realpolitik oder liberale illusionen?
In diesen Zeiten kann die Rezension eines Zeitschriftenartikels so ergiebig sein wie sonst die eines ganzen Buches. Hier soll es um einen Beitrag aus der jüngsten Nummer von „Foreign Affairs“ gehen. Er ist von John J. Mearsheimer und hat den Titel: „Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault – The Liberal Delusions That Provoked Putin“.
“Foreign Affairs” gilt als die weltweit führende Fachzeitschrift zu Fragen der Außenpolitik und erscheint sechsmal jährlich in einer Auflage von 140.000. Sie ist gewissermaßen das Sprachrohr
der einflussreichen Denkfabrik „Council on Foreign Relations“, deren Mitglieder sich aus Spitzenbeamten, Wirtschaftsführern, Wissenschaftlern und Journalisten, vor allem aus den USA, zusammensetzen.
John J. Mearsheimer (geb. 1947) ist Politikwissenschaftler an der Universität von Chicago und einer der Hauptvertreter des „Offensiven Neorealismus“ – nein, das hat hier nichts mit Film oder Literatur zu tun, es ist eine Denkschule zu auswärtigen Angelegenheiten. Wer sich näher mit ihr vertraut machen möchte, lese bei Wikipedia den vorzüglichen Artikel zu
„Neorealismus (Internationale Beziehungen)“ durch. Hier soll der kleine Hinweis genügen, dass sich im Originaltext unser deutsches Wort „Realpolitik“ findet.
Mearsheimers zehnseitiger Beitrag gliedert sich in eine Einleitung und fünf weitere Abschnitte. Eröffnend stellt er seine Hauptthesen vor: Die USA und ihre Verbündeten in Europa trügen die Hauptschuld an der Ukraine-Krise. Sie sei absehbar gewesen, da Russland schon seit den 1990er Jahren immer wieder vor einer Ausdehnung der NATO auf die Ukraine gewarnt habe. Diese NATO-Erweiterung sei der Kern der
Differenzen zwischen Russland und dem Westen. Es treffe nicht zu, dass das Vorgehen Putins nach Janukowitschs Sturz Ausdruck einer russischen revanchistischen Expansionspolitik sei. Er streift außerdem das, was für ihn wohl liberale Illusionen sind: die strikte Verfolgung liberaler Prinzipien unter Vernachlässigung realer Interessen einzelner Staaten.
Im Folgenden behandelt Mearsheimer zunächst die Entwicklung an der osteuropäischen Bruchlinie in den letzten fünfundzwanzig Jahren, speziell die einzelnen NATO-Erweiterungen, dann das zunehmende Engagement des
Westens in der Ukraine und die sich als Reaktion verhärtende Haltung Russlands. Der Verlauf der aktuellen Krise seit 2013 wird uns noch einmal vor Augen geführt, die Rolle der EU gestreift. Es folgt die Analyse der wesentlichen Motive und Interessengegensätze der Akteure, dann wie sie sich seit der Zuspitzung gegenseitig die Schuld zuschieben. Schließlich präsentiert uns der Autor seinen Lösungsvorschlag: Verzicht des Westens auf Einbeziehung der Ukraine in seine Bündnissysteme, die Stabilisierung der Ukraine als Pufferstaat zwischen Russland und dem Westen. Abschließen verweist Mearsheimer auf die enorme
Bedeutung, die russischer Hilfe bei der Lösung der großen Probleme im Ländergürtel von Syrien bis Afghanistan zukommt. Und er wirft einen Seitenblick auf das Dreiecksverhältnis USA – China – Russland.
Der Westen, schreibt Mearsheimer abschließend, habe die Wahl zwischen zwei entgegengesetzten Strategien: Weitermachen oder neu orientieren. Je nachdem werde es nur Verlierer oder nur Gewinner geben.
Der Text verdient weiteste Verbreitung sowie gründliche Erörterung seiner Argumente. Aus der Perspektive eines
Neorealisten sind Letztere durchweg stringent. Allerdings – und man kann es vielleicht in diesem Rahmen auch nicht erwarten – ist die Auseinandersetzung mit der liberalen Denkschule recht knapp ausgefallen. Die inneren Verhältnisse in der Ukraine werden außerdem fast nicht berührt. Kiew und Donezk sind eben sehr weit weg von Chicago. Und was noch ganz fehlt: Ökonomische Gesichtspunkte, ihre Bedeutung im Hintergrund, jenseits von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten einerseits und legitimen realen Sicherheitsinteressen andererseits.