1. Rotwalden. 775 ÄIII n.Br. – Fürstentum Ledria Die Gedanken um den Brief plagten Eva noch, als sie längst wieder in der Kutsche saß, wo ihr Kopf fieberhaft Ränke schmiedete, um dem Stummen jenen Gegenstand wieder abzujagen. Von einem Moment auf den anderen, hatte sie begonnen den Fremden zu hassen, für sein anmaßendes Verhalten, für die Dreistigkeit, mit der er auf seinem Eid beruhte, und für ihr Unwissen darüber, wer er eigentlich war. Dennoch beseelte sie stets das ungute Gefühl, ihn
irgendwoher zu kennen, obgleich es sich dabei allenfalls um eine flüchtige Bekanntschaft handeln konnte, da sie nicht einmal vermochte, ihm einen richtigen Namen zuzuordnen. Doch hatte sie wenig Bedarf, die Untiefen ihrer Vergangenheit aufzureißen, nur um sich auf die halsbrecherische Suche nach einer Person zu begeben, die womöglich keinerlei Bedeutung hatte. Sie schnaubte. Alles, was um sie herum geschah, erschien ihr seltsam irreal. Gerüchte um Aufstände, gehängte Soldaten, ein königlicher Gardist, der Brief, die Immortalisten. Jäh musste sie sich fragen, was sie eigentlich erwartet hatte, und stolperte
dabei vor eine Mauer der Ratlosigkeit. Renard Schwarzschild? Er mochte der Grund ihrer Reise gewesen sein, aber sie konnte nicht behaupten, ihn wirklich hier erwartet zu haben. Es hatte sich alles stets nur um die Möglichkeit gedreht, dass sie hier entweder ihren Peiniger oder zumindest Antworten finden könnte. Sie hatte nie geglaubt, dass Renard sich in irgendeinem Loch verkriechen würde, eher hatte sie erwartet, ihn an der Spitze eines Aufstands anzutreffen, einer Revolte gegen die Revolution. Eine derartige Revolte hatte sie wohl angetroffen, doch sollten nun die Immortalisten dahinter stecken. Sie war
simpel nicht fähig, das zu glauben, ebenso wie die Immortalisten nicht fähig waren, offen gegen die Republik zu rebellieren, zumal sie sich nicht vorstellen konnte, aus welchem Grund, denn im Gegensatz zu König Aldrin tolerierte die Republik jedwede Religion. Selbst die Thanatoiker… Soweit sie wusste, war Gerechtigkeit das oberste Ideal der Immortalisten, dem sie so sehr verschrieben waren, dass das Königreich ihnen letztlich sogar sein Rechtssystem übertragen hatte. Freilich hatte die Glaubensgemeinschaft diesen Einfluss nach der Revolution verloren, aber sie konnte schwerlich annehmen, dass Rache der alleinige Grund für ein
derart aussichtsloses Unterfangen war. Das solltest du besser wissen. Sie zuckte mit den Schultern. Vermutlich würde sie vorerst nicht dahinter kommen, zumindest solange sie nicht diesen Brief hatte, doch besaß sie derzeit keine Gelegenheit, ihn dem Stummen zu entwenden. So war sie verdammt, zu warten, bis sie das Anwesen der Schwarzschilds und Senator Iverlyn erreichten. Sie beugte sie vor, öffnete das Fach unter dem Sitz und langte nach dem Wein, um ihre Gedanken ein wenig zur Ruhe zu betten. Gegen Abend schließlich, als die untergehende Sonne das Blau des Himmels in ein tiefes Blutrot verwandelt
hatte, hielten sie an einer weiteren Straßensperre, was Eva dazu verleitete, die Kutsche zu verlassen. Als sie den Kopf hob, erkannte sie einen Hügel, der sich aus den Lavendelfeldern und Orangenhainen erhob. Darauf thronte das Schwarzschildanwesen mit seinen sandsteinernen Fassaden und den dunklen Dächern, die spitz in den Abendhimmel ragten. Von der Pracht der Felder und Haine war jedoch wenig geblieben, schien doch eine ganze Garnison in behelfsmäßigen Lagern um das Anwesen herum zu kampieren. Angst… Während sie den Soldaten entgegentraten, fragte sie sich, ob die
