Falsche Entscheidung
Der Mond hing in den Wipfeln der hohen Kiefern und tauchte die drei am Waldrand stehenden Bungalows in ein gespenstisches Licht. Vollmond. Jetzt im August stand er der Erde am nächsten und leuchtete mit einer Helligkeit, dass es keiner Straßenlaterne bedurfte um den richtigen Weg zu finden. Die gab es sowieso nicht in dieser einsamen Gegend. Was den damaligen Bürgermeister vor dreißig Jahren bewogen hatte, zwei Kilometer außerhalb des Ortes drei Grundstücke zu parzellieren und diese zum Kauf anzubieten, wusste heute kein Mensch mehr. Hanna und Gunnar zählten damals zu
den glücklichen Erwerbern. Wie Gunnar von dieser Aktion erfahren hatte, wusste sie bis heute nicht. Er kannte eben einige Leute. Mit den Jahren verwandelte sich die unwirtliche Brachfläche in einen schönen Garten. Der Bungalow, der inzwischen eine Grundsanierung gebrauchen könnte, bot ihnen an den Wochenenden einen Zufluchtsort, der ihnen ermöglichte, dem hektischen Großstadtleben zu entfliehen. Seitdem beide Rentner waren, verbrachten sie den Sommer in dieser friedlichen Oase. Die beiden Nachbargrundstücke wurden ebenfalls von Rentnern bewirtschaftet, die jedoch nur noch selten anwesend waren. Wanderer oder Pilzsucher verirrten sich selten in diese abgeschiedene Gegend.
Jetzt lag Hanna im Bett und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Daran waren weder die Lockenwickler, die wie Antennen eines Marsmännchens von ihrem Kopf abstanden, noch der Mond, der durch das weit geöffnete Fenster schien, schuld. Gunnar war von seinem Angelausflug noch nicht zurückgekehrt.
Ein Blick auf das Leuchtziffernblatt des Weckers auf dem Nachttisch versetzte sie in zunehmende Unruhe. Viertel vor eins. Sie warf die leichte Decke zurück und ging in die Küche.
Den Lichtschalter brauchte sie nicht betätigen. Das helle Mondlicht ließ jeden Gegenstand im Bungalow mit aller
Deutlichkeit erkennen. Aus dem Hängeschrank nahm sie ein Glas und goss sich den Rest des selbst gemachten Apfelsafts, der noch in der Flasche war, ein. Angewidert stellte sie das Glas nach dem ersten Schluck auf den Küchentisch. Er war warm und viel zu süß. Sie hatte vergessen die Flasche in den Kühlschrank zu stellen. Hanna blickte durch das ebenfalls offene Küchenfenster und fuhr in Gedanken versunken mit der Hand über das Insektenschutzgitter. Wo blieb er nur? Nervös fingerte sie an ihren Lockenwicklern, die schaumgummigepolstert und biegsam sich in alle Richtungen bewegen ließen. Wenn Gunnar sonst zum nahe gelegenen See zum Nachtangeln ging, war er spätestens eine
Viertelstunde nach Mitternacht zuhause.
„Nach zwölf Uhr beißen die Fische nicht mehr“, war seine unumstößliche Meinung.
Sie musste schon wieder auf die Toilette. Es war wohl die Nervosität. Während sie am Waschbecken einige Zeit kaltes Wasser über ihre Hände laufen ließ, blickte sie in den darüber hängenden Spiegel. In der kleinen Toilette war es nicht so hell wie in den anderen Räumen des Bungalows. Trotzdem konnte sie die Umrisse ihres Kopfes mit den abstehenden Lockenwicklern erkennen. Prickelnd, dachte sie. Es war nur ein kurzer Anflug von Heiterkeit. Die Unruhe nahm wieder von ihr Besitz. Sie versuchte die Uhrzeit von ihrer Armbanduhr abzulesen. Aber dazu reichte das Mondlicht nicht aus.
Sie betätigte kurz den Lichtschalter. Ein Uhr. Was sollte sie tun? Vielleicht war ihm schlecht geworden. Gunnar hatte sich in den letzten Tagen nicht so gut gefühlt. Beide hatten es auf die unerträgliche Hitze, die schon über eine Woche anhielt geschoben. Er fühlte sich schlapp und fuhr, wenn er sich unbeobachtet fühlte, hin und wieder mit der Hand über seine Brust. Dann stellte er sich unter die Gartendusche um sich wenigstens für eine kurze Zeit frischer zu fühlen. Mensch und Natur sehnten sich nach erlösendem Regen.
Hannas Unruhe hatte jetzt ein Stadium erreicht, das sie nicht mehr davon abhalten konnte, zum See zu gehen. Sie nahm die Taschenlampe, die immer griffbereit auf dem Bord des Schlüsselbrettes stand.
