Das Rezept
von
KaraList
"So", stöhnte Maria und stellte den schweren Korb mit den Äpfeln auf die Arbeitsplatte ihrer blitzblanken High-Tech-Küche. Diese sparsame Wortäußerung seiner Frau sowie der demonstrativ abgestellte Obstkorb versetzten Horst in leichte Panik.
"Ich backe heute einen Apfelkuchen", setzte sie beiläufig hinzu während sie die Schränke inspizierte, um sich zu vergewissern, ob alle von ihr benötigten Zutaten vorhanden waren. Die geöffneten Schubladen flogen mit lautem Knall in ihre ursprüngliche Position, was Horst jedes Mal zusammenzucken ließ.
"Die Schubladen schließen
automatisch, wenn du sie antippst, Schatz. Warum willst du heute einen Kuchen backen? Hat dir mein letzter Kuchen nicht geschmeckt?"
"Horst, es gibt nichts, was du kochst oder bäckst, das nicht schmeckt."
Bei diesen Worten strich sie ihm liebevoll über sein an den Schläfen schon grau werdendes Haar.
"Ich habe ein altes Rezept meiner Mutter gefunden. Es muss über fünfzig Jahre alt sein. Wollen wir doch ´mal sehen, ob wir das hinbekommen."
Während dieser kurzen Unterhaltung, die kaum fünf Minuten gedauert hatte, wurde das Aussehen der Küche sichtbar verändert. Schüsseln, Töpfe, Tüten und
Dosen, die Mehl bzw. Zucker enthielten, verschiedene Backformen und ein Kuchenblech verteilten sich auf der Arbeitsplatte.
"Willst du mehrere Kuchen backen"?
"Man muss auf alles gut vorbereitet sein."
"Wozu brauchst du die Kapern?"
"Die habe ich nicht hingestellt", antwortete Maria gereizt.
"Aber den Kuchen kann ich doch backen", unternahm Horst einen Versuch, seine Frau von ihrem Plan abzubringen. Maria konnte gar nicht backen. Sie konnte auch nicht kochen. Das hatte ihn nie gestört. Sie war eine wunderbare Frau, machte alle anderen
notwendigen Arbeiten im Haus, hatte einen grünen Daumen - der Garten war ein Paradies. Wenn Not am Mann war, griff sie auch zu Hammer und Meißel. Aber die Küche war für sie fremdes Territorium. Die war sein Revier. Und als begeisterter Hobbykoch wurde die Küche von ihm selbstverständlich hochmodern ausgestattet.
"Traust du mir das nicht zu?"
Ihre nicht zu überhörende Verärgerung veranlasste Horst ihr säuselnd zu widersprechen.
"Natürlich, Schatz ... aber die elektrischen Geräte ...
"Was heißt die elektrischen Geräte ...?"
Sie blickte auf den Herd - natürlich mit Induktionskochfeld - und schlug sich dann mit der flachen Hand an die Stirn.
"Richtig, die Backröhre ist ja separat und daneben."
Über die neue Küche, einschließlich neuem Herd und eingebauter Mikrowelle, konnte Horst sich erst seit vier Tagen freuen. Maria öffnete die in Brusthöhe installierte Backröhre und begutachtete deren Innenleben mit der gleichen Intensität, mit der sie das Fell ihrer Katze nach Parasiten untersuchte. Ein leises ´Klick` - und schon schoss ihr der Bratwagen entgegen und verfehlte nur knapp ihre Nase.
Horst brach der Schweiß aus.
"Der Backofen ist noch nicht benutzt worden. Er müsste erst gereinigt werden. Die Kuchenbleche auch, falls unsere alten nicht hinein passen."
"Das mache ich sofort. Die Butter ist sowieso noch nicht weich genug zum Backen."
"Wieso Butter ...?"
"Meine Mutter hat immer mit Butter gebacken."
Während Maria Vorbereitungen traf, um den Backofen zu reinigen, überlegte Horst, ob er seinen Termin beim Steuerberater verschieben sollte.
"Haben wir Mandelsplitter?"
"Meinst du wirklich Mandelsplitter oder vielleicht Mandelplättchen?"
Maria warf einen Blick auf das zwischen Backzutaten liegende Rezept, das nicht größer als eine Postkarte war.
"Mandelsplitter."
"Nein, die kaufe ich immer erst, wenn ich sie brauche."
"Könntest du schnell zum Supermarkt fahren und sie holen?"
"Ich wollte zum Steuerberater."
"Das hat Zeit."
Horst sah ein, dass weiterer Widerspruch seinem Blutdruck nicht gut tun würde. Hatte er seine Tabletten heute überhaupt genommen?
"Brauchst du noch etwas?", fragte er ergeben.
Mit nassen Fingern griff Maria nach dem
Rezept, warf einen erneuten Blick darauf und schüttelte den Kopf.
"Rosinen, Backpulver, Zitronen", murmelte sie, "das haben wir alles."
"Haben wir ein Nudelholz?"
Horst war irritiert.
"Wozu brauchst du ein Nudelholz?"
"Na, zum Teig ausrollen."
Sie blickte wieder auf das Rezept.
"Über die Apfelstücke kommt ein Teiggitter."
"Ja, ein Nudelholz haben wir. Sogar noch eines aus Großmutters Zeiten. Aus Holz."
"Hoffentlich sind keine Holzwürmer drin."
Horst fühlte heimlich seinen Puls. Dann
ging er in die Diele, griff nach den Autoschlüsseln und verließ beunruhigt das Haus.