Immortalisten wirklich eine derart große Bedrohung darstellen konnten, dass Iverlyn eine halbe Armee um sich versammelte, um sich zu schützen. Die Soldaten schienen ihre Zweifel an der Bedrohlichkeit der Fanatiker zu teilen, denn nach der namenlosen Furcht, die sie noch bei den drei Memmen an der Straße nach Travelle gesehen hatte, suchte man hier lange. Auch trafen sie auf keinerlei Widerstand, als es darum ging zum Anwesen durchgelassen zu werden. Ob ihrer Titel ließ der Unteroffizier an der Straßenspeere nach seinem Befehlshaber rufen, der über mehre Ecken mit den Olyrs verwandt war, sodass sich auch Locres noch als
nützlich erweisen konnte. Als sie schließlich unter dem sandsteinernen Torbogen des Eingangs hindurchwanderten konnte sie kaum glauben, dass Renard Schwarzschild hier aufgewachsen sein sollte. Überall sprossen Rosen, die Gärten waren wild und saftig grün, aber nicht verwuchert, alles wirkte frei, luftig, sonnig und warm, kein Ort, an dem Dämonen geformt wurden. Und doch… Jäh geriet sie darüber ins Grübeln, ob Renard Schwarzschild zu einem Monster herangewachsen oder schon als solches geboren worden war. Sie wusste es nicht und würde es vermutlich auch nie
erfahren, denn die meisten Schwarzschilds waren tot. Tatsächlich konnte sie nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, ob er noch lebte. Aber das war auch nicht mehr von Bedeutung, redete sie sich ein, während ihre Füße sie über die glasierten Kacheln zwischen mehreren Beeten hindurch trugen. Vor dem Haupthaus hielten zwei Pikeniere in den Farben des Republikheers Wache, die sie jedoch nur ehrerbietend grüßten. Ein ebenfalls blauweiß gekleideter Herold empfing sie mit einer tiefen Verbeugung. „Ich heiße Euch im Namen von Senator Iverlyn in Ledria willkommen. Der Senator bittet, gewisse
Unannehmlichkeiten zu entschuldigen, es sind schwere Zeiten.“ „Schwere Zeiten“, wiederholte sie nicht ohne Hohn, „Ich möchte den Senator sprechen.“ „Der Senator gibt heute Abend ein kleines Bankett, es wäre ihm eine Ehre, Euch dort begrüßen zu dürfen“, er musterte sie kurz, „Des Weiteren gibt er Euch und Euren Begleitern gerne Gelegenheit, Euch zuvor noch ein wenig auszuruhen und noch ein paar Tage hier zu verweilen, sofern es Euch beliebt.“ Sehe ich so heruntergekommen aus?, fragte sie sich und bedachte den Herold mit einem spöttischen Blick. Dann jedoch folgte sie ihm in das Anwesen,
wobei Petron und Locres sie flankierten. Mit einem Blick über die Schulter stellte sie fest, dass von ihren übrigen Gefährten kaum noch jemand bei ihnen war. Lediglich Herr Apfel watschelte ihnen über die schwarzen Mäander der Eingangshalle hinterher. Ihretwegen konnten sich die Nichtsnutze in alle Himmelsrichtungen verstreuen, nur würde sie früher oder später herausfinden müssen, wo sich der Stumme einquartiert hatte. Eine bessere Gelegenheit als hier würde sich ihr kaum noch einmal bieten, um den Brief zu erlangen, doch an diesem Abend hatte das Bankett des Senators Vorrang. Die Schwarzschilds waren eine der
einflussreichsten Familien des Königreichs gewesen und hatten unsägliche Reichtümer besessen. Das Anwesen war riesig und nach einigen Minuten Fußweg fürchtete sie bereits, dass sie niemals wieder von ihrem Quartier zurück zum Eingang finden würde. Zudem war ihr, als würde ein Schatten über den Hallen liegen, so breit die Gänge auch waren, so hoch sich die Gewölbe auch über ihren Köpfen bogen, das Gemäuer bedrückte sie, schien sie von innen heraus zu hassen. Zwar hatte man die Banner entfernt, das Smaragdgrün des alten Hauses verbannt, doch fand man das mit Lorbeeren bekränzte Schild, welches das Wappen
ihrer Erzfeinde zierte, noch an etlichen Stellen. Es lauerte in den Gravuren, starrte aus den Ornamenten, prangte auf den Kacheln. Man hatte sich nicht viel Mühe gegeben, das Andenken des Königreichs aus Ledria zu vertreiben, und einmal mehr konnte sie nur daran zweifeln, dass die Revolution hier je angekommen war. Endlich hielt der Herold in einem Gang inne, den sie soeben betreten hatten und breitete die Arme in beide Richtungen aus. „Die Zimmer in diesem Flügel sind alle frei. Wählt nach Belieben“, sprach er. „Ich schätze, wir nehmen die nächsten drei“, lautete Petrons hastige Antwort,
