2. Rotwalden. 775 ÄIII n.Br. – Lothan Der alte Gaul zog ihren Karren langsam über den Weg oder über das, was wohl einst ein Weg gewesen war und sich nun nur noch als eine Ansammlung niedrigerer Gräser durch die mannshohen Farne schlängelte. Je tiefer Ferren das Gefährt in die grüne Wildnis Fiondrals führte, desto stärker grummelte ein ungutes Gefühl in seinem Bauch. Er schalt sich selbst einen Narren, sich auf eben diese Sache eingelassen und den gesamten kümmerlichen Rest seines Vermögens in
ein Bauwerk investiert zu haben, das er bislang nicht einmal gesehen hatte. Immer bestechender wurde die Furcht, nur in irgendeinem überwucherten Feld zu enden und den Scharlatan, der ihm versichert hatte, dort ein Landhaus vorzufinden, niemals wiederzusehen. Er fragte sich, ob nicht alles besser geworden wäre, wenn er darauf bestanden hätte, das Haus selbst zu bauen oder sich einer Siedlergemeinschaft anzuschließen. Aber dazu war es zu spät, denn er war längst hier, die Sonne brannte auf seiner Haut, die Farne raschelten im Wind, gefüllt mit sattem Grün, und in den Kronen der Bäume über ihm sangen die
Vögel eine Sonate, zu der die Grillen zirpten. „Zieh nicht so ein Gesicht“, ihre Stimme wisperte wie Vollendung durch die Musik der Fauna. Für ihn gab es nichts Wohlklingenderes als eben diese Stimme, wenngleich er sich bewusst war, dass dieses Empfinden nur für ihn selbst gelten mochte, „Wir haben es doch bestimmt bald geschafft.“ Er wandte sich ihr zu und starrte in jenes Paar azurblauer Perlen, das aus ihren Augenhöhlen funkelte und so sehr an die Weite, die Schönheit des Ozeans erinnerte, dass er fast glaubte, das Salz auf seiner Zungen schmecken zu können. Kupferrotes Haar fiel auf ihre Schultern
und schlängelte sich dabei wie Wellen fließenden Wassers. Im Schein der Sonne schmolz das Rot zu einem glänzenden Anblick flüssigen Goldes. Ein leichtes Kleid aus lachsfarbenem Chiffon umspielte ihre Kurven, vermochte dabei aber nicht, von dem abzulenken, das ihm an ihr am schönsten erschien. Jenes Lächeln auf den samtweichen Lippen, ein Lächeln, das ihn die Welt, sich selbst, Zeit und Raum vergessen ließ; das so voller unberührter Freude und Lebenslust war, dass er selbst nicht anders konnte, als es jedem Anblick zu erwidern. In diesem Augenblick verblasste die Frage, was am Ende dieses Weges läge,
zur schieren Bedeutungslosigkeit, denn es zählte nur, dass sie dieses Ende zusammen erreichten. Das werden wir, drang die Gewissheit freudig durch seinen Geist, wobei sein Lächeln sich so breit spannte, dass die Mundwinkel schmerzten. So viele Mauern hatten vor ihrem Glück aufgeragt, doch eine jede hatten sie überwunden oder niedergerissen, und nun lebten sie Seite an Seite ihren Traum, der unbedeutende, fahrende Ritter und die edle Dame aus Ledria. Ferren Quynt und Lydia Schwarzschild, die in den Weiten Fiondrals nur noch zwei einfache Menschen waren wie jeder andere, einfach aber glücklich. Sie
hatten alles hinter sich gelassen, den Hass ihres wahnsinnigen Neffen, die Abneigung ihres Vaters, den Gram des Mannes, dem sie einst versprochen gewesen war, zuletzt die Revolution, die als ein Sturm aus Blut auf Kalatar getobt hatte. Der König war tot, die Dynastie Lemorgant gestürzt, aber hier hatte das alles keinen Wert. Er hatte die Gerüchte vor Wochen in einer Kneipe gehört und nur mit den Achseln zucken können, denn für ihn gab es längst nur noch ihr Lächeln, das Azurblau ihrer Augen, die Leichtigkeit ihrer Worte, ihren Körper, ihre Seele. So tief war sein Blick in ihren Augen
versunken, dass er kaum den gewaltigen Laubbaum bemerkte, der nun direkt voraus aufragte, sodass sich der Pfad um ihn biegen musste. Lediglich der Gaul schien wenig Interesse daran zu haben, frontal gegen den Stamm zu laufen, und hielt davor inne. „Bring uns bitte nicht um, bevor wir da sind“, lachte sie. „Ich gebe mein bestes“, versicherte er frohen Mutes, wobei er den Karren zurück auf den Weg und schließlich um den Baum herummanövrierte. Kaum waren sie unter dessen üppigem Blattwerk hindurch, erstreckte ich vor ihnen eine Lichtung, aus deren hohem, saftgrünem Gras sich ihr Ziel erhob. Die
Mauern des Landhauses wirkten, als hätte man sie mit Steinen aus der ganzen Umgebung aufgeschichtet, und trugen ein Dach, aus dem bereits etliche Ziegeln herausgebrochen waren. Über der Veranda bogen sich die hölzernen Planken durch, dass man fürchten musste, sie würden bei der nächsten Windböe gänzlich hinunterstürzen. Je näher sie kamen, umso mehr zeigte sich, wie herbe Zeit und Einsamkeit dem alten Gemäuer zugesetzt hatten. Doch bevor Ferren sich innerlich darüber entrüsten konnte, wisperte ein Geräusch durch das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen, den Gesang des Windes; etwas, das er zuvor noch nicht gehört hatte.
