Vor ein paar Monaten auf ’ner Party in Berlin Friedrichshain – auf der fortwährenden Suche nach dem allwissenden Bierkasten grub ich mir gerade maulwurfsgleich einen Weg durch die engstehende Meute. Diese scheiß elektronische Musik ging mir allmählich wirklich auf den Zeiger, also machte ich einen Schlenker zum Zimmer, in dem die Anlage stand.
»Jan«, sagte ich, »mach doch mal was anderes an, ja? Das klingt ja schlimmer als ’ne hängende Schallplatte.«
Jan – das war der, der die Party schmiss – zuckte mit den Schultern. »Wat willste denn? Läuft doch gar keine
Musik.«
»Was ist das dann bitte für ein unerträgliches Geplärre?«
»Ach das«, sagte Jan und legte eine dramatische Pause ein, indem er einen Schluck aus der Pulle nahm. »Das ist der Rauchmelder. Der hört aber bald auf. Batterien sind so gut wie alle.«
»Na großes Kino. Hätte es dann nicht Sinn gemacht, das Ding abzuschalten, bevor ihr hier die Nebelmaschine angeschmissen habt?«
»Wat für ’ne Nebelmaschine jetz’?«
»Na guck dich doch mal um«, erklärte ich mit rudernden Armbewegungen. »Man kann ja die eigene Hand vor Augen nicht sehen.«
»Nee«, sagte Jan und grinste. »Dat is’ nur, weil wieder alle in der Bude rauchen.«
»Das ist alles Zigarettenqualm?«, staunte ich. »Macht das nicht gelbe Tapeten?«
»Du machst gelbe Tapeten«, sagte Jan und meinte damit, dass ihn gelbe Tapeten nicht unbedingt auch nur peripher tangierten.
»Weiß schon«, sagte ich und winkte ab. »Ist ja nicht jeder so’n Spießer wie ich, ne? Ich geh mir mal ’ne Flasche holen.« Damit war ich wieder am Anfang, nur dass ich jetzt wusste, dass es hier weder Musik, noch ’ne Nebelmaschine gab. Und bis eben hatte
ich das alles noch für eine ziemlich aufwendige Party gehalten.
Kaum bahnte ich mir unter unmenschlichen Anstrengungen wieder meinen Weg durch die Bude – der Qualm hatte inzwischen die Konsistenz von wirklich gutem Gouda angenommen – flog ich auf die Schnauze.
»Scheiße!«, fluchte ich. »Wer hat denn die Stufe hier hingestellt?« Ich kroch näher heran und erkannte, dass ich nicht über eine Stufe, sondern über ein Bein gestolpert war. Ein Bein, mitten im Gang. Dreck, hier lag doch jetzt keine Leiche? Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir: »Partygast in der Boxhagener Straße totgeraucht – hundertzwanzig
Kettenraucher von Polizei in Gewahrsam genommen«
»Thomas?«, fragte die Leiche mitten in meinen Druckerpressengedanken hinein. »bist du das?«
»Matze?«, fragte ich zurück. »Das ist ja ‘n Ding. Und da sag noch einer, die Welt sei kein Dorf.«
»Gut siehste aus«, sagte Matze, mit dem ich früher zusammen zur Schule gegangen war.
»Du ... äh, eher nicht so«, gab ich ehrlich zu. Ich wollte nicht fies sein, aber ich hatte meinen alten Kumpel Matze doch irgendwie anders in Erinnerung: Sauber gescheitelt, und
sobald der Fassonschnitt den Aufstand probte, ging es ab zum Friseur. Und jetzt? Nun saß er hier, auf seinem Kopf wucherte ein Etwas, das eher wie ein exzentrisch frisierter Orang-Utan als wie ein Haarschnitt aussah, und direkt auf diesem Etwas thronte eine Baskenmütze wie ein französisches Hundehäufchen aus Schurwolle. Das, was früher mal ein hübsches Gesicht gewesen war, sah nun aus wie ein Staublappen mit Nase, und die Augenringe mussten eine eigene Postleitzahl haben.
»Ja, ich weiß«, sagte Matze und winkte lässig ab. »Ist bisschen stressig grade. Hab da viel am Laufen. Mal hier, mal da. Großes Projekt, kann ich aber
noch nicht allzu viel drüber erzählen. Wird aber ’n großes Ding.«
»Ach du bist arbeitslos?«, fasste ich zusammen.
