Es ist ein schöner lauer Sommerabend. Alles blüht und duftet. Ich gehe mit meinem kleinen Sohn durch den kühlen Schatten der Bäume und setze ihn auf einen dicken Ast. Ich schwinge mich selbst noch neben ihn. Dort sitzen wir nun schweigend nebeneinander. Keiner traut sich etwas zu sagen. Absolute Stille. "Mama, woran ist er gestorben?" höre ich nach einiger Zeit. "Ich weiß es nicht." sage ich mit einer dünnen Stimme. "Du weißt es. Du glaubst nur, ich würde es nicht verstehen." Stille. "Nein." "Doch." Ich stehe auf, springe von dem Ast, auf dem Tim noch sitzt und stelle mich vor ihn, sodass er größer ist als ich. "Du, Tim: Ich weiß, dass du groß bist, aber nur weil ich größer bin als du, heißt
es
nicht, dass ich stärker bin. Verstehst du?" "Ja." Wir gucken uns tief in die Augen. Mir entwischt eine Träne. Ich drehe mich schnell um, ich mag es nicht, wenn ich vor meinem Sohn weine. "Mama, ich hab dich lieb." Ich drehe mich wieder zu ihm, er wischt mir die Träne von der Wange und umarmt mich. "Ich dich auch. Aber weißt du, es ist sehr schwer für mich, dass dein Vater gestorben ist. Und ich weiß, dass es auch für Dich schwer ist. Aber wir haben ja noch uns." Ich hebe ihn von dem Ast und setze ihn auf dem Boden ab. "Ja,uns." Ich nehme ihn an die Hand und wir gehen zu einem kleinen Bach. Wir beobachten eine lange Zeit lang das Wasser. Einfach
das Wasser. Normalerweise hätte Tim jetzt
gesagt, dass es langweilig sei, nur auf das Wasser zu starren, doch jetzt scheint er nicht so zu denken.
Als wir wieder zuhause sind setze ich mich auf das Sofa, trinke Wein und lausche den schönen Klängen meiner Lieblingsmusik. Immer wieder drücke ich auf "Wiederholen" und das Lied läuft in Dauerschleife. Ich bin traurig. Ich bin einfach nur traurig. Tim schläft schon. Denke ich jedenfalls. Ich trinke noch ein oder zwei Gläser Wein und schalte die Musik aus. Als ich vom Zähneputzen wieder aus dem Bad komme gehe ich noch einmal in das gegenüberliegende Zimmer.
Tim's Zimmer. Ich schleiche rein, um ihn
noch einmal ein Gutenacht-Kuss zugeben. Doch dort liegt er nicht. "Was machst du da?" schreie ich ängstlich aber auch irgendwie verwirrt. "Siehst du doch." kommt es zurück, doch diese Stimme stammt nicht von Tim. Doch ich kenne diese Stimme. Ich zittere. Ich denke nach. Mir fällt die Person nicht ein, die diese Stimme besitzt, doch ich bin mir hundert Prozent sicher, ich kenne sie. Ein kalter Windzug zischt an mir vorbei. Ich sehe nichts, da ich das Licht nicht angemacht habe, um Tim nicht zu wecken. Ich renne aus dem Zimmer, die Treppe runter und nach draußen. Ich renne. Ich renne um mein Leben. Als ich an dem Bahnsteig
angekommen bin, steige ich in eine Bahn.
Ich weiß nicht wo sie hinführt, doch das ist mir jetzt gerade egal. Ich schmeiße mich auf einen der dreckigen Sitze und atme tief durch. "Berlin, Kreuzberg" lese ich auf dem Schild.
