Meinung bildet
Heute las ich bei facebook, dass unser Land im Unrecht sei. Dort stand, dass wir Verbrecher seien und Unschuldige töten. Dort waren Videos, in denen Menschen weinten und schrien, Männer hielten Kinderleichen hoch und wutentbrannte Reden schallten zwischen zerstörten Häusern. Leichenberge häuften sich zwischen Trümmern und ständig schlugen neue Raketen ein. Schwarzer Rauch stieg in den blauen Himmel auf und am Bildschirmrand standen Namen. Dann wurde Barak Obama eingeblendet, dann Nitanjahu. Beide lachten und schienen sich über den
Tod und die Zerstörung zu freuen. Ich ging zu meinem Vater und fragte ihn, ob es stimmen würde, was dieses Video zeigte. Er legte seine Zeitung zur Seite und sagte: „Alles Propaganda, mein Sohn. Sie nehmen alte Kriegsbilder und montieren alles so, dass es echt aussieht. Unser Land verteidigt sich nur und das ist unser gutes Recht. Unsere Soldaten kämpfen für deine Zukunft, damit du in einem friedlichen Land leben kannst. Wir müssen uns verteidigen, damit die Terroristen nicht mehr jeden Tag tausende von Raketen auf uns feuern. Wir haben lang genug zugesehen und eine Eskalation gescheut. Es ist nur natürlich, dass wir uns jetzt
wehren.“ Da mein Vater mich noch nie angelogen hatte und ich seinen Worten vertraute, fragte ich nicht weiter nach. Der Fall war für mich erledigt. Am nächsten Tag in der Schule schlug unser Lehrer das Thema an. Er sagte: „Ihr bekommt bestimmt mit, was gerade in Gaza passiert. Sicher wisst ihr auch, dass der größte Teil unseres Volkes diesen Krieg befürwortet. Ich will nicht, dass ihr hirnlos dem glaubt, was unsere Regierung sagt. Wir leben in einer Demokratie und hier darf jeder seine Meinung äußern. Ich habe keine Angst zu sagen, dass dieser Krieg falsch ist. Ihr könnt es ruhig euren Eltern und Freunden sagen. Ich bin gegen diesen
Krieg. Als normaler Mensch, der das Fühlen und Denken noch nicht verlernt hat, urteile ich nach dem, was ich sehe und was tatsächlich geschieht. Ich will euch sagen, dass wir Zeugen eines schlimmen Verbrechens sind und die Welt wird es uns nicht vergeben. Dies hier ist kein Verteidigungskrieg sondern ein offenes Abschlachten von Frauen und Kindern, die wehrlos sind, die keine Fluchtmöglichkeit haben und jeden Tag darauf warten, dass eine Rakete ihr Heim und Leben nimmt. Ich will, dass ihr versteht, dass es falsch ist, Menschen zu töten und dass kein Grund dafür als Entschuldigung gelten kann.“ Mein Lehrer war ein kluger Mann. Von
ihm hatte ich viele wichtige Dinge gelernt und ich sah keinen Grund darin, ihm nicht zu glauben. Aber wie konnte es sein, dass er etwas ganz anderes als mein Vater sagte? Diese Frage beschäftigte mich den ganzen Tag. Als ich nach Hause kam legte ich mich ins Bett und dachte darüber nach. Doch mir fiel keine Lösung für diesen Konflikt ein. Am Abend ging ich in den Garten und fragte meinen Großvater, der unter einem Baum saß und ein dickes Buch las. „Mein Junge, dein Vater und dein Lehrer haben auf ihre Weise beide Recht und Unrecht. Es sind ihre Meinungen, von denen sie überzeugt sind. Dein Vater ist politisch interessiert, er liest
täglich die Zeitung und bildet sich so seine Meinung. Dein Lehrer ist ein kluger Mann, er weiß viele Dinge und hat eine offenere Sicht auf die Dinge. Aber keiner von beiden kann die einzig wahre Wahrheit sagen, weil es so etwas nicht gibt. Es gibt kein Schwarz oder Weiß, das Leben ist nicht so einfach wie ein Schachspiel, mein Junge. Was du machen kannst, ist möglichst viele Seiten anzuhören, um abzuwägen, welche der Wahrheiten dir richtiger erscheint. Dazu brauchst du Zeit und einen klaren, unvoreingenommenen Kopf. Dann kannst du dir eine Meinung bilden. Dies ist dann deine Wahrheit. Aber pass auf, deine Wahrheit muss nicht
für andere richtig sein. Bitte mache nicht den Fehler und versuche sie jemandem aufzuzwingen.“ Was seine Meinung über die aktuellen Ereignisse ist, wollte ich wissen. „Mein Junge, ich könnte dir eine sehr lange und unschöne Geschichte voller Unrecht, Leid und falschen Schuldzuweisungen erzählen, aber das will ich nicht, weil es nichts bringen würde. Ich bin ein alter Mann, der sein Land genauso liebt, wie jedes Menschenleben. Wir beide sind in einem Alter, in dem man es sich leisten kann, keine Meinung haben zu müssen. Nutzen wir diese goldenen Jahre.“