Kapitel 18 Das Vermächtnis
Eden warf einen flüchtigen Blick über das Deck der Windrufer. Das Schiff war im Vergleich zu Tiamat riesig. Zu anderer Zeit war es wohl einmal ein Herzstück der kaiserlichen Flotte gewesen, doch nun segelte es ohne erkennbare Hoheitszeichen. Und nur noch einem Mann hörig. Vance Livsey.
Eden fragte sich, wie es der Mann geschafft hatte, ein imperiales Schlachtschiff unter seine Kontrolle zu bringen. Man würde eine kleine Flotte brauchen, wenn das Schiff voll besetzt
war. Und selbst dann würde vermutliche in Teil davon als Kleinholz enden.
Sie folgte dem Kapitän über das Deck und suchte dabei nach Zachary. Aber wo immer der Junge war, sie konnte ihn nirgendwo finden. Ruhig, sagte sie sich selbst. Vance würde ihm nichts tun, dafür hatte er Gelegenheit gehabt….
Trotzdem wünschte sie sich, noch irgendeine Waffe zu haben. Nur für den Fall.
Vance bedeutete ihr einfach, ihm weiter zu folgen, als er die Tür zur Schiffskajüte aufstieß. Der Raum den sie betrat war groß genug, um einer kleinen Versammlung Platz zu bieten. Für den Augenblick aber, war sie allein mit dem
Kapitän, der scheinbar so plötzlich seine Meinung geändert hatte.
Licht fiel durch eine Reihe von Glasfenstern am anderen Ende des Raums und beleuchtete die Einrichtung. Einen Tisch mit Stühlen, ein Bett in fensternähe und zwei Regale. Eines enthielt ein buntes Sammelsurium aus Gegenständen. Schwerter, Pistolen, Trinkbecher und halbvolle oder volle Flaschen. Das andere, war bis unter die Decke mit Büchern und Schriftrollen vollgestopft. Auch wenn die meisten Werke unachtsam aufgestapelt waren und die Buchrücken vielfach beschädigt wirkten, es sah so aus, als würde Vance viel Zeit mit Lesen verbringen.
„Setzt euch doch.“, meinte er beinahe eine Spur zu freundlich, während er das Bücherregal durchsuchte. Eden zog nachdenklich einen der Stühle vom Tisch. Irgendetwas hatte sich verändert, als der Mann erfahren hatte, das Zachary ein Magier war. Die Frage war nur was… und ob das wirklich reichte sie zu retten.
„Könnt ihr eigentlich lesen?“, wollte Vance wissen.
„Ich habe es gelernt, ja.“
Der Kapitän nickte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet.
„Viel zu viele machen sich nicht die Mühe. Ich anfangs auch nicht, aber mit der Zeit lernt man zu schätzen, was man aus ein paar Seiten Pergament lernen kann.“
„Es ist nicht so, dass ich die Wahl gehabt hätte.“, antwortete Eden kurz angebunden.
„Hmm… Soll ich raten? Ihr seid unfrei ja? Mit dem Jungen auf Reise geschickt?“ Vance hatte scheinbar gefunden, was er gesucht hatte, denn er kehrte mit einem Bündel Papier unter dem einen und einer Flasche samt Gläsern in der anderen zurück.
Eden zuckte mit den Schultern.
„Könnte man so sagen. Auch wenn ich bezweifle, dass einer meiner Herren noch weiß das ich lebe. Oder dass es sie groß kümmert.“
Der Kapitän stellte den Stapel Schriftstücke achtsam auf den Tisch ab,
bevor er sich selber in einen Lehnstuhl fallen ließ. Er zog den Korken aus der Kristallflasche, die er mitgebracht hatte, roch kurz daran und füllte dann eines der Gläser.
„Branntwein, aus Kalenchor. Ziemlich schwer zu bekommen, vor allem weil die Weingärten dort in letzter Zeit häufiger in Flammen stehen. Ein Glas?“
Eden seufzte.
