Der kühle Wind wehte ihr ins Gesicht, während sie mit schnellen Schritten die Bakerstreet hinunterlief. Immer wieder kam sie vom Fußweg ab, torkelte leicht auf die Straße und kam dann wieder zur Besinnung. Sie konnte von Glück reden, dass sich keine Menschenseele mehr um diese Uhrzeit draußen aufhielt. Auf keinen Fall wollte sie so gesehen werden.
Das Blut auf ihrem hellblauen Kleid war nicht ihres. Es gehörte einem Menschen, den sie einst so verachtete. Und nun war er tot und sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie musste sich eingestehen,
dass sie in den letzten Jahren kaum geweint hatte. Doch jetzt hatte sie das Gefühl, all das nachholen zu müssen.
Hastig suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Handy. Als erstes bekam sie etwas zu fassen, dass sich ganz und gar nicht nach einem Telefon anfühlte. Es war ihr Namensschild, dass sie tagtäglich an ihrer Bluse trug.
Cathy Briggs.
Schnell verstaute sie es wieder. Der zweite Griff war erfolgreicher und sie zog das Telefon heraus.
Ihr Schritt verlangsamte sich nicht, ganz im Gegenteil. Sie wurde angetrieben von ihrer Angst.
Die Displayanzeige verschwamm vor
ihren Augen, also blinzelte sie ein paar Mal, um etwas zu erkennen.
2:55 Uhr.
Vor genau zwölf Stunden hatte er begonnen. Ein Albtraum, den sie so schnell nicht wieder vergessen sollte. Vielleicht kam sie darüber hinweg, aber es war noch nicht vorbei und das verursachte bei ihr eine Gänsehaut, die sich über den gesamten Körper zog. Cathys Magen verkrampfte sich, während sie an den Mann dachte, der ihr all das angetan hatte. Nie wieder würde sie an diesen Ort zurück kehren. Dann zog sie es lieber vor, zu sterben.
Das Handy klingelte. Die Lautstärke des Klingeltons ließ sie so sehr
zusammenschrecken, dass sie das Handy beinahe fallen ließ.
Cathys Hand zitterte und es dauerte weitere Sekunden, ehe sie den grünen Hörer endlich drückte.
„Ja?“ sagte sie leise.
Möglicherweise war genau das ihr Fehler gewesen. Als sie vor wenigen Minuten die Brücke überquerte, hätte sie dieses Ding einfach im Fluss versenken sollen. Somit wären die Probleme vielleicht gleich mit untergegangen. Aber so viel Verstand besaß sie momentan nicht.
„Wo bist du?“
Er war es. Das erkannte Cathy sofort. In seiner Stimme lag etwas Bestimmendes. Am Anfang schien er ganz freundlich zu
sein, doch dann zeigte er sein wahres Gesicht und das wollte sie auf keinen Fall wieder erleben.
„Ich bin auf dem Weg zu ihr!“ sagte sie ganz außer Atem, denn mittlerweile rannte sie.
Stille am anderen Ende. Hatte sie ihn verärgert? War er wütend? Sie hörte ihn schwer atmen.
„Was habe ich dir gesagt?“ fragte er.
Wenn sie jetzt einfach auflegte, wusste sie nicht, was passieren würde. Sie wollte nur noch zu Anna. Sie warnen. Nicht das ihr das gleiche Schicksal widerfuhr. Das verkraftete sie nicht. Solange er am Telefon war, war sie sich sicher, dass Anna in Sicherheit war.
Oder hoffte sie es einfach nur?
Sie musste kurz aufhören zu rennen, denn ihre Lungen drohten zu implodieren.
„Was habe ich dir gesagt?“ wiederholte er, aber diesmal aggressiver.
„Ich soll das Haus nicht verlassen!“ sagte Cathy.
Sie beugte sich leicht nach vorn und versuchte, so viel Sauerstoff wie nur möglich aufzunehmen, damit sie sich wieder beruhigen konnte.
Plötzlich hielt sie inne. Denn ihre Augen waren auf das Haus am Ende der Straße gerichtet. Es waren nur noch ein paar Meter, die sie von ihrer Schwester trennten. Langsam begann sie wieder
vorwärts zu laufen.
„Kehr um, Cathy!“
Cathy schüttelte den Kopf, aber das konnte er ja nicht sehen.
„Ich möchte, dass du zurück kommst, Cathy. Wenn du das tust, dann werde ich deinen kleinen Ausrutscher vergessen. Wir machen einfach da weiter, wo wir aufgehört haben, ja?“
Doch Cathy hörte schon gar nicht mehr zu und legte einfach auf.
Sie war angekommen an dem Haus, dass nun in Dunkelheit lag. Mit Sicherheit lag Anna schon im Bett, aber Cathy wusste, wo sie ihren Haustürschlüssel aufbewahrte.
Sie stieg die Treppen nach oben zur
Veranda und schaute unter dem Blumentopf nach. Doch da war nichts. Sie sank auf die Knie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Nein, nein, nein, er muss hier sein!“ schluchzte sie.
Und dann hörte sie es hinter sich. Ein leises Klimpern, dass immer lauter wurde.
„Anna hat diesen Winter ein neues Versteck für den Zweitschlüssel ausgewählt. Dafür hat sie extra über der Tür ein Brett angebracht. Und ich muss sagen, es war eine hervorragende Idee.“
Langsam erhob sich Cathy und drehte sich um.
Das war unmöglich. Wie konnte er sie so
schnell finden?
Er grinste sie an. Jetzt war alles zu spät. Dass wusste er und das wusste auch Cathy.
Ihr Albtraum würde von vorn beginnen, doch darüber musste sie sich erstmal keine Gedanken mehr machen, denn der Schlag, der sie am Kopf traf, brachte ihr eine Dunkelheit, in der sie gern für immer verschwunden wäre.