Seit mehr als einer Woche komme ich nun schon jeden Tag nach der Schule hierher. Es klingt komisch, aber ich fühle mich zwischen den kahlen weißen Wänden und den hektischen Menschen auf eine seltsame Art und Weise geborgen. Ich kenne den Weg zu deinem Zimmer schon auswendig, am Anfang musste mich immer eine von den netten Frauen am Einangen begleiten, aber ich bin ja eigentlich auch das erste Mal hier. Am Liebsten würde ich bleiben, nicht immer am Abend weggehen müssen, aber das klappt natürlich nicht.
Ich denke aber, du freust dich trotzdem, dass ich immer komme. Ich nehme dann deine Hand und sehe dich an, sehe dich einfach nur an, manchmal rede ich auch
sehr lang mit dir. Du antwortest nicht, aber das macht mir nichts. Die ganzen Geräte die um dich herum stehen piepen jedes Mal wenn ich reinkomme und wenn ich gehe und wenn ich nicht da bin und ich frage mich, ob man sie nicht abstellen kann, ob dich das nicht stört. Das habe ich auch mal einen von den Männern gefragt, die hier immer sind, aber er hat nur traurig gelächelt und gesagt: "Ich denke nicht, dass das Geräusch deiner Oma was ausmacht" Ich habe das nicht verstanden, aber ich habe es hingenommen. Schließlich war es oft laut um dich herum, zum Beispiel wenn du auf deiner Querflöte gespielt hast. Ich habe so gerne zugehört, den rauchigen Klängen gelauscht, deine Finger
beobachtet, die über das schimmernde Silber zu tanzen schienen. Das Instrument liegt jetzt neben dir, bis jetzt hast du es nicht angerührt, aber es sah so einsam aus bei dir in der Wohnung, also habe ich es für dich hieher mitgenommen. Du hast immer gesagt, irgendwann bringst du mir auch bei so zu spielen, wenn ich groß genug bin. Ein paar Töne kann ich schon, allerdings kein richtiges Stück.
Als erstes treffe Klara, gleich nachdem ich die schwere Glastür zur Seite gedrückt habe. Sie lächelt freundlich und sagt: "Hallo, Emma. Gehst du wieder deine Oma besuchen?" Ich nicke. Klara meint, so eine Enkelin wie mich hätte sie auch gerne, dabei ist sie doch erst 27 und hat einen
kleinen Sohn, ich habe sie mal danach gefragt. Sie hebt nochmal die Hand in meine Richtung, dann verschwindet sie hinter einer der vielen Türen. Ich laufe den weißen Gang entlang, grüße die Menschen die ich kenne und treffe bis ich endlich vor deiner Tür stehe. Vorsichtig öffne ich sie und betrete leise den Raum. In der Mitte steht ein Bett auf dem du, gut in eine Decke gewickelt, liegst. Du siehst glücklich aus, friedlich irgendwie. Mama sagt, du schläfst, träumst etwas Schönes, aber ich denke, dass du merkst, wenn ich komme. Ich setze mich auf den Stuhl neben der neben dir steht und nehme deine faltige Hand. Sie ist kühl wie immer und ich schließe meine Finger darum um sie
aufzuwärmen. "Hallo, Oma", flüstere ich. "Ich bin´s, Emma, ich komme dich besuchen" Du zeigst keine Regung, aber das ist nicht weiter schlimm. Du hörst mich schließlich trotzdem, das habe ich in einer der Zeitschriften gelesen, die in manchen Räumen hier liegen. "Heute hatten wir eine Schularbeit", erzähle ich dir. "Du weißt schon, die in Mathe, für die du mit mir geübt hast. Ich hab alle Beispiele gekonnt, und ich habe auch noch nachrechnen können. Das ist gut, gell?" Ich streiche deine Bettdecke glatt und sehe dir ins Gesicht. Deine lebhaften grüne Augen sind geschlossen, auf deinen Lippen liegt ein weiches Lächeln. "Mama sagt, ich soll nicht immer so lang bei dir sein. Ich darf,
aber sie meint es wäre nicht gut für mich, es würde mich so traurig machen. Findest du das auch?" Du antwortetst nichts, es ist furchtbar still in dem Raum. Mit einem Seufzen stehe ich auf und stelle mich ans Fenster. Ich sehe hinaus und die Tränen rinnen über meine Wangen als ich sage: "Du hast es mir versprochen, Oma, du hast versprochen, dass du mir beibringst so zu spielen wie du" Ich drehe mich zu dir um, streiche mir die Haare aus der Stirn und knie mich neben dich. "Wann wachst du wieder auf, Oma? Bitte, wach doch auf, das ist das einzige was ich mir wünsche, ich hab es sogar auf meine Wunschliste fürs Christkind geschrieben. Bitte, Oma, bitte, ich will Weihnachten nicht ohne dich
feiern." Ich beuge mich vor und gebe dir einen sanften Kuss auf die Strin. "Wach auf"
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