»Nee, so würde ich das nicht sagen. Ich bin ja eher so Lebenskünstler.«
»Lebenskünstler?«, schimpfte ich. »Du meinst so was, das wir früher faule Sau genannt hätten?«
»Ach komm, du hast doch keine Ahnung«, motzte Matze, und zumindest da hatte er recht. Als Kind hatte ich viel gemalt. Alles Mögliche halt: Totenschädel auf Friseurstühlen, ausgemergelte Körper in dunklen Verliesen, menschenfressende Aliens – was man halt so malte. Meine Mutter
fand das unbedenklich, kam dann und wann in mein Zimmer, schaute sich an, was ich so kritzelte, und dann staunte sie, als müsste sie mal ganz tief Luft holen, weil es erst nächste Woche wieder Frischluft geben würde. »Du wirst doch mal Künstler«, sagte sie dann immer zu mir, oder »Der Junge wird mal Künstler«, wenn gerade Verwandte da waren. Das war klar, ich würde mal Künstler werden. Deutschland war ja immer schon das Land der Dichter und Denker gewesen, ein Land voller Künstler eben. Als Gerhard Schröder Deutschlands Künstler im Jahr 2003 mit der Agenda 2010 unter einen Hut zu bringen versuchte, beschloss ich,
Wirtschaftsinformatik zu studieren und meine Künstlerlaufbahn an den Nagel zu hängen.
»Heißt also, du lebst jetzt von der Stütze, ja?«, fragte ich mal so ganz direkt nach. Ich freute mich ja immer, wenn ich als ehrbarer Steuerzahler jenen, die sich nicht am System beteiligen wollten, und denen ich mit meiner Blödheit was Gutes tat, mal persönlich begegnete.
»Von wegen Stütze. Ich brauch gar kein Geld«, meinte Matze. »Weißte, Thomas, ich hab vier Semester Volkswirtschaftslehre studiert. Geld und das ganze Zeug, das ist alles nur ’ne riesige Illusion. Ein Druckmittel. Damit
wird das Volk von denen da oben schön dauerhaft an die Kandare genommen.« Ah ja, Volkswirtschaftslehre, dachte ich, und dann auch noch ganze vier Semester, bevor er wahrscheinlich auch die Illusion des Studiums erkannt hatte. Ich hatte mal einen Dozenten an der Hochschule, der war auch Volkswirt. Besserte sich sein Hartz IV mit der Professur auf, und einen an der Kandare hatte der auch. So langsam erschloss sich mir jener Lebensweg, der Matze dazu gebracht hatte, sich in einen Fetzen zu kleiden, der aussah wie ein übergroßer Jutebeutel, sich dann mit ’ner Flasche Billigbier in den verräucherten Flur dieser Wohnung zu packen und mir von
den Bodendielen aus zuzulallen, Geld sei nur ’ne riesige Illusion.
»Und das Bier, das du in der Hand hältst? Das ist auch ’ne Illusion? Oder wer hat das bezahlt?«, ätzte ich.
»Das stand hier so rum«, murmelte Matze schon deutlich leiser. Ja, eindeutig Lebenskünstler, der Mann. Seine Eltern, die sich bis 1989 im Chemiefaser-Kombinat »Friedrich Engels« abgerackert hatten, waren bestimmt stolz auf ihren Sohn, den Fast-Volkswirt mit der Baskenmütze. »Außerdem ist das jetzt eh nur so ’ne Übergangsphase«, redete Matze nun wieder lauter weiter. »Demnächst machen ein paar Leute und ich ein ganz
eigenes Wohnprojekt auf. Wir legen zusammen für ’ne alte, runtergewirtschaftete Villa mit Riesengrundstück in Brandenburg. Da wohnen wir dann, so mit kompletter Selbstversorgung. Einer backt Brot, ein anderer kümmert sich um den Obstgarten, und so weiter. Das volle Programm, völlig ohne Geld und ohne Sozialneid. Wirst sehen, das wird noch ganz groß.«
»Glaub ich glatt«, log ich. »Und einmal die Woche tauscht ihr dann mit Hilfe weißer Brieftauben Keksrezepte mit Kim Jong-un aus, oder was? Matze ey, Kommunismus hat noch nie funktioniert. Auch nicht im Kleinen.
