»Seit fünfundsechzig Jahren kommen wir schon hierher«, seufzte er und ließ den Blick über die idyllische Landschaft schweifen.
»Und das jeden Sonntag«, kicherte sie beinahe und nahm seine Hand.
»Mit einer Ausnahme«, fügte er hinzu und strich mit seinem Daumen sanfte Kreise auf ihrem Handrücken.
»Mit zwei Ausnahmen«, korrigierte sie.
Fragend zog er die Brauen zusammen und dachte an die vergangenen Jahrzehnte zurück. »Bei Karls Geburt haben wir es nicht geschafft. Aber wann denn noch nicht?«
Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu: »Bei der Geburt unseres ersten Enkelkindes 1995 war Hochwasser, weißt du
noch?«
»Stimmt, 1995«, gab er zu und dachte an das Rheinhochwasser, das so unerwartet gekommen war.
»Aber das macht doch nichts, Schatz, wir sind ja schließlich auch nicht mehr die jüngsten, nicht?«
»Ich bereue keinen der ganzen Sonntage, die wir hier verbracht haben«, senierte er und zog seine Frau näher an sich heran. Ihre zierliche Gestalt war ihm in den letzten Jahren noch kleiner vorgekommen, als sonst und manchmal hatte er sie damit aufgezogen, dass sie schrumpfen würde. Lachend hatte sie dann geantwortet, dass seine Ohren Dumbo schon Konkurrenz machen
würden.
»Es ist kalt geworden, oder meine ich das nur?«, fragte sie und lehnte den Kopf an seine Schulter.
Die Bäume um sie herum hatten bereits ihr dichtes Kleid abgeschüttelt und präsentierten nun eine kahle Herbstlandschaft, die schon den Winter ankündigte.
Er atmete laut aus. »Es ist ja schließlich schon November, Frau.«
»Unser geliebter Herbst«, meinte sie und bestaunte das Farbenspiel der Sonne, das sich auf der glänzenden Wasseroberfläche
spiegelte.
»Der Herbst des Lebens, nicht?«, sofort nachdem er es gesagt hatte, fragte er sich, wie sie es wohl verstanden hatte.
»Wir haben schließlich alle Jahreszeiten durch, oder? Ich meine, wir alten Leutchen sind längst im Winter unseres Lebens angelangt.«
»Keine Sorge, uns kriegt man nicht so schnell unter. Wir sind noch gesunde deutsche Greise, wir wissen noch worauf es ankommt.«
»Meinst du damit jeden Sonntag einen Ausflug machen und sich nicht einzugestehen, dass wir alt sind?«, lachte sie und legte einen Arm um seine Hüfte.
Eine Ewigkeit saßen die beiden schweigend
da, bis er antwortete: »Natürlich nicht -nur-. Wir können noch ohne Fernsehen und Internet und den ganzen Driss auskommen. Ich meine, schau dir doch mal unsere Enkelkinder an. Nicht eine Minute können sie mehr ohne ihr Handy auskommen. Früher war das alles noch anders.«
»Unsere Jugend war aber auch nicht viel besser, vergiss das nicht. Wir hatten den Krieg.«
»Aber das ist doch was ganz anderes.«
»Natürlich, aber jede Zeit bringt etwas anderes mit sich. Wir haben unseren Kindern und Enkeln versucht die Werte zu vermitteln, die uns wichtig waren.«
»Früher waren die sechs Knirpse immer ganz aus dem Häuschen, wenn wir sonntags
herkamen und picknickten, angelten oder baden gingen. Heute maulen sie nur noch, dass sie schlechten Handyempfang haben«, niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. »Sie werden uns nie verstehen können, oder?«
Sie betrachtete ihren Mann liebevoll. Schon seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie ihr Herz an ihn verloren, sich in sein Familienbewusstsein und seine Genügsamkeit verliebt. Die beiden hatten zwar ein einfaches, aber ein erfülltes Leben hinter sich. Nach dem Krieg hatten sie 1959 in Düsseldorf geheiratet und waren 1960 nach der Geburt ihres ersten Sohnes Karl in das geerbte Haus in Essen gezogen. Dort hatten sie ihre vier Kinder
großgezogen.
»Ich weiß es nicht, aber eins weiß ich: Als Kinder haben sie es hier geliebt«, davon war sie felsenfest überzeugt.
»Aber-«
»Nichts aber, mehr können wir nicht erwarten, Schatz. Wir sind nur die Großeltern, die Aufgabe haben wir unseren Kindern überlassen und das müssen wir auch. Die werden ihre Kinder schon ordentlich erziehen, damit sie uns irgendwann verstehen.«
»Hoffentlich.«
»Was meinst du denn damit?«, fragte sie und ahnte schon, worauf ihr Mann
herauswollte.