Als der Zug bei der Endstation angekommen ist bleibe ich sitzen. Ich kann nicht aufstehen, ich bin wie gelähmt. Ich schließe meine Augen und denke an das, was mir gerade passiert ist. Es kann nicht sein. Es kann einfach nicht sein. Plötzlich höre ich Schritte die immer näher kommen. Ich öffne meine Augen und ein kleiner, dicker Mann kommt auf mich zu. Ich lese an seinem Mund, dass er gerade etwas
sagen wollte, es aber doch nicht gemacht
hat. Stattdessen steht er jetzt vor mir und guckt auf meine Stirn. Ja, er guckt nicht in meine Augen sondern auf meine Stirn. "Ist was?" frage ich leise und zurückhaltend. "Äh, ja. Also nein. Äh.. ich wollte nur sagen, dass Sie jetzt aussteigen müssen! Hier ist Endstation." stottert eine hohe Stimme. "Ich weiß." flüstere ich und streiche mir verlegen durch meine langen braunen Haare. "Was habe Sie da an der Stirn?" fragt er als ich schon auf dem Weg aus dem Zug bin. "Ich?" "Ja." "Warum?" "Sie haben da ein Zeichen auf der Stirn. Wie Harry Potter." Er lacht laut. Doch ich finde es gar nicht lustig und stelle mich vor das spiegelnde Zugfenster. Ich habe
wirklich ein Zeichen auf der Stirn. Es sieht
aus wie ein Boot mit drei Personen drauf. Ein Vater, eine Mutter und ein Sohn. Ich bekomme Gänsehaut. Erst liegt er in Tim's Bett und jetzt ist er auf meiner Stirn? Ich bekomme eiskalte Hände. Ich renne die Treppe hoch und setze mich auf eine Steinmauer. Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, mein Mann ist tot? Ich fange an zu weinen. Ich vermisse Tim, und sorge mich um ihn. Lebt er noch? Sebastian hat ihn geliebt.
Ich bin bei meiner Mutter angekommen. Ich bin angekommen. Ich klingel. Keiner macht auf. Ich klingel nochmal. Nichts passiert. Ich gebe auf und gehe die vielen
Stufen des Treppenhauses wieder runter.
Als ich unten angekommen bin höre ich ein klacken. "Hallo?" Höre ich jemanden rufen. Es ist meine Mutter. Ich renne die Stufen wieder hoch und umarme meine Mutter ohne ein einziges Wort zu sagen. "Nina!" sagt sie überrascht. "Mama!" sage ich mit Tränen in den Augen. "Was ist los?" fragt sie besorgt. "Tim." sage ich einsilbig. "Was ist mit ihm? Wo ist er?" "Ich weiß es nicht."
Meine Mutter weiß alles. Ich hab ihr alles bis in's kleinste Detail erzählt. Sie ist meine Mutter, doch sie glaubt mir kein Wort. Null. Tim hätte es mir geglaubt. Vor Wut und Enttäuschung gehe ich wieder. Ich
werfe die große Tür des Blockhauses extra
laut zu. Ich laufe. Langsam geht die Sonne auf und es wird hell. Ich laufe an einer Mauer vorbei und bleibe stehen. Was sich sehe ist unheimlich. Sehr sogar. An einem Teil der Wand steht "miss" und ein Foto von Sebastian und mir. Es wurde mit einem Boot-Aufkleber befestigt. Sebastian ist in einem Segelboot gestorben. Ich bekomme schon wieder Gänsehaut. Was ist hier los? Keiner glaubt mir. Ich stehe allein da. Ganz allein. Ohne Tim, ohne Sebastian und ohne meine Mutter.
Ich kann nicht mehr. Ich fühle den Schmerz, ich fühle, wie er in mir tobt. Alle Menschen die ich geliebt habe sind
weg. Sebastian tot, Mama glaubt mir nicht
und Tim.. Ich weiß es nicht. Ich gehe durch die Mondschein beleuchteten Straßen. Keine Menschenseele so weit ich gucken kann. Und ich kann weit gucken. Ich beschließe auf den Bus zu warten und in meine Wohnung zu gehen. Ich werde dort nicht schlafen können, doch das ist mir egal, denn ich werde die nächsten 10 Jahre nicht schlafen können. Mit hängendem Kopf und mit Tränen übergossenen Gesicht laufe ich durch den Regen. Ich komme an einer Pfütze vorbei, eigentlich würde ich jetzt mit Tim reinspringen und lachen, doch Tim ist ja nicht hier. Ich gehe weiter, meine Haare und meine Kleidung durchnässt. Dort ist
der Pizzaladen, indem Sebastian und ich
immer unsere Lieblingspizza gekauft haben. Alles ist dunkel hinter den Fenstern. Ich bin wohl die einzige, die im strömendem Regen durch die Stadt läuft und weint. "Da ist eine Pfütze!" höre ich eine leise Stimme hinter mir sagen. Ein durchnässter Junge sitzt an der Hauswand des Pizzaladens. "Tim!" "Lass uns reinspringen!" sagt er so langsam, als würde er gar nicht mitbekommen was hier gerade passiert. "Tim, was machst du hier?" Ich umarme ihn fest. "Ich weiß es nicht. Ich bin hier einfach." Ich nehme ihn Huckepack und wir gehen in unsere Wohnung.
