Für dich, du Fremder, dem ich mein Herz geschenkt habe.
Geist in der Straßenbahn
Die Türen schlossen sich hinter mir und ich betrat das schwüle Innere der Bahn. Ich ließ mich auf einen der nächsten freien Plätze fallen und war froh der brennenden Sonne für kurze Zeit entfliehen zu können, auch wenn das die stickige Luft in der Bahn bedeutete.
Noch bis vor kurzem war ich so vertieft in meine Gedanken gewesen, dass ich die Menschen um mich herum gar nicht wahrnahm. Doch nun glitt mein Blick über die anderen Personen, die mit mir in diesem schwülen Bahnabteil saßen. Meine Augen blieben an einer Person hängen, die nur wenige Plätze vor mir
saß. Es war ein Junge. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und hörte Musik. Mein erster Gedanke war: „Bist du es, der dort sitzt?“ Automatisch schlug mein Herz schneller. Meine Hände wurden feucht. Die Bahn bremste, Türen öffneten sich und Menschen traten ein oder verließen das Abteil. Eine ältere Dame mit Krückstock ließ sich auf einen der freien Plätze vor mir fallen und versperrte mir die Sicht auf den Jungen. Langsam rutschte ich nach links, um an ihr vorbei zuschauen und noch ein Blick auf den Jungen zu wagen. Haarfarbe, Körperbau, Kleidungsstil. Alles stimmte.
Nächste Station. Noch mehr Menschen strömten in die Bahn. Brachten warme
Luft mit. Versperrten mir die Sicht. Immer wieder hatte ich mir in den letzten Tagen gewünscht dich nur noch einmal zu sehen. Heute war es wohl soweit. Noch hatte sich mein Herzschlag nicht normalisiert. Ich wusste, dass ich dich immer noch nicht vergessen hatte. Fast jeden Tag dachte ich an dich. Komisch. Wir waren nie richtig zusammen. Nie wusste ich überhaupt, ob du mich kennst. Eigentlich warst du ein Fremder für mich. Doch ich hatte dir mein Herz geschenkt, ohne dich zu kennen.
Wieder bremste die Bahn. Nächste Station musste auch ich raus. Kurz sah ich den Rücken des Jungen. Auch er
schien seine Sachen zusammen zu suchen. Ich stand schon an der Tür, als sich unsere Blicke begegneten. „Nein, das bist nicht du“ dachte ich nun, „sondern ein Junge, der dir noch nicht einmal ähnlich sieht.“ Der Junge schaute mich nicht wieder an. Auch ich blickte jetzt zu Boden. So sehr hatte ich mir gewünscht dich zu sehen. So sehr, dass ich schon Geister sah…