schamanentanz
Irgendwo auf der Welt gibt es noch Flecken, an denen die Natur in Harmonie und Gleichgewicht ist. Trotz unserer unermesslichen Sucht, alles nach unseren Wünschen zu verändern und zu beeinflussen oder Raubbau zu treiben an ihrer Schönheit und Fülle. Auch dort leben Menschen, vielleicht glücklicher ohne die von uns angestrebte Zivilisation. Denn sie leben im Einklang mit der Natur. Ihre Welt wird noch bestimmt und regiert vom Willen und der Willkür der Naturgeister, Dämonen und Götter ihres Reiches. Und doch sind sie uns überlegen, weil sie die Fähigkeit besitzen, mit jenen Wesen direkt in Verbindung zu treten,
an deren Existenz wir nicht einmal mehr zu glauben wagen.
In einem solchen Landstrich treffen wir ihn, den Medizinmann oder Schamanen, wie wir ihn nennen. Die Menschen, unter denen er lebt, nennen ihn Ntokotikatu, das ist in unserer Sprache Der-mit-den- Geistern-spricht. Seit vielen Jahren geht das nun schon so: in einer gewissen Zeit, wenn die Sonne am höchsten steht, regnet es während vieler Monde nicht. Dann aber kommt Wasser in riesigen Mengen vom Himmel, lange Zeit ist alles überschwemmt, Ungeziefer frisst noch das Wenige, das gewachsen ist. Die Lebensgrundlage der Bewohner ist in Gefahr. Wenn es dieses Jahr noch einmal so schlimm kommen sollte, wird
es außerordentlich gefährlich für den ganzen Stamm.
Und wieder hat es lange Zeit kein Himmelswasser gegeben. So schicken die Bewohner der Gegend eine Abordnung zu Ntokotikatu. Ihr Ältester wirft sich vor dem mächtigen Zauberer in den Staub. Als dieser ihn nach einem ausgedehnten Begrüßungsritual auffordert, zu sprechen, sagt der Alte: „Hochverehrter Ntokotikatu, wie du selbst gesehen hast, warten wir schon wieder über lange Zeit auf das Himmelswasser. Längst haben wir der Wolkengöttin unsere Aufwartung gemacht und ihr die üblichen Opfer gebracht, aber unser Flehen hat sie nicht erhört. Deshalb stehen wir jetzt vor dir und bitten dich, sprich
mit ihr, ruf die Geister des Windes, dass sie der Wolkengöttin helfen, ihre Kinder zu schicken. Sonst werden viele von uns eines qualvollen Hungertodes sterben.“
Nach einer längeren Zeit des Schweigens erwidert Der-mit-den- Geistern-spricht: „Wie ihr wisst, habe ich in den vergangenen Sonnenläufen schon einige Male mit den Geistern gesprochen. Sie haben mir und uns immer wieder geholfen. Doch ihr wisst auch, dass es immer schwieriger wird. Ich weiß nicht warum. Trotzdem werde ich versuchen, mein Möglichstes zu tun. Ich bitte euch, bereitet alles vor.“ Mit diesen Worten sind die Männer entlassen.
Sie kehren zurück, sprechen mit den Dorfbewohnern, und dann treffen sich die
Dorfoberen an jenem Platz, den sie seit Menschengedenken benutzen und als heiligen Platz bezeichnen. Er liegt auf einem Hügel etwas abseits. Von dort oben kann man weit in die Landschaft blicken und in alle vier Himmelsrichtungen. Überall nur blauer Himmel und nicht ein Hauch eines Wölkchens. Sie reinigen den Platz sorgfältig, entfernen jedes Blättchen, jedes Ästchen und Pflänzchen. Der Platz muss nach ihrer Überzeugung absolut rein sein, damit sich Ntokotikatu ungestört mit den Geistern treffen kann. Um den Platz herum legen sie noch Steine, die böse Geister davon abhalten sollen, hier einzudringen und alles zunichte zu machen. Zufrieden betrachten sie ihr Werk und lassen den Medizinmann durch
einen Boten wissen: „Der heilige Platz ist vorbereitet. Du musst nur noch den richtigen Zeitpunkt finden.“ Aber das hat der Medizinmann schon getan.