Ich schließe die Tür auf. Endlich sehe ich
Tim wieder im hellen. Ich hocke mich auf den Boden und gucke ihm in seine großen, blauen Augen. Er ist dreckig. Überall. Er starrt mich an. Ich lasse meine Blicke über sein verschmutztes Hemd gleiten. Er starrt immernoch. Es ist ein komisches Gefühl. Ich wuschle ihm durch seine schönen, blonden Haare. Er hat was an der Stirn. Ich erschrecke, er hat das gleiche Zeichen an der Stirn wie ich. Ein Boot mit drei Personen. Tim bemerkt, dass mein besorgter Blick auf seine Stirn fällt. "Er ist nicht tot." flüstert er. "Ach, Tim! Ab ins Bett mit dir!" sage ich so, als würde ich
nichts wissen. "Nein. Er liebt uns!" Er guckt mich an, als würde er alles wissen. "Hier" Er holt ein Foto aus seiner
Hosentasche. Darauf ist ein Mann. "Sebastian." sage ich mit eiskalten Händen. "Papa." flüstert er zurück. Ich nehme ihm das Foto aus der Hand und schaue es an. Sebastian hat das gleiche Zeichen auf der Stirn wie wir beide. Dort steht ein Datum in der Mitte. "7. Juli. Das war gestern." sage ich mit schnellem Herzschlag. "Ja." "Wo ist er?" "Weiß ich nicht." Mir wirren Fragen in meinem Kopf. Wo ist er? Und warum hat er seinen Tot vorgetäuscht, wenn er uns liebt?
Es ist eine Weile vergangen. Um genau zu
sein eine Woche, 2 Tage und ungefähr 10 Stunden. Jede Minute warte ich darauf, dass Sebastian irgendein Lebenszeichen von
sich gibt, daher bin ich auch so genau. Doch es passiert nicht. Ich warte, esse und schlafe. Natürlich immer mit meinem Handy an meiner Seite. Ich glaube, wenn ich meinen Tagesablauf aufsagen müsste, klänge er etwa so: Schlafen, Essen kochen, Fern sehen, schlafen, Essen. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Nach dem tausendsten Mittagsschlaf beschließe ich, aufzustehen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich ziehe meine Jacke an, so als war ich gestern einen Marathon gelaufen. Ich hab' Muskelkater vom liegen. Als ich endlich an dem Schuhregal
angekommen bin und meine alten, verdreckten Sportschuhe anziehe, fällt mir etwas in's Auge: Tim's Schuhe. "Tim!"
sage ich panisch zu mir selbst, ich habe ihn vergessen. Durch den ganzen Stress habe ich meinen eigenen Sohn vergessen! Ich renne die Treppe hoch und stürme durch den Flur. Er hat zwei Tage nichts gegessen und nichts getrunken, warum ist er nicht zu mir nach unten gekommen? Ich öffne seine Zimmertür. Bin ich verrückt? "Tim!" "Mama! Du hast gedacht ich würde spinnen, oder? Ich spinne nicht, hier siehst du es." Er deutet neben sich. "Sebastian! Ich dachte du bist tot!?" Ich fange an zu weinen und setze mich zu den beiden. Wir umarmen uns fest. So fest, wie wir es noch
nie getan haben. Er baut sich vor mir auf. "Nein, ich bin nicht tot, ich war verloren. Verloren auf einer Insel. Keiner hat mich
gefunden. Außer er." Er zeigt auf Tim. "Er hat gespürt, dass ich auf der Insel bin. Keine Ahnung wie, aber er hat er gespürt. Kurz vor meinem Unglück haben wir uns aus Spaß Rauchzeichen ausgedacht. Es klingt verrückt, doch ich saß auf der Insel und sah dieses Rauchzeichen, was so viel wie Papa bedeutet. Ich entflammte ein Feuer und machte Rauchzeichen, die so viel wie Tim bedeuten. Tim hat die Polizei gerufen und sie sind zu mir gekommen. Ich bin ihm so dankbar!" Er umarmt Tim. Nach mehr als 3 Tagen kann ich endlich wieder lachen! Ich bin so stolz auf Tim!
Wir bestellen uns eine Pizza bei unserem Lieblingsladen und machen es uns gemütlich. "Ich hab euch so vermisst." sagt
Sebastian nach einer Zeit. "Wir dich auch!" rufen Tim und ich im Chor.