Kapitel 2
ER
Die Suche nach ihr war lang gewesen. Oft lief er nur ziellos durch die Stadt. Hoffte, er würde sie finden. Es war Zufall, dass er auf eine kleine Bar stieß, in der er sie sitzen sah. Ein Junge saß neben ihr. Lachte, doch sie überstrahlte alles. Sie war schön. So schön, wie früher. Er zog sein Handy aus der Jackentasche und machte ein Foto von ihr. Konnte sich nicht von ihrem Anblick lösen. Doch schon bald würde es auffällig werden, wenn er hier stand, immer wieder in die Bar schaute, ohne jedoch hineinzugehen. Noch eine Weile
schaute er sie aus einiger Entfernung an, bis er sich schließlich auf den Weg machte.
Er wartete wieder an der Straßenecke auf sie. Sie war dort eigentlich immer die letzten Wochen entlang gekommen und auch an diesem späten Winterabend würde er sie dort antreffen. Er wartete nun schon seit einiger Zeit und begann langsam zu frieren. Es war Winter geworden. Der Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel und die Temperatur lag weit unter Null. Doch sie würde noch kommen, da war er sich sicher. Es musste einfach so sein. Langsam wurde er ungeduldig. Hatte sogar seine Deckung aufgegeben und war in die Bar
gegangen, um zu sehen, ob sie vielleicht bereits dort war. Aber das war sie nicht. Er sprach einen dicken Mann an. Unvorsichtig, wenn er jetzt darüber nachdachte. Doch er musste sie heute finden. Alles war vorbereitet. In der Bar hatte man ihm gesagt, sie sei noch nicht dagewesen und sie würde hier schon noch auftauchen. Er vertraute auf ihr Wort. Was konnte er auch schon anderes tun? Sie in der Stadt zu suchen würde vermutlich so lange dauern, wie eine verlorene Nadel im Heuhaufen zu finden. Auch an diesem kalten Abend. Er musste sich einfach gedulden und warten.
Da bog endlich eine Frau um die Ecke. Er konnte sie nicht richtig erkennen,
aber an den Geräuschen, die die hohen Absätze ihrer Schuhe machten, wusste er, dass sie es nicht war. Solche Schuhe würde sie nicht tragen. Er schüttelte den Kopf. Sie würde kommen. Er wusste es. Er stand noch weitere zwei Stunden im Schnee, bis er sich alleine auf den Weg nach Hause machte. Wut kroch in ihm hoch. Wo war sie?
SIE
Sie hatte aufgehört zu schreien. Doch sie konnte jetzt nicht einfach aufgeben. Sie schlug gegen die Wände. Warum hörte sie denn niemand. Wo stand dieses verdammte Haus? Irgendjemand musste doch irgendwann mal vorbeikommen!
Noch einmal schlug sie zu. Ein dumpfes Geräusch erklang, aber nichts passierte. Niemand eilte ihr zu Hilfe. Noch ein Schlag. Und noch einer. „Hilfe“ schrie sie. „Hört mich denn Niemand?“ Sie sackte an der Wand zusammen. Ihr Hals schmerzte vom Schreien. Ihre Hände waren wund. Langsam sickerte das Blut aus den kleinen offenen Stellen an ihren Fingerknöcheln. Sie spürte leichten Schmerz. Gut so. Schmerz war gut. Dann wusste sie wenigstens, dass sie noch lebte.
Langsam kroch sie in ihr Bett, zog die Decke über ihren Kopf. Jetzt kam die Angst. All ihr Mut hatte sie verlassen. Sie konnte nicht mehr Schreien, sich ihm
wiedersetzten. Sie konnte nicht mehr gegen die Wände schlagen und darauf hoffen, dass sie Jemand hören würde. Sie hatte einfach keine Kraft mehr. Ihr liefen Tränen über die Wange. Warum musste ihr nur so etwas passieren? Durch das kleine Fenster sah sie die schwarze Finsternis, wie sie durch die kalte Scheibe hinein kroch. Sie musste hier raus. Sofort. Soviel war klar. Ihr Hals schmerzte und ihre Finger hatten blutige Spuren an den Wänden hinterlassen. Tränen stiegen in ihre Augen. Hatte das alles überhaupt noch einen Sinn? Würde sie je irgendjemand hören? Sie wollte doch nur hier weg. Also schrie sie weiter.
Fortsetzung folgt...