Wahrscheinlich würde sie diese nicht brauchen. Der Mond schien hell genug.
Sie betrat den Garten und stellte ohne Verwunderung fest, dass es draußen genau so warm war wie im Bungalow. Jeder Strauch, jeder Baum zeichnete sich im Mondlicht deutlich ab.
Bis zum See würde sie nicht mehr als sieben oder acht Minuten brauchen. Sie machte sich nicht die Mühe ihr ehemals rosafarbenes inzwischen zu einem schmutzigen weiß ausgeblichenes Nachthemd gegen eine kurze Hose und ein T-Shirt einzutauschen. Hier begegnete ihr niemand. Hasen, Rehe und ab und an Waschbären schreckten sie nicht. Sie schlüpfte in ihre schon recht ausgetretenen Gartensandalen. Dabei fiel ihr
Blick auf den Eimer, der auf der Terrasse stand. In ihm lag die Gartenkralle, die sie als Hilfe beim Unkraut jäten immer benötigte. Eine Waffe mitzunehmen, schien ihr doch sehr ratsam. Man konnte nie wissen. Wildschweine gab es hier auch. Gleichzeitig erkannte sie das Absurde dieser Idee. Wollte sie dem Borstentier den Rücken damit kratzen? Trotzdem griff sie nach der Kralle und betrachtete abwägend die drei Metallzinken. Der Ruf eines Waldkauzes war das einzige, was die Stille der Nacht unterbrach. Hanna öffnete das Gartentor und zögerte einen Moment bevor sie die schmale unbefestigte Straße überquerte. Dann betrat sie den Trampelpfad, der durch lichten Kiefernwald und über eine Wiese zum See
führte. Der Mond spendete ausreichend Licht. Sie kam zügig voran. Unter ihren Füßen knackte es immer wieder vernehmlich. Die Trockenheit der letzten zwei Wochen bewirkte, dass abgebrochenes Geäst, wenn sie darauf trat, mit einem lauten Knall zerbarst. Das gefiel ihr nicht. Warum wusste sie auch nicht. Also ging sie langsamer und setzte ihre Füße mit Vorsicht auf. Ein herunterhängender Ast verfing sich in ihren Lockenwicklern. Einige standen jetzt wie Tentakel von ihrem Kopf ab. Unwichtig. Gleich war sie an der Wiese, auf der in unregelmäßigen Abständen große Jasminsträucher wuchsen. Die abgestorbenen Buchen, die am See standen, sah sie auch schon. Die kahlen Äste und
Zweige ragten in den Himmel. Ein Geräusch ließ sie ruckartig stehenbleiben. Was war das? Ein Schlurfen, darauf folgte ein kurzer pappender Ton. Noch entfernt, doch unverkennbar näherkommend. Was sollte sie tun? Zurückrennen? So schnell war sie auch nicht mehr. Außerdem würde sie dabei Krach machen. Der erste Jasminstrauch, auf der schon zu sehenden Wiese, war nah genug.
Dort konnte sie sich verstecken. Zudem würden auf der Wiese ihre Schritte nicht zu hören sein. Und schon hatte sie den Strauch erreicht. Sie kauerte sich dahinter und lauschte auf das näherkommende Schlurfen. Ihr Herz raste. Die Kralle umklammerte sie so fest, dass die Knöchel an ihrer Hand weiß hervortraten. Sie bemerkte es nicht. Dann
hörte sie ein leises Klingeln. Ein Aufatmen ging durch ihre Brust. Es waren die Glöckchen an den Angeln. Bissanzeiger. Es war Gunnar. Doch was bedeutete das Schlurfen? Dann fiel ihr ein, dass er die Gummistiefel angezogen hatte, die ihm zwei Nummern zu groß waren. Warum kaufte er sich nicht endlich passende, dachte sie ärgerlich. Doch die Verärgerung verflog so schnell wie sie aufgekeimt war. Durch die Blätter des Strauches sah sie ihn näherkommen.
Erleichtert und froh, dass Gunnar endlich zurückkam, trat sie mit zum Gruß erhobenem Arm hinter dem Strauch vor. Die Kralle glänzte im Mondlicht.
Dann hörte sie ein Stöhnen, dem ein Ächzen
folgte und einen dumpfen Fall, der vom Klappern der zu Boden fallenden Angeln übertönt wurde.
„Gunnar“, rief sie erschrocken. Bei ihm angekommen leuchtete sie mit der Taschenlampe auf das Gesicht des am Boden Liegenden. Leblose starre Augen blickten sie an. Nur das Entsetzen war in ihnen noch zu erkennen.
© KaraList 08/2014
Cover ClipArt