Auch er hat sich vorbereitet. Dafür sammelte er an einigen sehr verschwiegenen Plätzen ganz bestimmte Pflanzen. Einige tragen Früchte, die Wolken ähneln, andere mit vielen Knospen wie Regentropfen geformt, dazu einige seltsame Pilze. Die einen sehen aus wie schwarze Trompeten mit zarten, äußeren Rippen, andere mit einem dicken, rotgeäderten Fuß und einer winzigen, grellroten Kappe und dann noch eine bestimmte Anzahl, deren winzig kleine Hütchen auf der Unterseite ebenso winzige Lamellen tragen und auf fadendünnen,
langen Füßchen stehen. Alle sind eigentlich jeder für sich schon hoch giftig. Doch der Medizinmann kennt das Geheimnis, wie er damit für sich einen Trunk bereiten kann, der ihm nur Zugang ins Reich der Geister verschafft. Die wenigen Schlucke des Getränkes hat er in einen Kalebassenkürbis gefüllt, die Kräuter getrocknet und in mehrere kleine Büschel gebunden. Dazu werden ihm die Menschen noch ein paar auf der Jagd erlegte Vögel bringen. Davon sind die Federn das Wichtigste. Ja, und die Einreibungen dürfen auch nicht fehlen. Um die Einreibungen ist es ein besonderes Geheimnis. Sie bestehen aus einem Teil der roten Erde am inzwischen so gut wie trocken gefallenen Fluss, aus einem Teil Morgentau,
den der Medizinmann in mühsamer Arbeit in den letzten Tagen von besonderen Pflanzen gesammelt hat und aus der Asche einiger ganz bestimmter und sorgfältig ausgewählter Vogelfedern, die ihm die Männer von der Jagd mitgebracht haben. Endlich ist es soweit.
Ntokotikatu hat sich nach drei Fastentagen auf den Weg zu dem geheimen Platz der Zeremonie begeben. Nur die Dorfältesten haben ihn begleiten dürfen. Sie tragen die schweren Zeremonialgewänder, die Musikinstrumente und all die anderen Sachen, die das Gelingen der Zeremonie unterstützen. Alles wird vor dem Zeremonialplatz abgelegt. Dann müssen die Ältesten an den Fuß des Hügels zurück kehren. Nach Kräften werden sie versuchen,
ihren Medizinmann durch Anrufung der Geister, durch Beschwörungen, Räucherwerk und entsprechende Gesänge zu unterstützen. Mit Sonnenuntergang hat auch der Medizinmann seine Vorbereitungen endgültig abgeschlossen. Er entzündet das Holz des riesigen Scheiterhaufens, das die Ältesten außerhalb des Steinringes aufgeschichtet haben. Seine Gliedmaßen sind den Himmelsrichtungen entsprechend mit den Zutaten der Einreibung bestrichen, seine Brust hat er mit besonderen Geheimzeichen bemalt, der Zeremonialmantel schmückt seinen unheimlich wirkenden Leib und auf seinem Haupt sitzt die schwere Federkrone, die er von seinen Vorfahren übernommen hat. Mit
einem Trommelwirbel gibt er für die Dorfältesten am Fuße des Hügels das Zeichen, dass er mit der Zeremonie beginnt. Jetzt nimmt der Medizinmann von dem Zaubertrunk in der Kalebasse drei Schlucke. Zum dumpfen Dröhnen der Trommel beginnt er seinen Tanz. Langsam stampft er mit den nackten Füßen die ebenfalls nackte Erde, Schritt für Schritt nähert er sich der Mitte des Kreises. Ein heftiger Trommelwirbel lässt auch seine Füße zu wirbeln beginnen, dann kehrt er an den Rand des Kreises zurück. Aus allen vier Himmelsrichtungen das gleiche Spiel. Endlich verharrt er in der Mitte, nimmt die Kräuterbüschel und malt damit seltsame, geheime Beschwörungszeichen in die Nacht. Wieder ein Trommelwirbel, dem auch seine
Füße im Tanz folgen. Dann fällt ihm die Trommel aus der Hand und sein Körper beginnt, sich scheinbar nach einem geheimen Plan selbständig zu bewegen. In immer neuen irren Bewegungen zuckt und rüttelt sein Leib, während seine Hände erneut die riesige Trommel bearbeiten. Seine Füße stampfen wieder in wildem Rhythmus die Erde. Dann Stille. Er sinkt zu Boden. Schaum beginnt aus seinem Mund zu quellen, ein furchtbares Stöhnen ist zu hören. Seine Seele ist eingetaucht in das Reich der Geister.
Als am Fuß des Hügels die Trommel nicht mehr zu hören ist, hat sich einer der Ältesten auf den Weg nach oben gemacht. Er hütet jetzt den Leib des großen Ntokotikatu, damit
keine bösen Geister Gewalt über ihn bekommen. Wilde Zuckungen lassen den Leib des Ohnmächtigen erbeben, seine Gliedmaßen scheinen in den Verrenkungen zu zerbrechen und er wirkt dem Tod näher als dem Leben. Der Alte weiß um das Geheimnis dieses Zustandes. Jetzt hat die Seele des Medizinmannes die Grenze zum Reich der Geister überschritten. Ob es ihm gelingen wird, sie wieder davon zu überzeugen, dass sie dringend des Himmelswassers bedürfen, um überleben zu können? Bange Fragen, auf die er bis zum Morgen keine Antwort bekommen wird. So wendet er sich dem Feuer zu, nährt es mit neuem Brennmaterial und beobachtet den sich quälenden und ringenden Leib des
Ntokotikatu. Endlich liegt dieser still und irgendwo dort, wo Himmel und Erde sich zu berühren scheinen, zeigt sich ganz zaghaft ein heller Streif. Oft hat der Alte in der letzten Zeit heimlich dieses Spiel beobachtet und auf den ersten Hauch zarter Wolkenschleier gewartet. Immer war es vergebens. Noch eine Weile starrt er in Richtung des Sonnenaufgangs. Heute sieht diese Grenzlinie anders aus, ein wenig gezackt, unruhig. Als die ersten Sonnenstrahlen den Himmel matt zu erleuchten beginnen, kann er das Gebirge erkennen, das sich nun in dieser Richtung immer höher aufzutürmen scheint. Aber es sind keine Berge, es sind wirklich die Kinder der Wolkengottheit.