Fängt doch schon damit an, dass ihr gar nicht alles herstellen könnt. Ich meine, wer von euch stellt denn die 90-Zoll-Fernseher mit 400 Hertz und gekrümmtem LED-Panel her? Soweit ich mich erinnere, hast du im Werkunterricht in der Schule nicht mal ein Gewürzregal zusammengenagelt bekommen.«
»Fernseher brauchen wir eh nicht. Auch nur so ’ne imperialistische Propagandascheiße.«
So einfach gab ich nicht auf. »Gut, dann was Einfacheres. Nehmen wir Zahnpasta. Woraus wollt ihr die herstellen? Aus gequetschten Raupen?«
»Immer noch besser als das
Fluorid-verseuchte Zeug aus dem Supermarkt«, giftete Matze und trank einen Schluck seines ihm nicht gehörenden, vermutlich jede Menge Vitamin C enthaltenden Bieres aus ökologisch nachhaltigem Anbau.
»Was hast du jetzt wieder gegen Fluorid? Das hält die Zähne kariesfrei«, sagte ich.
Matze lachte nur. Ein künstliches Ha-ha-ha-Lachen, wie kleine Backsteine an einem unsichtbaren Bindfaden aus seinem mit kariesbefallenen Zähnen gespickten Mund herausgezogen. »Kariesfrei! Du armes Opfer! Thooomas, Fluorid bringt dich um! Das reinste Gift, ein einziges Komplott der
Pharmaindustrie. Das ist ’ne groß angelegte Verschwörung. Ein Genozid gigantischen Ausmaßes, alles unter Billigung dieser nicht legitimierten Regierung. Warte, ich zeig dir dazu mal ’nen Artikel, den ich verfasst hab.« Matze hob sein Becken, um besser in die Tasche seiner offenbar eingelaufenen Röhrenjeans des sozialistischen Labels »Levi’s« zu kommen, zog sein ... iPhone hervor und wischte mit seinem Finger über den Bildschirm.
»Du Matze, lass mal stecken«, sagte ich und beendete damit den Spaß. »Ich geh mir lieber ’n Bier holen. Wünsch dir viel Erfolg mit deinen ... Projekten, alter Lebenskünstler.«
Erschöpft von so viel Fanatismus wankte ich weiter durch den Qualm und erreichte irgendwann tatsächlich die Küche. Am offenen Kühlschrank stand gerade jemand, den ich nicht kannte. »Soll ich dir ’n Bier rausgeben?«, fragte er freundlich.
Ich überlegte angestrengt. »Nee du, mach mir mal gleich ’n großes Glas mit Wodka voll.«
Der Typ guckte mich mit großen Augen an. »Bist wohl fertig mit den Nerven, was?«
»Ach was, ich kann das ab, «sagte ich. »Ich bin doch Promillekünstler.«
Neulich dann war ich im Supermarkt. Ich hatte das Band an der Kasse gerade vollgepackt, wühlte schon in meinem Portmonee herum, dann erst erkannte ich den Kassierer.
»Matze?«, fragte ich. »Das ist ja ‘n Ding. Und da sag noch einer, die Welt sei kein Dorf.«
Mein guter alter Kumpel Matze, Nachwuchsrevolutionär vom Dienst, saß im weißen Kittel vor mir. Der exzentrische Affe wohnte offensichtlich nicht mehr auf seinem Kopf, und die Baskenmütze hatte das Vieh gleich mitgenommen. Die Augenringe waren immer noch so groß wie Stadtstaaten, aber ansonsten waren Haare und Gesicht
so, wie ich Matze damals gekannt hatte. Und nun saß er hier vor mir, guckte mich an, als würde er mich nicht kennen und mich trotzdem am liebsten auffressen wollen.
»Herr Schmidt-Kiesewetter«, las ich das Schildchen auf seinem Kittel vor. »Aaaa-zuuu-biii.« Na nu? Da wollten Mama und Papa wohl das Projekt Raupenzahnpasta nicht finanzieren. Matze guckte mich immer noch an. In seinen Augen loderten Flammen, wenn auch nicht die der Revolution. »Da sitzt also der Matze hier, mein alter Kumpel Matze«, machte ich weiter. »Wie viel muss ich denn jetzt zahlen für diese ganze Imperialistenscheiße?«
»Macht dann bitte achtunddreißig fünfzig«, sagte Matze im Tonfall eines Roboters.
»Die Ironie bemerkste aber schon, oder?«, ärgerte ich ihn weiter. Ich konnte es einfach nicht lassen, und sei es nur wegen der Baskenmütze von neulich. »Sitzt hier und liest Illusionen von deiner Digitalanzeige ab, während du Pharmagift über den Scanner ziehst. Aber wirst es schon wissen, als Lebenskünstler und so.«
»ACHTUNDDREISSIG FÜNFZIG BITTE!!!«