„Was wollt Ihr? ich bin nicht noch am Leben, weil Euch das grade so eingefallen ist.“
„Und wenn dem so wäre, wäre es egal.“ Vance stellte das Glas beiseite und Begann die Schriftrollen, die er mitgebracht hatte zu durchblättern.
Schließlich zog er einen einzigen Bogen brüchiges Pergament unter den anderen hervor und reichte ihn Eden.
„Das ist der Originaltext einer Wandinschrift… die vom alten Volk stammt.“ Eden war nicht abergläubisch, aber selbst ihr lief bei Erwähnung des Namens ein kleiner Schauer über den Rücken. Das Gründervolk. Die erste intelligente Spezies, die den Kontinent beherrschte… und die Welt darüber hinaus. Und die Quelle der Magie. Heute war von ihnen nichts mehr als einige verlassene Tempel und überwucherte Ruinen in den verwilderten Teilen Cantons geblieben. Doch noch immer führte vor allem der Sangius-Orden,
Ausgrabungen in diesen lange toten Städten und Siedlungen durch und förderte Artefakte von einer Kunst und Macht zutage, die alle Zauberer des Kaiserreichs nicht nachzuvollziehen mochten. Nur das alte Volk hatte das Kunststück fertig gebracht, kristalline Magiespeicher zu fertigen, die nicht nach einer oder wenigen Anwendungen zersprangen. Auf dem Schwarzmarkt brachte schon ein einziger dieser Steine ein Vermögen.
Sie zog das Pergament zu sich heran, musste aber feststellen, dass sie die geometrischen Muster nicht lesen konnte. Bestenfalls wurde ihr schwindlig, wenn sie die von einer uralten Felswand
abgepausten Formen zu lange betrachtete.
„Ich weiß nicht, was da steht…“, gab sie schließlich zu.
Vance lachte.
„Ich auch nicht, aber dafür, habe ich die hier.“ Er zog ein zweites Pergament hervor. Dieses Mal erkannte die sie Schriftzeichen. Mit schwarzer Tinte verfasste Runen.
Aber wirklich schlau daraus wurde sie nicht.
„17 und 21, die ferne Küste, abseits des Mauls des Drachens, bot der Fels die Zuflucht. So ließen wir den Morgendämmerung hinter uns, zu retten was zu retten ist.“ Eden sah verwirrt
auf. Wollte sich Vance am Ende nur einen bösartigen Scherz mit ihr erlauben? Er hatte sich auch aus Alvarez Tod einen mehr als düsteren Witz gemacht.
„Was, bei allen Seelen meiner Ahnen, soll das den bedeuten?“
Der Kapitän lächelte.
„Ich habe selber eine Weile gebraucht, um ganz dahinter zu kommen. Und ich musste mehr als einen Gelehrten ähm… überzeugen. Offenbar liebte es das alte Volk, in Rätseln und Metaphern zu sprechen. Die Rede ist von einem Ort, den das alte Volk aufsuchte, als ihre Jahrtausende lange Herrschaft zu bröckeln begann. Eine letzte Zuflucht,
abseits ihrer alten Heimat. Wie die Zwerge traten sie die Flucht über die See an.“
Eden musste dem Redefluss des Kapitäns Einhalt gebieten. Vance schien beinahe überschwänglich und sie musste zugeben, dass es… einen Hauch von Faszination auf sie ausübte.
„Moment, das alte Volk ist tot, toter geht es gar nicht. Das einzige was wir finden sind ab und an Skelette.“
„Deshalb können wir davon ausgehen, dass ihr Plan schief ging. Ich habe noch nicht alles gelöst, aber das Maul des Drachens ist offenbar die Meerenge, zwischen der Landbrücke im Osten und den beiden Hälften des Kontinents, mit
Canton im Norden und Helike und den Kultisten im Süden. Also ein erster Hinweis. Morgendämmerung ist der Name des alten Volkes für Halven, den Kontinent, den Canton beherrscht. Sie verließen Canton also nach Westen. Über die Sonnensee. Die ferne Küste, muss einfach die Nebelklippen beschreiben, von denen in alten Aufzeichnungen die Rede ist. Der zweite Kontinent.“
„Niemand hat die Nebelklippen in beinahe einem halben Jahrhundert auch nur gesehen oder ist zurückgekehrt um davon zu berichten.“
„Wir müssen sie auch gar nicht erreichen.“, erklärte Vance.