Während der Alte den Medizinmann bewacht,
haben die anderen am Fuße des Hügels mit Trommeln, Klangstäben, Baumflöten und anderen Instrumenten und wilden Tänzen die Geister zu bewegen versucht, damit sie Ntokotikatu besuchen werden und ihm gewogen bleiben. Mit vielerlei Räucherwerk wird alles noch einmal unterstützt. Ohne müde zu werden ringen sie mit ihrem Medizinmann um die Gunst der Geister, bis der Alte mit ihm zurückkehren wird.
Da zerreißt ein Schrei die morgendliche Stille. Der Medizinmann ist erwacht. Von Erschöpfung schwer gezeichnet, kommt er mühsam wieder auf die Füße, taumelt noch einige Zeit in dem heiligen Kreis herum und beginnt noch einmal einen wilden Tanz zum Rhythmus der Trommel, die er selber schlägt.
Doch diesmal ist es ein Freudentanz. Wieder konnte er die Geister des Windes, des Feuers, der Erde und des Wassers überzeugen, die Menschen in diesem kleinen Gebiet nicht im Stich zu lassen sondern ihnen das zum Leben zu geben, was sie so dringend brauchen. Eine traurige Botschaft hat er auch noch zu überbringen und weiß überhaupt nicht wie.
Als Der-mit-den-Geistern-redet seinen wirbelnden Tanz beendet hat, legt er unter den Augen seines Bewachers seinen Kopfschmuck und den Mantel ab. Der Himmel hat sich inzwischen verdunkelt, plötzlich zuckt ein Blitz aus den Wolkenbergen, ein Donnerschlag lässt die Erde erbeben und dann fallen die ersten großen Tropfen, lang
ersehnt, heiß erfleht. So rasch es eben geht, kehrt die kleine Gruppe zu ihren Hütten zurück.
Als sie dort ankommen, werden sie von lautem Freudengeheul empfangen, weil es zu regnen beginnt. Alle genießen es noch, ordentlich nass zu werden. Dann kehren sie in der alten Gemeinschaftshütte ein. Der große Ntokotikatu will ihnen seine Botschaft überbringen. Der Älteste, der ihn während der Zeremonie bewacht hat, entfacht ein kleines Feuer, wirft Räucherwerk hinein, alle sitzen im Kreis und endlich beginnt der Medizinmann zu reden: „Zuerst will ich die Botschaft der Geister überbringen. Sie haben mir gezeigt, dass die Welt viel größer ist als unser Gebiet hier und dass überall
Wesen leben, die uns irgendwie ähneln. Sie rauben der Erde ihre Kinder, die Bäume, sie bewegen sich mit seltsamen heißen Sitzen und sie haben den schönen, weichen Boden mit Steinen bedeckt. Ihr Himmel ist nicht mehr blau sondern gelb oder grau und es riecht furchtbar. Sie leben in Hütten, die bis in den Himmel reichen. Und sie kennen die Wunder des Lebens nicht mehr. Und das Schlimmste: sie haben vergessen, dass auch ihr Leben in das alles eingebettet ist. Sie zerstören die Welt in ihrem Wahnzustand nicht nur für sich sondern für alles Leben. Sie reisen mit großen Vögeln durch die Luft und stören den Weg der Wind- und Wolkengeister und sie vergiften die kleinen und großen Wasser, aus denen die Wolkengeister ihre Kinder
gebären. Sie verletzen die Erde durch unermessliche Wunden und entstellen grausam ihr schönes Antlitz. In ihrem Wahn töten sie sinnlos die Schönheit des Lebens. Deshalb wollen und können die Geister den Menschen kaum noch wirklich dienen. In ihrer Überheblichkeit glauben jene menschlichen Wesen ohne sie auskommen zu können. Deshalb flehen uns die Geister an, dass wir unsere Heimat verlassen und ein Stück weiter ziehen. Wohin, das werden sie uns in einem geeigneten Augenblick zeigen. Doch für dieses Mal wollen wir den Geistern für ihre Hilfe danken und ihnen die Tiere opfern, die ihr auf der Jagd erbeutet habt. Lasst uns jetzt nach unserem Brauch das große
Regenfest feiern.“
Zustimmendes Geheul erfüllt die Versammlungshütte und dann beginnen die Vorbereitungen für ein großes Schmausen. Danach wird getanzt und die Trommeln und anderen Instrumente sind noch lange in der warmen Nacht zu hören, untermischt vom Rauschen des üppig fallenden Regens.