Zunächst vermochte er nicht, zu benennen, was es war, bis es ihm schließlich klar als das Plätschern eines Baches erschien, das die Idylle vollendete. Plötzlich spürte er, wie ihre Hand über seine Schulter strich, und eine Welle der Wärme flutete durch seinen ganzen Körper. „Das ist unseres?“, fragte sie. „Ja“, antwortete er, ohne Bedauern aus seiner eigenen Stimme hören zu können, denn er empfand simpel keines. Ihm war sehr wohl bewusst, dass es eine halbe Ewigkeit dauern würde, das alte Landhaus wieder herzurichten, doch hätte er nicht behaupten können, dass es
ihn sonderlich störte. Sie hatte ihn mit dieser Leichtigkeit angesteckt, der traumwandlerischen Sicherheit, dass nichts auf dieser Welt ihn noch davon abhalten könnte, wahrhaft glücklich zu sein. Wenig später saßen sie auf Bastmatten im Schatten der Veranda, während über ihnen die Planken ächzten und der Gaul in der Ferne graste. Sie aßen Käse und tranken süßen Wein, den sie aus Ledria mitgebracht hatten, und tausend Knoten zerrissen in seinem Herzen. Sie lehnte an seiner Schulter, seine Arme umschlossen sie und in ihm tanzte eine Wärme, eine makellose Glückseligkeit. Er wünschte sich, dass der Moment
niemals enden würde. Nach unzähligen Jahren des Reisens, der ständigen Unruhe, nachdem er sein ganzes Leben lang nie für mehr als ein paar Monate an einem Ort verweilt war, empfand er nun so, als sei er endlich an jenem Platz angekommen, wo er den Rest seines Lebens verbringen würde. Als er in ihre azurblauen Augen blickte und die goldenen Sprenkel sah, die wie Schätze darin schwammen; als ihre Lippen sich auf seine zubewegten und sein Herz, Zeit und Raum, die ganze Welt stillzustehen schien, da wusste er, dass… „Steh auf, du stinkender Bastard!“, die Worte rissen ihn aus seinen Träumen wie eine eiserne Klaue und schleuderten ihn
in die Schwärze. Seine Augen verweigerten die Öffnung, der Schlaf hielt ihn gefangen. Während das Blut in seinen Adern pulsierte und dem Erwachen entgegendrängte, sehnte sich ein anderer Teil von ihm nur zurück in die wohlige Umarmung dessen, was so soviel mehr war als eine Erinnerung. Das Klatschen und der brennende Schmerz, der sich durch seine Wange zog, als man ihm eine schallende Ohrfeige verpasste, schleuderten ihn aus der Trance in die Realität zurück. Die Welt flackerte vor seinen Augen als ein Scherbenhaufen verschwommener Konturen. Er blinzelte, bis er erkannte, dass er auf die Spitze einer Klinge
starrte, die auf seine Kehle gerichtet war. Sein Herzschlag normalisierte sich, während eiserne Routine ihm sagte, dass wer auch immer dieses Schwert führte, ihn längst hätte umbringen können, wenn er eben das gewollt hätte. Über diese Erkenntnis keimte jähes Bedauern in ihm. „Aufstehen!“, blaffte der Mann, den er immer noch nicht recht erkennen konnte, und als er nicht folge leistete, packte ihn jemand anderes und hievte ihn auf die Beine. „Los jetzt!“, verlangte man, bevor man ihm einen Tritt versetzte, der ihn auf den Pfad zur Taverne zurückdrängte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber
der trübe Hauch von Helligkeit verriet ihm, dass der Morgen nahen musste. Neben ihm trieben zwei Soldaten Norman Ewenett auf die Taverne zu, indem sie ihm Stöße mit den stumpfen Enden ihrer Speere versetzten. Da er diese Behandlung nicht über sich ergehen lassen wollte, beeilte er sich, seinem Kameraden zu folgen, und warf ihren Häschern dabei flüchtige Blicke zu. Es konnten kaum ein Dutzend Mann sein. Er sah die schwere Rüstung eines Ritters, die meisten aber trugen Wamse oder Waffenröcke einfacher Soldaten. Was ihn jedoch verwunderte war, dass auf der Kleidung eines jeden die Lilie des Königreiches