»Naja bei Renate können wir uns ja nicht sicher sein, oder?« Renate war ein Blumenkind gewesen und im Laufe ihres Lebens auch geblieben.
»Nur weil sie eine Ökotante ist, ist sie nicht automatisch eine schlechte Mutter«¸ lachte sie und schaute in die warmen braunen Augen ihres Mannes.
»Sie schickt ihre Kinder in eine Sommerhill-Schule!«
»Ja und, die Kinder sind doch nicht verzogen, Schatz. Ich hab dir doch gesagt, dass wir uns da heraus halten müssen.« Sie schüttelte den Kopf. Natürlich war sie auch nicht damit einverstanden, dass zwei ihrer Enkelkinder in einem englischen Internat lebten. Aber wer
weiß, vielleicht war das das Leben, dass sich ihre Enkelkinder wünschten. Vorteile hatte es allemal, aber auch die Nachteile des Fernwehs nach ihren geliebten Sprösslingen.
»Maria?«
»Mmh?«, machte sie.
»Wir haben doch unser Bestes gegeben, oder?«
»Ja«¸ sagte sie, ohne groß darüber nachzudenken.
»Warum, zweifelst du an meiner Fähigkeit als Mutter oder an deiner Vaterrolle?«
»An beidem«, meinte er und warf ihr einen flüchtigen Blick zu.
»Aber warum denn? Alle unsere Kinder sind glücklich, stehen auf eigenen Beinen und leben ihr
Leben.«
»Und was, wenn wir mal nicht mehr sind?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen, Schatz«, grinste sie.
Er verdrehte die Augen und atmete laut hörbar aus. »Was denkst du denn?«
»Naja, vielleicht gibt es nicht mehr so viele Familientreffen. Und an Weihnachten und Ostern bleibt unser Haus leer«, meinte sie und stellte sich das kleine Haus verlassen vor. Als sie bemerkte, wie sehr ihre Aussage ihren Mann mitnahm fügte sie noch schnell hinzu: »So ist das aber, Schatz. Sie haben jetzt alle ihre eigenen Familien, mit denen sie diese Traditionen am Leben erhalten
können.«
»Können?«
»Werden, Schatz. Sie werden die Traditionen fortführen. Und wir werden immer bei ihnen sein. Wenn auch nicht physisch.«
»Du hättest Priesterin werden sollen«, meinte er und drückte ihren schmächtigen Körper an seine alten Knochen.
»Ich weiß. Und du hättest kein Kumpel werden sollen. Dir hätten alle Türen als Architekt offen gestanden, so wie du dich immer für Gebäude interessiert hast.«
»Manchmal trifft man eben die falschen Entscheidungen im Leben. Wichtig ist nur, dass man sie am Ende nicht bereut.«
»Und bereust du sie?«, fragte sie und spürte
eine frische Brise auf ihrem Gesicht und fragte sich, ob sich der Wind je so lebendig angefühlt hatte.
»Keine einzige, meine Liebe. Keine einzige.«
So saßen sie dort an ihrem See, an dem sie sich als neunjährige Knirpse beim Spielen kennengelernt hatten und sich schon damals geschworen hatten, eines Tages zu heiraten.
»Glaubst du, es wäre besser gewesen, wenn wir in Essen wohnen geblieben wären?«, fragte sie nach Kurzem.
»Nein, unser Herz hing immer hier.«
»Uns unsere Wurzeln.«
»Achim ist uns doch so dankbar gewesen, dass wir ihm das Haus in Essen vermacht
haben.«
»Mmh, stimmt. Aber jetzt leben wir alle so verstreut. Karl in Köln, Achim in Essen, Renate in Bern und Frank hier bei uns in Düsseldorf.«
In den 90er Jahren waren die Eheleute Scherz mit ihrem jüngsten Sohn zurück nach Düsseldorf gezogen und hatten sich einen alten Hof außerhalb gekauft, von dem es nur zehn Minuten, zu Fuß, zu ihrem geliebten See waren. »Jetzt hat die ganze Autofahrerei am Sonntag auch endlich ein Ende«, hatte Herr Scherz damals gesagt.
»Wenigstens haben wir Franks Kinder immer um uns, nicht? «, meinte Frau Scherz und
dachte an die beiden Brüder Sebastian und Moritz.
