner linken. Er schien nichts überstürzen zu wollen. Er strahlte eine besondere Art der Ruhe aus, welche ein wenig half, die beklemmende Stimmung zu ertragen.
„Natürlich. Wir haben unsere Gründe, doch was denken sie, warum sie hier sind? Warum glauben sie, hat das Gremium sie zu dieser Unterredung aufgefordert?“
Wie ein Fels in der Brandung. Spielte er gerade mit ihr? Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was eigentlich hinter all dem stand. Sie konnte sich nur vorstellen, dass sie von den jüngsten Ereignissen wussten und nun einen
Sündenbock suchten. Es war bitter, dass sie dabei zuerst auf sie kamen. Dennoch gab sie nicht einfach auf. Wenn es eine Chance gab, sich zu erklären, dann würde sie diese auch zu nutzen wissen. Noch war nichts entschieden.
„Sicherlich wegen der jüngsten Ereignisse. Alles was ich dazu sagen kann ist, dass niemand hätte ahnen können, dass so etwas geschieht. Ein Angriff auf die Anstalt war das letzte, was wir erwarteten.“
Sie sprach ruhig und gefasst. Die Furcht schluckte sie hinunter. Studwick runzelte die Stirn und fuhr sich durch
das dunkelbraune Haar. Das kratzen des Stiftes den Nathan benutzte drang ihr ans Ohr. Er wirkte wie ein Geist, der einfach nur hier war um zu lauschen. Nicht einmal sah er zu ihr auf. Gewissenhaft verfolgte er seine Arbeit.
„Dennoch ist es passiert. Wie können sie erklären, dass unter ihrer Leitung elf Menschen den Tod fanden? Es schien, als wäre es diesem Angreifer denkbar einfach gefallen. Ohne große Schwierigkeiten ist er in die Anstalt eingedrungen.“
Er warf einen Blick auf ein paar Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch ruhten.
„Es scheint, als sei der Leiter des
technischen Personals, Edward Smith dafür verantwortlich. Was können sie dazu sagen?“
Ihr Magen verkrampfte sich auf eine merkwürdige Art und Weise. Sie hätte wissen müssen, dass dieser Vorteil ihr Strick sein würde. Studwick würde sie baumeln lassen. Darin bestand überhaupt kein Zweifel. Jetzt war es nur wichtig, den Schaden zu begrenzen.
„Mir war nicht bewusst, dass es dem Feind bereits gelungen ist unsere Reihen zu infiltrieren. Erst nach dem Einbruch war der wirkliche Schaden ersichtlich. Sobald ich konnte, tat ich alles um zu intervenieren.“
Wieder kratzte der Bleistift über das
Papier. Studwick nickte bedächtig und faltete die Hände vor seinem Gesicht. Mit nichtssagendem Ausdruck bedachte er sie.
„Und wie können sie sich das Scheitern dieser Intervention erklären? Wie genau sind sie vorgegangen?“
Sie schluckte.
„Ich informierte Ethan Rain, einen Arzt des Sanatoriums und Arnold Griffs, den Leiter der Wachmannschaft. Ich trug ihnen auf Edward zu verhaften.“
Sie wusste genau, wohin diese Unterhaltung führte. Dennoch gab es nichts was sie tun konnte, um den Ausgang zu beeinflussen. Sie war in die Ecke gedrängt. Wie ein Tier das auf den
Todesstoß wartete.
„Und wie erklären sie sich, dass ihre Mitarbeiter auf eigene Faust weiter ermittelten? Es steht außer Frage, dass sie nichts davon wussten. Dennoch, ihre Nachsicht mit dem Personal hat den Tod von elf Menschen verschuldet. Zwei weitere liegen im Krankenhaus. Dabei ist es nicht ersichtlich, ob sie sich jemals von diesem Angriff erholen werden. Was haben sie dazu zu sagen?“
Es stimmte. Rain und Griffs waren auf eigene Faust vorgegangen. Erst vor kurzem hatte sie überhaupt davon erfahren. Beide Männer waren angeschossen worden und befanden sich jetzt im Krankenhaus. Griffs war so weit
es ging außer Gefahr. Dennoch würde er bleibenden Schaden davontragen. Rain lag noch immer im Koma und die Ärzte konnten nicht sagen, ob er noch einmal aufwachte.
„Schon immer war es so, das Rain die Dinge nach seinem Ermessen behandelte. Es war schwierig ihn im Zaum zu halten. Stets versuchte ich seine eigenbrötlerische Natur unter Kontrolle zu halten. Bereits in der Vergangenheit tat Rain Dinge, die ich persönlich niemals aufgetragen hatte.“
Russel sah sie an.
„Aber sie haben sie toleriert. Nicht nur das. Sie haben ihm freie Hand gelassen.