prangte. Männer des Königs, die königliche Gardisten angreifen? Während er durch die geöffnete Tür in den Schankraum stolperte, musste er sich fragen, wer hier welchem Herren diente oder ob es möglicherweise Rivalitäten zwischen Prinzessin Mara und Prinz Vaelis gab. Doch sein katergeplagter Schädel strafte ihn in Anbetracht dieser Ränke mit beißendem Schmerz und verweigerte ihm jede Erkenntnis. Neben ihm war Norman Ewenett nach einem weiteren Stoß auf die Knie gesunken. Dave Valentin saß immer noch auf dem Platz, wo sie ihn am Abend zuvor verlassen hatten,
allerdings hielt nun ein grobschlächtiger Soldat sein Messer an die Kehle des Ritters und hielt ihn damit in Schach. Comte Avel Jonathras, der Ziegenhirte und der ehemalige Folterknecht standen hinter der Theke, ohne das man sie direkt bedrängte. Allerdings saß die Kampfmagierin, die Ferren schon am Vorabend aufgefallen war, auf dem Tresen und bedachte sie mit einem wachsamen Blick. Mehr konnte er nicht einfangen, bevor man ihm einen derart harten Stoß in den Rücken versetzte, dass er neben dem Eingang auf die Bohlen segelte. Sein Schädel explodierte, die Welt verschwamm erneut, flackerte bei jedem
Blinzeln, ohne dabei aufzuklaren. Die restlichen Soldaten trampelten an ihm vorbei in den Schankraum, wobei sie seinen Körper mit jedem Schritt erbeben ließen. Ihm war unsagbar übel und plötzlich fühlte er sich unfähig, dass alles noch aus gleichgültig abzustempeln. Er empfand etwas, das ihm den Magen umdrehte, etwas, dass er nicht mehr zu benennen vermochte und das aus längst vergessen Zeiten echote. Irgendjemand zerrte ihn wieder in eine aufrechte Position, sodass verschwommen wahrnehmen konnte, wie Aymeric Schwarzschild auf der gegenüberliegenden Seite des Schankraumes die Treppe
hinuntermarschierte. Die Hand des Alten ruhte auf dem Schwertgriff, der Blick raste verfinstert zwischen den Gestalten umher, dann hielt er inne und starrte direkt zum Eingang, durch den nun eine letzte Gestalt trat. Der Mann hielt auf der Schwelle ein, sodass Ferren zu ihm emporblicken konnte. Im Licht der Kerzen strahlte ihm der galante, versilberte Panzer des Ritters entgegen, auf dessen Brust das meisterhafte, goldene Emblem einer Lilie prangte. Die Schulterpanzer reckten sich schmal nach oben zur Halsberge hinauf, womit sie ihren Träger noch hagerer und größer wirken ließen. Ihn umwehte ein Dekor aus
purpurnen Tüchern, welche die Rüstung ausstaffierten. Diese wiederum ging in einen schwarzen, wadenlangen Rock über, gekürt von rankenartigen, silbernen Verzierungen. Allein die Kleidung des Mannes ließ eine ungute Vorahnung in Ferren aufkeimen, und als er den Blick zu dem Gesicht hob, das darüber thronte, fand er bittere Gewissheit. Obwohl der Ankömmling kaum älter sein konnte als er selbst und mit den gescheitelten, nachschwarzen Haaren sowie der feinzügigen Miene einen überaus gepflegten Eindruck machte, wirkte er doch wie ein wandelnder Toter. Ferren vermochte nicht zu sagen, ob es an der Narbe lag,
die sich über die Linke Gesichtshälfte sichelförmig von der Stirn bis zu den Lippen zog, oder an den eingefallenen Wangen unter den hohen Knochen, die spitz unter der fahlen Haut hervortraten, oder an den kalten, jadegrünen Augen, die ohne jedes Leben aus ihren Höhlen starrten. Ja, die Augen…diese kalten, toten Augen. Er hatte ihren Blick viel zu oft gespürt und die Kälte, die er in jeden säte, auf den er fiel. Der Mann, der soeben eingetreten war, nun neben ihm stand und vermutlich die Verantwortung für all das trug, war ihm wohl bekannt.