„Ihr sprecht von… bot der Fels die
Zuflucht. Fels… eine Insel, oder? Das alte Volk zog sich in seinen letzten Tagen, auf eine Insel vor der Nebelküste zurück.“ Vance nickte breit grinsend.
„Ihr habt ja was im Kopf, Mädchen.“
„Und… was befindet sich dort?“
Der Kapitän lachte.
„Die womöglich größte Sammlung magischer Artefakte die es auf dieser Welt gibt, Eden. Ein Schatz, der den Kaiser arm wirken lassen würde.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch und rollte ein weiteres Pergament aus. Eine Karte Cantons und des umgebenden Meeres. „Ich möchte, dass Ihr Euch das einmal vorstellt. Eine noch nicht von Scharen habgieriger Hexer geplünderte
Stadt des alten Volkes. Eine Zuflucht, auf die sie alles brachten, was sie als Rettens wert erachtete. Ihr Wissen. Ihre Macht und am wichtigsten ihre Schätze. Ich habe das Gebiet, in dem ich suchen muss, bereits weit eingegrenzt. Hier.“ Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte, den er mit roter Farbe umrandet hatte. Eden besah sich das Gebiet. Es wäre nach wie vor eine riesige Fläche Wasser, in dem dieser Mann hoffte, auf Land zu stoßen. Praktisch zufällig…. Es sei denn… es sei denn, er hätte einen Kompass. Jemanden, der ihm sagen konnte, ob irgendwo Magie in der Nähe wäre.
Sie ahnte was er vorhatte. Trotzdem
fragte sie:
„Was hat das mit dem Umstand zu tun, das ich noch lebe?“
„Das ist eigentlich ganz einfach. Euer Junge wird die Insel für mich finden. Es sind drei Monate auf offener See, bis in das Gebiet in dem ich suchen werde. 3 Monate ohne einen Hafen oder die Gelegenheit Vorräte zu bekommen. Aber was mir das einbringen könnte… ich bin seit Jahren dabei, alles für eine solche Expedition zusammenzubekommen. Fast alles, was mir als Kapitänsanteil zusteht, geht seit geraumer Zeit in Vorräte und Ausrüstung für diese Reise. Und jetzt ist es fast so weit, mir fehlt nur noch eines. Ein Zauberer. Jemand, der die Magie der
Insel aufspüren kann. Magier haben ein natürliches Gespür für so etwas. Ich muss nur in die grobe Nähe gelangen….“ Vance klatschte in die Hände. „Der Sangius-Orden kauft sicher gerne alles, was wir finden und der kaiserliche Goldschatz kommt dafür auf. Und was übrig bleibt… nun nicht nur der Orden kauft magische Artefakte.“
Vance lehnte sich auf seinem Platz zurück, scheinbar zufrieden damit, seinen Plan dargelegt zu haben. Er faltete die Hände ineinander und schien darauf zu warten, das Eden irgendetwas sagte.
Sie sah auf die Karten und die Schriftrollen. Geister, dass sie in so
etwas geriet. Dann sah sie wieder zum Käpt’n. Dieser Mann sprach von nichts geringerem, als davon, den größten Schatz aller Zeiten zu finden. Und mehr… eine Stadt des alten Volkes. Völlig unberührt von anderen Menschen oder Gejarn. Und doch klang er nicht wie ein Wahnsinniger. Grausam, ja, das hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Vance würde jeden ohne zu Zögern töten, bei dem er das für nötig hielt. Auch sie. Besonders sie… aber er war nicht wahnsinnig.
Und das hier war eine Gelegenheit, von der sie nie auch nur geträumt hätte.
