„Hey!“
Ohne anzuklopfen steckte ich meinen Kopf in Russell McCains Büro und der schaute kurz auf.
„Bist du immer noch da? Ich hab dir doch schon von einer Stunde gesagt, dass du gehen sollst!“ mahnte er.
Jetzt zog ich es doch lieber vor, einzutreten. Ich setzte mich auf einen der beiden Stühle, die vor Russells Büro standen. Ich wollte nicht zwischen Tür und Angel mit ihm reden. Das machte sicherlich keinen guten Eindruck.
„Was wird es dieses Mal? Ein privates Gespräch?“ fragte er.
„Es gibt einige Dinge, die ich klären muss, Russ!“, begann ich.
„Natürlich!“ nickte er zustimmend. „Ist mit Lilly alles in Ordnung?“ wollte er wissen.
„Es geht ihr gut. Und sie ist auch nicht das Problem. Emma hat die Scheidung eingereicht.“
Aus Russells Mund ertönte ein leiser Pfiff.
„Meine Güte, sie macht tatsächlich ernst, hm?“
„Es gibt schlimmeres, glaub mir. Ich brauch nur ein paar Tage, um die Sache mit dem Haus zu regeln.“
Wieder nickte Russell. Zwischen uns hatte sich in den letzten fünf Jahren eine echte Freundschaft entwickelt. Obwohl
er mein Vorgesetzter war, behandelte er mich nicht anders als die anderen. Und das wollte ich auch gar nicht. Ich bekam genauso meine Rügen, wenn ich Mist baute. Manchmal kam es mir so vor, in Russell jemanden gefunden zu haben, dem man wirklich vertrauen konnte. In der heutigen Gesellschaft war das eher schwierig.
Im Moment spürte ich das ganz deutlich bei Emma. Meiner Frau. Oder besser gesagt Ex-Frau. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mich mit fünfunddreißig Jahren scheiden lassen musste. Einzig allein meine Tochter Lilly machte all das erträglich. Wenigstens sie sah ich, wann immer ich wollte.
Seit einem halben Jahre hauste ich in einem Appartement, dass ich aber größtenteils zum schlafen nutzte. Ich brachte es sogar einige Wochen fertig, mich in meinem Büro einzunisten, doch Russell kam irgendwann schnell dahinter. Er bot mir an, bei ihm einzuziehen, aber ich lehnte ab. Vielleicht würde ich das irgendwann einmal überdenken.
In meinem Kopf breiteten sich derzeit Gedanken aus, sodass ich froh war, meine gesamte Energie in die Arbeit zu stecken.
„Nimm dir den Rest der Woche frei, okay? Alles andere regele ich schon. Pass ein bisschen auf dich auf. Ich
weiß, dass du nach außen hin immer etwas abgebrüht wirkst. Also übertreib es nicht, verstanden?“
„Manchmal klingst du wirklich wie mein Vater, alter Mann!“
Ohne seine Antwort abzuwarten, stand ich einfach auf. Ich schaute auf die Uhr an der Wand.
„Es wird auch für dich Zeit. Was meinst du, wird deine Frau denken, wenn du noch um vier Uhr in der Früh im Büro hockst?“
„Sie versteht das!“ sagte er nur und wandte sich dann wieder seinem Computer zu. Er redete nicht gern darüber, aber auch in seiner Ehe lief es bei weitem nicht glatt. Aber bei wem war
das schon so?
Ich verabschiedete mich und holte mir auf dem Weg nach draußen noch einen Kaffee am Automaten.
„Nick Hunter, der Held der Mordkommission. Meinst du, dass er mich ein Stückchen mitnehmen kann?“
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah in die strahlenden Augen von Holly. Ihr Lächeln war so herzlich, dass es jeden ansteckte.
„Holly Miller, die anerkannte Laborratte. Welch ein Vergnügen! Willst du auch einen Kaffee?“
„Ich verstehe immer noch nicht, wie dir diese Brühe schmecken kann. Das Zeug ist widerlich, Nick,
ehrlich!“
Ich nippte kurz an meinem Becher.
„Also ich finde ihn gar nicht so schlecht!“ sagte ich achselzuckend.
„Wie dem auch sei. Du willst also mitfahren? Dann komm.“
Holly klatschte in die Hände und kam einen Schritt auf mich zu, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken.
„Ich hol meine Sachen. Lauf nicht weg!“
Und schon war sie verschwunden. Manchmal erinnerte sie mich an Lilly. Obwohl Holly erwachsen war, benahm sie sich manchmal wie ein Teenager. Dass sie nur zwei Jahre jünger war als ich, sah man ihr nicht unbedingt an.
Innerlich musste ich lachen, denn Holly
war ein Segen. Zu ihr konnte ich immer gehen, wenn ich ein Anliegen hatte. Seien es dringende Informationen, die eigentlich keiner wissen sollte oder Akten, die eigentlich noch nicht freigegeben waren.
Das Handy in meiner Hose begann zu vibrieren. Eigentlich wollte ich es vorhin noch ausschalten, weil mich in den nächsten Tagen wirklich niemand erreichen sollte. Ich brauchte diese Zeit für mich.
Natürlich blieb mir keine andere Wahl, als den Anruf anzunehmen. Ich schaute erst auf das Display, vielleicht kam mir die Nummer bekannt vor. Und tatsächlich, es war meine Schwester.
„Cathy, Liebes, was gibt es denn?“ meldete ich mich.
„... sholen...itte...Nick...schne...!“ schrie sie, aber ich verstand nicht wirklich, was sie wollte.
„Cathy, du bist sicherlich in einem Funkloch.“
„...usst... mir...fen!“
Scheinbar war sie auf der Autobahn oder in irgendeinem Tunnel. Der Empfang war schrecklich.
„Pass auf, ruf mich doch einfach in einer Stunde nochmal an. Bis dann, okay?“
Und gerade als ich auflegen wollte, verstand ich jedes ihrer Worte klar und
deutlich. Völlig hysterisch schrie sie:
„Nein, Nick, du musst mir helfen, schnell!“
Ab diesem Moment waren meine Sinne geschärft. Cathy brauchte meine Hilfe.