Ein Beispiel: Naiomi Winchester. Sie tolerierten Rains Verhalten und ließen zu, dass er das Mädchen außerhalb ihrer Reichweite schafft. Sie feuerten ihn. Bis zu diesem Punkt haben sie sich richtig verhalten Roberta. Allerdings begingen sie einen schwerwiegenden Fehler, indem sie ihn zurück nach Willow Creek holten.“
Sie biss sich auf die Lippen. Eine Hand hatte sie zur Faust geballt. Dennoch zwang sie sich zur Fassung.
„Es stand außer Frage, dass die Anstalt Rains Fähigkeiten benötigte. Sein Feingefühl im Umgang mit den Patienten suchte schon immer seines gleichen. Ohne ihn wäre es uns nicht gelungen
manche der Entflohenen Häftlinge wieder zurück in das Sanatorium zu bringen.“
Auch wenn sie es nicht gerne zu gab. Es war kein Fehler Ethan wieder einzustellen. Er hatte immer gute Dienste geleistet. Trotz seines eigensinnigen Charakters. Ohne ihn hätten manche Dinge schlimm ausgehen können. Dennoch brachte es jetzt nichts, sich für ihn zu verbürgen. Ihre Zukunft stand auf der Kippe. Nicht seine.
„Sie stellten ihn wieder ein und ließen ihm freie Hand. Sie entließen sogar eine gefährliche Patientin zurück in den A-Trakt. Eine stupide Handlung, die
letztendlich zum Compton-Fall führte. Nicht umsonst ist ein D-Patient in einem besonderen Bereich aufgehoben. Ihre Fähigkeiten sind vielschichtig. Gefährlich. Sie können diese Menschen, nicht mit anderen vergleichen. Zwar versuchten sie die Situation wieder ins Reine zu bringen, in dem sie Leland Akerman dazu brachten das Mädchen zu töten, aber am Ende haben sie versagt. Dies war nur eine von vielen Situationen die uns ihre Inkompetenz aufzeigte.“
Er hielt einen Augenblick inne, trank von seinem Wasser, ehe er sich ihr wieder zuwandte.
„Sie haben nicht länger die Kontrolle
über die Anstalt Roberta. Ihr Fehlverhalten und ihre falschen Einschätzungen der Sachlage veranlassen uns, sie ihrer Stelle zu entheben. Anscheinend trafen wir nicht die richtige Wahl, als wir sie zur Anstaltsleiterin erhoben. Die jüngsten Ereignisse veranlassen uns dazu, neue Maßstäbe zu setzen. Noch immer treibt dort draußen ein Aggressor sein Unwesen. Bis jetzt waren sie nicht in der Lage dieser Bedrohung Herr zu werden und auch in Zukunft bezweifle ich, dass dies der Fall sein wird. Deshalb hat das Gremium entschieden sie zu ersetzen. Jemand anders wird an ihre Stelle
treten.“
Ihre Welt brach in diesem Augenblick zusammen. Sie hatte immer versucht zum Wohl der Anstalt zu handeln, seitdem man sie eingesetzt hatte. Jetzt warf man sie weg. Als wäre sie ein kaputtes Werkzeug. Eindringlich sah sie Studwick an. Ihr waren die Hände gebunden. Dessen war sie sich bewusst. Trotzdem: Sie würde das nicht einfach so auf sich sitzen lassen.
„Und weshalb glauben sie, dass jemand anders in der Lage ist zu schaffen, woran ich scheiterte? Denken sie, die Dinge werden sich ändern, nur weil sie jemand anderes auf den Stuhl des Anstaltsleiters
setzen?“
Sie erhoffte sich keine wirkliche Antwort darauf. Das Gremium hatte seine Entscheidung gefällt. Sie würde sich fügen müssen.
„Es ist ein Anfang. Es gibt eine Menge zu tun. Das wichtigste ist, dass wir nun den angerichteten Schaden begrenzen. Sie hatten Gelegenheit ihren Wert zu beweisen. Bedauerlicherweise haben sie uns unsere eigene Entscheidung anzweifeln lassen. Nun werden wir tun, was wir immer tun. Wir beseitigen das Chaos, damit in Zukunft Stabilität und Ordnung bewahrt werden können. Dies ist nur die erste von vielen Veränderungen. Es wird eine Zeit
kommen, in der wir die richtigen Entscheidungen treffen müssen, auch wenn sie uns nicht gefallen. Nicht wegen uns, sondern zum Wohle aller.“
Sein Blick traf den ihren. Sie senkte den Blick. Sie hatte ihm nichts mehr zu sagen. Die Sache war entschieden. Was nun geschah, würde nicht mehr in ihrer Hand liegen...