Layn Tymere. Er war sich nie sicher gewesen, was er von ihm hatte halten sollen. Auf der einen Seite hatte Tymere schon unter König Aldrin II. den Posten des Lordgenerals aller royalen Streitkräfte innegehabt und den Rebellen bei der Verteidigung Veloriens heldenhaft Widerstand geleistet, wovon er jene Narbe im Gesicht zurückbehalten hatte. Auf der anderen jedoch war ihm zugleich Lydia Schwarzschild versprochen gewesen, was aus den beiden Männern über Jahre hinweg Rivalen gemacht hatte. Rückblickend wunderte ihn, dass sie nie ihre Schwerter gekreuzt hatten und er
empfand einen Hauch von Stolz, jenen Kampf ohne seine Klinge gewonnen zu haben. All das beantwortete jedoch nicht, was Layn Tymere jetzt hier wollte. Rache erschien ihm ein passabler Grund zu sein, doch war ihm der Lordgeneral nie als rachsüchtig erschienen, selbst nicht als… Seine Erinnerungen liefen erneut vor eine Wand, die diesmal jedoch nicht seinem alkoholvernebelten Verstand entsprang. „Was für ein unverhofftes Widersehen“, Tymeres Stimme stand seinem Blick an Kälte um nichts nach. Er durchmaß den Raum in Richtung Aymerics, hielt jedoch
auf halber Höhe ein. Den übrigen schenkte er dabei keinerlei Beachtung. „Tymere?“, Schwarzschild ließ die Rechte weiterhin auf dem Griff seines Schwertes ruhen, „Was wollt Ihr hier? Was soll das?“ „Ihr wisst ganz genau, warum ich hier bin, alter Mann“, zischte der Lordgeneral. „Aus Rache für damals? Für Lydia? Seid Ihr darüber immer noch nicht hinweg? Das ist zudem nicht unsere…“, begann Aymeric, doch Tymere winkte ab, ohne auch nur einen einzigen Gesichtsmuskel dabei zu bemühen. „Anmaßend, zu glauben, es ginge hier noch um eine Frau“, er rümpfte die Nase,
„Stellt Euch nicht dümmer als Ihr seid.“ „Ihr wart bei Mara, nehme ich an“, knurrte Schwarzschild. „Natürlich“, der Lordgeneral schürzte die schmalen Lippen, „Ihre Antwort war genauso töricht wie die Eure. Ich hatte gehofft, Ihr würdet es noch einmal überdenken.“ „Ich habe meine Entscheidung getroffen, meine Loyalität gebührt der Prinzessin und dem Königreich, nicht dem Prinzen und seinem schwachsinnigen Feldzug“, der Alte zuckte mit den Schultern, wobei sein wölfisches Grinsen beinahe frech wirkte. „Bedauerlich“, kommentierte Layn, „Ihr seid ein weitaus größerer Narr, als ich
dachte.“ „Und was ändert das? Was werdet Ihr tun?“ „Ich werde Euch töten“, die toten Augen huschten über die drei gefangenen, königlichen Gardisten, wobei Ferren bemerkte, wie sie für den Bruchteil einer Sekunde an ihm hängen blieben, „Euch alle. Ihr könnt froh sein, dass die Ehre gebietet, Euch nicht in diesem erbärmlichen Zustand abzuschlachten, doch ich versichere Euch: Dies wird nicht unser letztes Aufeinandertreffen gewesen sein und das nächste endet mit Blut.“ „Ihr werdet weder uns noch Prinzessin Mara aufhalten“, prophezeite
Aymeric. „Nicht heute, wohl wahr“, stimmte der Lordgeneral zu, wobei er sich über das bartlose Kinn strich, „Aber lasst Euch dies eine Warnung sein und denkt noch einmal nach, bevor Ihr dem schwachsinnigen Feldzug Eurer Prinzessin folgt“, er die Stimme hob, um zu seinen Untergebenen zu sprechen, „Wohlan denn, lasst diese fehlgeleiteten Männer hier. Wir rücken ab!“ Er wirbelte herum und stiefelte zum Ausgang. Nachdem er mit wehenden Tüchern an Ferren vorbei gezogen war, hielt er jedoch noch einmal inne. „Wir sehen uns wieder.“ Kaum hatte er den Schankraum
verlassen, wandten sich auch die übrigen Soldaten von ihnen ab und folgten dem General zurück nach draußen. Das letzte Glied bildete dabei die Kampfmagierin in ihren roten Gewändern, die zum Abschied einen missbilligenden Blick auf sie warf.
„Was eine Scheiße“, ächzte Dave Valentin und rieb sich die Schläfen.
EagleWriter Und ich hab am Anfang erst gedacht, Ferren hätte im Suff ein Haus gekauft^^ War dann natürlich ziemlich schnell klar,das er Träumt Armer Kerl, sag ich nur. lg E:W |