Prolog
Sie lachten und liefen durch den Park, hinüber zum Spielplatz. „Du bist es“, sagte das Mädchen und klatschte den Jungen am Arm ab. „He! Das war unfair“, rief er, lief ihr aber schon hinter her. Ihr Lachen klang durch die ganze Anlage. Als er das Mädchen erreichte, schlang er seine Arme um sie. „Ich finde es schön, wenn du da bist!“ Sie lachte und lief hinüber zu ihrer Mutter, die auf einer Parkbank saß und in einer Zeitschrift blätterte. „Können wir ein Eis essen Mami?“, fragte sie und blickte zu dem Jungen hinüber, der etwas abseits stand. „Klar Schatz! Holt euch jeder eine
Kugel.“ Sie reichte dem Mädchen etwas Geld und ließ es davon rennen. „Komm!“ rief es zu dem Jungen herüber, der zögerlich folgte. Er spürte genau, die durchdringenden, bösen Blicke des Mannes, der auf anderen Straßenseite stand. Er hatte die beiden Kinder schon die ganze Zeit über beobachtet und schüttelte nun einfach leicht den Kopf. Der Junge aß an diesem Nachmittag kein Eis.
Kapitel 1
SIE
Sie schrie. Seit Tagen hatte sie nichts anderes mehr getan. Warum verstand sie denn niemand? Irgendwen musste es doch geben. Noch ein Schrei. Jetzt wurde sie wütend. Sie schlug immer wieder mit der Hand auf das Kissen in ihrem Bett. Nein! Das war doch echt alles nur ein blöder Traum. Doch sie schlief nicht. Sie hörte ihre Stimme klar und deutlich und langsam spürte sie den Schmerz in ihrem Hals, der durch das viele Schreien entstanden war. Die Tür ging auf. „Hast du dich noch immer nicht beruhig?“, fragte er. „Nein!“ spie
sie im wütend entgegen. „Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht“ sagte er ganz ruhig, so als wäre es das Normalste der Welt, den ganzen Tag zu schreien. „Wenn du dich beruhigt hast, kannst du ja vielleicht was essen“ schlug er vor und stellte einen Teller und ein Glas mit Wasser auf den kleinen Tisch. Sie funkelte ihn böse an. Mittlerweile hatte sie einfach nicht mehr die Kraft noch zu schreien. Als er ihren bösen Blick sah, lächelte er kurz, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
So konnte das doch nicht weiter gehen. Sie schrie sich die Kehle wund, doch brachte es überhaupt nichts. Sie würde ihren Willen nicht bekommen, da blieb er
standhaft. Sie ging hinüber zu dem kleinen Tisch und setzte sich auf den davor stehenden Stuhl. Eigentlich hatte sie gar keinen Hunger. Ihr war der Appetit vergangen. Sie schob das Essen auf ihrem Teller hin und her und betrachtete dabei die Tulpen, die vor ihr in einer Blumenvase standen. Er hatte ihr die Blumen ins Zimmer gebracht. „Hier“ hatte er gesagt, „ein bisschen Frühling.“ Ein paar Sonnenstrahlen fielen durch das kleine Fenster auf den Tisch. „Der erste schöne Frühlingstag“ dachte sie und dabei löste sich eine Träne aus ihrem Auge. Sie hatte bis jetzt noch nicht geweint. Hatte es sich verboten schwach zu sein und es ihm so offensichtlich zu
zeigen, doch jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurück halten. In diesem winzigen Raum mit nichts weiter als einem Bett, einem Tisch und dem Stuhl auf dem sie saß, der wahrscheinlich mitten im Nirgendwo lag, würde sie nie jemand finden oder hören. Und Fliehen war ausgeschlossen. Die Kette um ihren Fuß würde sie nicht zerstören können. Schwer und kalt lag sie und ihren Fuß. Ermöglichte ihr kaum Freiheit. Sie war gefangen, da half auch alles Schreien der Welt nichts. Es würde sie ja doch niemand hören.
ER
Sie hatte schon wieder angefangen zu
Schreien. Hatte sie immer noch nicht verstanden, dass sie nie Jemand hören würde? Das kleine Haus lag mitten im Wald. Mit dem Auto brauchte er fast eine Stunde, um in den nächsten Ort zu kommen. Einem wirklich kleinen Ort. Vielleicht zehn, zwölf Häuser. Sie konnte also so viel Schreien, wie sie wollte, hören würde sie sobald Keiner. Hier in den Wald verirrte sich höchstens mal ein Reh oder ein Wildschwein, doch die wären für sie keine große Hilfe. Er lächelte. Sie war wirklich ein Sturkopf. Ganz wie früher.
Ihre Stimme wurde lauter. Lange würde sie das nicht durchhalten. Und selbst wenn. Irgendwann würde sie ja doch
keine Stimme mehr haben. Er stand vom Sofa auf und ging in die kleine Küche. Schaute in den Kühlschrank. Leere. Er sollte bald einkaufen gehen. Doch noch wollte er sie nicht alleine lassen. Wollte sich nicht von ihr trennen. Er hatte sie doch gerade erst gefunden. Hannah, sein Mädchen. Es war eine lange Suche gewesen. Doch seine Mühe hatte sich gelohnt. Jetzt war sie bei ihm. So wie früher. Ihre Stimme war inzwischen verklungen. Das kleine Haus lag jetzt in der spätabendlichen Stille des Waldes. Nur ein paar Vögel zwitscherten ihre Lieder. Wieder lag ein Lächeln in seinem Gesicht. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass sie jetzt in einem Zimmer
in seinem Haus war. Noch vor einer Woche war er verzweifelt gewesen. So verzweifelt, dass er über Selbstmord nachgedacht hatte. Das erste Mal. Was hatte sein Leben ohne sie auch für einen Sinn? Einen Strick hätte er genommen. Oder er wäre von einer Brücke in die endlose Tiefe gesprungen. Tabletten hätten es auch getan. Doch er hatte keinen Mut gehabt. Hatte noch Hoffnung sie doch zu finden. Sie irgendwann in seinen Armen zu halten. Jetzt war er froh, über diese Entscheidung. Froh darüber, dass er noch lebte. Dass er jetzt hier stand. Wer wusste schon, wie lange noch?
Fortsetzung folgt...