Agnus Dei
Ein beladener Esel ist auf der Suche nach Nahrung...
Gerne lade ich Dich ein, nach dem Lesen der Geschichte die Augen zu schliessen und die Musik von Wolfgang Amadeus Mozart zu geniessen: KV 317 Agnus Dei
Bild:
http://www.thegiftofmusic.com/acatalog/info_CDG1163.html
Agnus Dei
Dunkel ist die Nacht, wolkenverhangen der Himmel. Georg liegt im Bett. Seine Gedanken kreisen und wollen nicht weichen. Er schickt sie weg und schon sind sie wieder da. Es ist zum Verrücktwerden. Das Affengeschnatter im Kopf hört nicht auf. Ihm wird kein Schlaf gegönnt, obwohl er todmüde ist. Er wälzt sich hin und her. Weder auf der linken noch auf der rechten Seite fühlt er sich wohl. Einen Moment bleibt er auf dem Rücken liegen und drückt seinen Kopf in den Nacken. In diesem Augenblick spielt sich eine surreale Begegnung ab; aus der Finsternis lächelt
ihm ein Greis entgegen, der sogleich wieder verschwindet.
Ein kleiner Junge ist mit diesem alten Mann im Garten. Die Sonne lacht vom Himmel, überall grünt und blüht es. An den Bäumen hängen bereits die ersten reifen Äpfel. Georg bestaunt seinen Grossvater und überhäuft ihn den ganzen Nachmittag mit Fragen: „Warum wachsen Pflanzen? Wieso gibt es Schnecken? Warum riechen Blüten? Was denkt ein Mistkäfer?“ und vieles mehr. Wilhelm ist sehr geduldig und hat immer Antworten parat, die aber meistens gleich wieder neue Fragen aufwerfen. Eine davon ist für den Grossvater von
zentraler Bedeutung: „Was ist Nahrung?“ Darauf geht er ausführlich ein. Er erklärt seinem Enkel, dass alle Lebewesen verschiedene Bedürfnisse haben. „Das spürst du, wenn du Hunger hast“, gibt er ihm ein Beispiel. „Ganz wichtig ist Nahrung für Jungs wie dich, damit sie wachsen und gross und stark werden.“
„Stark bin ich doch schon und wachsen werde ich sicher noch“, meint Georg etwas beleidigt. „Schau mal Opa!“ Mit aller Kraft hebt er einen Stein auf und lässt ihn gleich wieder zu Boden plumpsen. Wilhelm legt den Arm um die Schultern seines Enkels und bekennt: „Wow, jetzt hast du mich überzeugt, du bist ja stark wie ein
Bär!"
Dann schaut er ihm lächelnd in die Augen und erklärt: „Noch viel wesentlicher als gross und stark zu sein, ist der Einklang mit dir selbst und dem Universum. Dafür brauchst du Seelennahrung.
Ich verrate dir ein Geheimnis: Wenn du irgendwann in deinem Leben nach solcher Nahrung suchst, ist Mozart ein wunderbarer Freund!“
Der Junge versteht gar nichts und durchlöchert seinen Grossvater mit weiteren Fragen.
Aber die einzige Antwort darauf ist: „Mein lieber Kerl, es kommt der Tag, an dem du es begreifen wirst.“
Georg macht das Licht an. Die grünen Ziffern des Digitalweckers zeigen 0:27 Uhr an.
„Wenn Mozart wirklich so ein guter Freund ist, kann er auch meinen Hunger stillen.“ Mit diesen Gedanken nimmt Georg sein Smartphone, tippt auf die YouTube App und sucht nach Mozart. Die Auswahlliste ist gross, er scrollt bis ans Ende und drückt auf weiter. Das macht er einige Male, bis er einfach auf einen Titel klickt. Schon die ersten Töne bewegen ihn tief und berühren sein Herz.
„Agnus Dei…“
Ein 10-jähriger Ministrant steht neben
dem Priester am Ambo und hält stolz den goldenen Kerzenleuchter. Der Kaplan schlägt das grosse Buch auf und liest aus dem Matthäus-Evangelium. Georg blickt verträumt in die Flamme und hört nur mit einem Ohr zu.
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Dieser Satz lässt den Knaben aufhorchen. Er sieht einen Esel vor seinen Augen, dem man eine schwere Last aufbürdet. Damit ist er nicht einverstanden: „Menschen sind doch keine Esel, die beladen werden! Und was soll denn schon mühselig sein?“ denkt er sich. „Erquicken“ findet er so lustig,
dass er beinahe laut auflacht. Noch nie hat er dieses Wort gehört. „Tönt wie piksen. Ich lass mich doch nicht kneifen“, schwirren seine Gedanken durch die Kirche…
Nach der Abendmesse schreitet er zusammen mit dem Kaplan nach Hause – Georg wohnt in der Nähe des alten Pfarrhauses. Hochwürden freut sich aufs Abendessen. „Wollen wir mal schauen, was die Köchin zubereitet hat“, schnaubt der kleine, rundliche Mann. Seine Lieblingsspeise ist Spaghetti, das weiss Georg ganz genau. „Ist das die Seelennahrung, von der Opa gesprochen hat?“ schiesst es ihm durch den Kopf. Selbstverständlich getraut er diese Frage
dem Kaplan nicht zu stellen…
Georg richtet sich auf, lehnt sich an die Bettrückwand und schmunzelt übers ganze Gesicht.
„Agnus Dei und kommt her zu mir passen so wunderbar zusammen.“
Gerne nimmt er die Einladung an und lüftet im Gedenken an seinen wundervollen Grossvater und den liebenswürdigen Herrn Kaplan das Geheimnis der Seelennahrung. Noch einmal drückt er die Wiederholungstaste und lauscht den himmlischen
Klängen.
Nun weiss er, was mühselig heisst und wer der beladene Esel ist – aber auch wo dieser Nahrung findet und sich „erquicken“ lassen kann.
Dona Nobis Pacem.
(Gib uns Deinen Frieden)