»Die zwei Lausbuben leben immer noch nach dem Motto: Wenn Mama und Papa nein sagen, fragen wir Oma und Opa. «
Frau Scherz lachte ihr hellstes und herzlichstes Lachen und kicherte: »Und wir geben ihnen auch noch alles, nicht? «
»Aber es sind trotzdem gute Kinder. «
»Ja, das sind sie.«
Schweigend genossen sie den frischen Wind, der den See zum Leben erweckte und den Winter ankündigte, der eindeutig in den Startlöchern stand.
»Oma, Opa, da seid ihr ja! Ich hab euch schon überall gesucht«, rief eine jugendliche Stimme und nach kurzer Zeit erschien ein gut
gewachsener Junge mit aschblondem Haar, der Herr Scherz unheimlich ähnlich sah.
»Was gibt es, mein Junge?«, wollte Herr Scherz wissen und verrenkte sich den Kopf, um seinem Enkel ins Gesicht zu sehen, doch der war schneller und ließ sich direkt neben ihnen auf der Bank nieder.
»Ich wollte mich verabschieden.«
»Verabschieden?«¸fragte der Großvater.
Die alte Dame stieß ihm mit wenig Elan den Ellbogen in die Seite. »Hör bloß auf zu stänkern, Johann.«
Moritz versuchte verzweifelt sein Grinsen zu
verbergen. Er liebte es die beiden zusammen zu sehen, denn sie schienen ihm immer noch genauso verliebt zu sein, wie am ersten Tag. Sein vergesslicher Großvater wurde immer von seiner Frau zurechtgewiesen, die ihm unterstellte, seine Kinder und Enkel nach jedem Besuch bei ihnen am liebsten einzusperren und hierzubehalten, damit er immer auf die aufpassen konnte.
»Du verabschiedest dich schon heute, Schätzchen?«, fragte die Großmutter den grinsenden Moritz, der sofort wieder ernst wurde.
Nickend meinte er: »Wir fahren ja schon heute Nacht um drei Uhr los.«
»Immer diese Frühaufsteher. Ich sag euch
dieses pünktliche Deutschland wird sich noch wundern, das ist nämlich viel zu gefährlich nachts mit dem Auto zu fahren.«
»Aber Opa wir fahren doch mit dem Bus«, scherzte Moritz und fing sich direkt wütende Blicke ein.
»Ich kann deinen Opa zur Abwechslung mal verstehen, aber ihr fahrt sicher mit zwei Busfahrern, oder? Ihr müsst ja knappe zehn Stunden fahren.«
»Ja wir haben zwei Busfahrer«, stimmte Moritz zu, ohne sich überhaupt sicher zu sein. »Ich schreib euch dann sofort eine Postkarte, wie immer.«
»Und ruf gleich an, wenn ihr angekommen seid, ja.«
Moritz verdrehte die Augen. »Oma ich bin
doch kein kleines Kind mehr. Ich bin schließlich schon fünfzehn. Da ruf ich doch nicht direkt zuhause an!«
»Oho, hörst du das, Maria? Wir sind ihm peinlich!« Gespielt gekränkt wandte Herr Scherz seinen Blick ab.
»Sieh dir diesen Schmollbär an«, seufzte Frau Scherz ihrem Enkel zu. »Ich habe einen Teenager geheiratet.« Liebevoll knuffte sie ihrem lachenden Enkel die Wange. »Mach es gut, mein Lieber und sei vorsichtig.«
»Wir fahren doch nur eine Woche Ski mit der Schule, Oma, da passiert schon nichts.«
»Pass mir ja auf, dass du dir nicht dein hübsches Gesicht zerstört, wenn du gegen einen Baum knallst«, meinte der Großvater und zog seinen Enkel mit einer ungewohnten
Kraft an sich und hielt ihn lange im Arm.
»Ihr Jungen seit schließlich alles, was wir noch haben.«
Moritz ließ sich fast von seinem Opa zerquetschen, hielt aber Stand. Schließlich löste er sich von ihm und drückte seiner Großmutter noch einen dicken Kuss auf die Wange.
»Passt mir auf den See auf, dass er ja nicht wegläuft.«
»Dieser Junge!«, beschwerte sich Herr Scherz bei seiner Frau, die ihrem Enkel mit einem lachenden und einem weinenden Auge nachsah.
»Wie schnell er erwachsen geworden ist.«
»Er ist doch erst fünfzehn«, meinte Herr Scherz und wandte sich wieder dem See
zu.
»Er sieht dir so ähnlich.«
»Also hat er faltige Haut, übernatürlich große Ohren und eine schiefe Hüfte?«
Sie betrachtete ihn liebevoll.
»Du warst auch mal jung, mein Lieber, vergiss das nicht.«
»Es kommt mir vor, wie eine Ewigkeit.«
»Es ist eine Ewigkeit her«, bestätigte sie ihm und streichelte dabei seine Hand.