Eine dreiviertel Stunde später war er mit den benötigten Mandelsplittern zurück. Die Kassen im Supermarkt waren so voll gewesen. Maria hatte inzwischen die Äpfel geschält und in einem großen Topf auf den Herd gestellt.
"Die Äpfel müssen nur ganz kurz aufkochen. Aber dieser Herd funktioniert nicht."
"Du musst einen anderen Topf nehmen. Mit einem Emailletopf wird das nichts."
"Ein normaler Herd hätte es auch getan. Aber nein ..."
"Wo ist das Durchschlagsieb? Die Äpfel müssen nachher abtropfen."
Horst legte ihr das benötigte Sieb bereit und nahm auch gleich das Nudelholz aus der Schublade. Die Küche hatte ihr Aussehen weiterhin verändert. Ein Berg Apfelschalen wartete darauf entsorgt zu werden, Eierschalen lagen wenig dekorativ zwischen Backzutaten. Ausgestäubtes Mehl bedeckte
einen Teil der Arbeitsplatte, obwohl der Teig noch gar nicht zubereitet war. Gerade schaltete Maria die Küchenmaschine ein.
Ein metallisches Geräusch ließ Horst zusammenzucken.
"Was ist das?"
Er stürzte zur Küchenmaschine, schaltete sie aus und fischte einen Teelöffel aus der breiigen Masse.
"Na so was", sagte Maria etwas betreten.
"Du sagst doch immer, diese amerikanischen Küchenmaschinen machen alles mit."
Horst beschloss, den Termin beim Steuerberater endgültig abzusagen.
"So, jetzt kannst du die Küche verlassen. Du machst mich nur nervös."
"Wenn du Hilfe brauchst, sag´ mir sofort Bescheid. Ich fahre nicht zum Steuerberater. Das kann ich auch morgen erledigen. Der Rasen muss gemäht werden."
"Den hast du doch vor einer Woche erst gemäht."
"Je öfter desto besser für den Rasen", antwortete Horst mit gespielter Begeisterung und verließ die Küche.
Mit Akribie lenkte Horst den Rasenmäher über das Terrain, wobei er auffällig oft am geöffneten Küchenfenster vorbei fuhr. Dann schaltete er den Mäher kurz aus und lauschte auf die klappernden Geräusche, die zu ihm in den Garten drangen. Den gezielten Blick durchs Küchenfenster verkniff er sich. Er hätte sich dafür erst einen Weg durch das Rosenbeet bahnen müssen. Einmal glaubte er feinen Brandgeruch wahrzunehmen. Der konnte
aber auch vom Mäher ausgehen, der vielleicht etwas warm gelaufen war. Der Rasen war auf Sechs-Tage-Bart gestutzt, der Mäher gereinigt - Horst hatte es auch noch geschafft den Geräteschuppen aufzuräumen. Nach einer gefühlten Ewigkeit - Horst meinte, mehrere Monde wären vergangen - rief Maria:
"Koste doch ´mal meinen Kuchen. Er ist noch ein bisschen warm. So schmeckt er am besten."
Tief Luft holend und mit etwas zitternden Knien betrat Horst die Küche. Überrascht blickte er sich um. Die Küche blitzte. Auf der Arbeitsplatte stand das Kuchenblech mit dem Apfelkuchen, der einen appetitlichen
Duft verströmte.
Ein Stück war heraus geschnitten. Es lag auf dem Teller, den Maria ihm mit einem strahlenden Lächeln reichte. Sie wirkte ein wenig derangiert. Puterrot im Gesicht und mit wirrem Haar, einem vormals pinkfarbenen T-Shirt, das jetzt einige neue Farbkreationen
aufwies, stand sie triumphierend vor ihm und flötete:
"Siehst du, ich kann´s doch."
Den Teigstreifen, der wie eine überdimensionale Bandnudel von der Decke baumelte, übersah Horst großzügig - Himmel, wie war er da hin gekommen? Auch das Nudelholz, das nur noch einen Griff hatte und zum
Trocknen auf einem sauberen Geschirrtuch lag, strafte er mit Nichtachtung. Gerade als er von dem Stück kosten wollte, fühlte er sich beobachtet. Ein dunkles Loch, wie das Auge eines Zyklopen, starrte ihn an. Er versuchte die einsetzende Schnappatmung zu ignorieren.
"Wo ist der Schalter vom Backofen?"
"Das weiß ich nicht. Er ist ja versenkbar. Als ich ihn hinein drücken wollte, schoss er wie ein Sektkorken durch die Küche. Ich habe ihn noch nicht gefunden."
Sie nahm ihm den Teller aus der Hand, gabelte ein Stückchen Kuchen ab und schob es Horst einfach in den Mund.
"Jetzt koste!"
Er zog die Augenbrauen hoch, dann breitete sich ein überraschtes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
"Wunderbar, Schatz ... ganz wunderbar! Das nächste Mal backe ich diesen Kuchen."
"Ich finde das Rezept nicht mehr."
Horst klaubte ein kleines Stückchen zu dunkel gewordenen Kuchens von dessen Rand. Beim näheren Betrachten stellte er fest, dass es zwischen seinen Fingern staubartig zerbröselte. Auch am Kuchenblech entdeckte er einige dieser sonderbaren Partikel.
Genüsslich verzehrte er das ganze Stück.
"Der ist dir gelungen, Schatz."
Bei diesen Worten glitten seine Augen suchend durch die Küche, in der Hoffnung, den Schalter irgendwo zu entdecken. Den fand Maria am nächsten Tag in ihrem Rosenbeet vor dem Küchenfenster. Raketenartig musste er durch das geöffnete Fenster geflogen sein.
Das Rezept blieb verschwunden.
© KaraList 07/2014