Die anderen waren alle tot. Es war noch nicht ganz in ihrem Verstand
angekommen und sie blieb seltsam ungerührt darüber. Vielleicht war sie einfach schon abgestumpft. Sie konnte an dieser Tatsache schlicht nichts mehr ändern. Aber sie und Zachary lebten noch. Sie lebten, auf der Flucht vor ihren ehemaligen Meistern und ohne Chance auf Sicherheit. Eine Chance, die sich hier genau vor ihr auftat. Geister, selbst mit einem Bruchteil der Schätze von denen Vance sprach, könnte sie sich für alle Ewigkeit loskaufen. Sie hätte die Mittel, für immer zu verschwinden und für den Rest ihres Lebens sorglos zu sein. Eden kannte das Gefühl von Gier. Wenn man ausgehungert auf Essen wartete, lernte man es sogar schätzen.
Aber das hier war eine andere Spielart davon. Es war ein Ausblick. Auf ein Leben, das wieder eines wäre. Das ganz und gar wieder ihr gehören könnte. Ein Leben, das sie wollte. Ein Lichtschimmer am Horizont, von dem man schon wusste, dass er einen blenden würde, wenn man näher kam.
„Und was habe ich davon?“, fragte Eden schließlich.
„Ihr bringt mich zur Insel und ich lasse Euch dafür leben.“
Nun war es an Eden, sich auf ihrem Platz zurück zu lehnen.
„Nein.“ Sie hatte nur diese eine Gelegenheit, aus dem Ganzen herauszuschlagen was ging.
Vance wäre beinahe von seinem Platz gefallen. Er sah sie verdutzt an. Fast hätte man meinen können, sie hätte ihn ins Gesicht geschlagen.
„Wie nein?!“ Er klang nicht wütend, sondern noch mehr, als hätte ihn jemand vor den Kopf gestoßen. Und das, erinnerte sich Eden, war genau das, was sie vorhatte.
„Ich will einen Anteil, von allem, was wir finden.“, erklärte sie und genoss tatsächlich ein wenig den Ausdruck, noch größeren Entsetzens auf Vances Gesicht. „Und ich will, dass Ihr mir den zusichert. Mit Brief und Siegel und Eurem Ehrenwort.“
„Ihr seid wirklich nicht in der
Situation, irgendetwas zu fordern… Eden. Zwingt mich nicht, Euch daran zu erinnern.“
„Oh, ich glaube schon. Natürlich könntet Ihr mich töten. Aber ob Zachary Euch dann jemals helfen wird, anstatt einfach das Schiff zu Kleinholz zu verarbeiten….“
Vance lachte.
„Ihr wollt, das ich Euch einfach mitschleppe, nur als Bequemlichkeit und Euch dann einen Batzen Gold in die Hand drücke, wenn wir unser Ziel erreichen? Ihr seid vielleicht dreist. Das gefällt mir. Aber wenn ich Euer ehemaliger Herr wäre, ich würde euch an die Haie verfüttern.“
„Spinnen.“, erwiderte Eden trocken.
„Was?“
„Man hat versucht, mich an eine Riesenspinne zu verfüttern. Das ging nicht so gut aus. Für die Spinne.“
„Könnt Ihr denn irgendetwas von Wert beisteuern, außer Eure Fähigkeiten bei der Ungezieferbekämpfung? Jeder in meiner Crew beherrscht das Segeln, wie man Wassertiefen misst, wie man seine Position auf dem Ozean an der Sonne und den entsprechenden Tabellen abliest und wie man einen Kompass bei Sturm benutzt. Könnt Ihr irgendetwas davon?“
Eden schüttelte den Kopf, fügte aber entschlossen hinzu:
„Nein, aber ich kann es lernen….“
„Lernen… Mädchen habt Ihr eine Ahnung von was Ihr da redet?“
„Und ob ich das weiß. Und nebenbei kann ich alle Eure Bücher noch einmal durchgehen. Wenn es Hinweise gibt, die Euch entgangen sind… finde ich die. Mit dem richtigen Anreiz natürlich.“ Sie stand auf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. „Also, was sagt Ihr?“