der sie kaum widersprechen konnte. Der Herold nickte, zog einen schweren Schlüsselbund hervor, verbrachte eine gute Minute damit, nach den Richtigen zu kramen und schaffte es schließlich, ihre Gemächer zu öffnen. „Ich hoffe, sie sind zu Eurer Zufriedenheit. Wenn Ihr etwas braucht, findet Ihr mich bei den Bedienstetengemächern nahe dem Innenhof. Ihr könnt auch läuten, allerdings ist für diesen Flügel keine Dienerschaft bereitgestellt. Der Senator bittet, dies zu entschuldigen. Üblicherweise residiert er in Travelle.“ „Es sei ihm verziehen“, murrte Eva mit der vorherrschenden Intention, den Mann
endlich loszuwerden. „Das ist erfreulich“, ein Lächeln bog sich über sein Gesicht, bevor er unter einer Verbeugung davonzog. „Schmieriger Hofscherge“, zischte sie, nachdem er davon gestapft war, „Hat das Buckeln vermutlich noch unter Aldrin gelernt.“ Petron zuckte mit den Schultern, schenkte ihr dabei jedoch einen überaus missbilligenden Blick. „Ich hole Euch etwas aus Eurer Garderobe. Ihr werdet darin“, er deutete auf ihr Reisegewand, „nicht zum Bankett gehen können.“ „Den Sari“, merkte sie an, „Den
lachsfarbenen“ „Wie ihr wollt“, grummelte er, wobei er sich bereits auf den Weg machte. Locres starrte ihm hinterher. „Wir sollten vorsichtig sein“, bemerkte er. „Sorgt Euch nicht“, sie gab sich weiterhin keine Mühe, ihren Hohn zu unterdrücken, „Wir mögen hier in Ledria sein, doch Senator Iverlyn hat die Revolution von Anfang an unterstützt, draußen lagert eine halbe Armee unserer getreuen Soldaten. Wir sind hier sicher.“ „Die Verbündeten draußen schützen Euch nicht vor den Feinden hier drinnen.“ „Feinde? Hier?“, sie hob eine
Augenbraue und fragte sich sogleich, was dieser Narr eigentlich wollte oder ob er wahrhaft überall Gespenster sah. „Unsere Reisegefährten? Warum ist keiner von denen hier, obwohl der Senator uns allen Unterkunft anbot?“ Sie sah sich um, tatsächlich war mittlerweile sogar Herr Apfel verschwunden. In der Tat erschien es ihr nun, da Locres es erwähnte merkwürdig, dass sie allesamt verschwunden waren. Dennoch würde nur ein Idiot oder ein namenloser Feigling darin Anzeichen für ein Komplott sehen. „Na und?“, sie zuckte mit den Schultern. „Außerdem habe ich einen Mann gesehen, als wir…über den Innenhof
gegangen sind, er war hinter dem Säulengang.“ Sie stöberte lustlos in ihren Erinnerungen, wobei sie jedoch feststellen musste, dass sie auf ihrem Weg durch das Anwesen zumeist nur auf übriggelassene Schwarzschild-Wappen geachtet hatte. „Einen Mann?“, sie hob eine Augenbraue. „Er trug das Wappen der Valmonts.“ „Ihr habt Euch geirrt“, winkte sie ab. Das Haus Valmont hatte seit jeher zu den treusten Vasallen des Königs gehört, tatsächlich teilte es sich sogar eine Blutlinie mit dem Haus Lemorgant. Kein Mensch konnte so dämlich sein, sich
nach der Revolution, und mochte diese auch fast eine Dekade zurückliegen, mit ihrem Wappen auf Kalatar blicken zu lassen. „Ich fürchte nicht…“, Locres‘ Stimme klang plötzlich noch zittriger als üblich, ein glasiger Schleier lag über seinen Augen, und nachdem seine Worte verhallt waren, stand sein Mund immer noch offen. Seine Hand zuckte in Richtung seines Schwertes. „Aber nicht doch“, sprach jemand, der sich offenbar vollkommen lautlos genährt hatte. Eva schnellte herum, und als sie den Mann anstarrte, der einige Meter vor ihr in Mitten des dunklen Ganges aufragte, klappte auch ihr die
Kinnlade runter.
„Ihr?“, ächzte sie.
EagleWriter Ich würde ja fast sagen... Schwarzschild ? Oder doch Ferren ? Oder doch jemand neues ? lg E;W |