Entlang der Murn
1. Rotwalden. 775 ÄIII n.Br. – Lothan
Einige Stunden später saß Ferren auf dem Rücken eines gescheckten Rosses und folgte seinen Gefährten über eine kaum befestigte Straße entlang der Murn. Der breite Fluss schlängelte sich mit seinen eisblauen Fluten durch den halben Osten Lothans und entsprang irgendwo in einer der eisigen Gebirgsketten des hohen Nordens, sofern man den Gerüchten glauben konnte. Ferren war nie selbst dort gewesen, tatsächlich hatte er von der wilden Landschaft Lothans kaum mehr
gesehen als das, was an der Straße zwischen Bitterweid und Port Murn lag. Danach war er in dem kleinen Ort versackt, was ihn nun, da er über die Weiten des Hochlandes blickte, mehr als nur reute. Zu seiner Rechten strömte die Murn in einem Bett aus weißem Kies, flankiert von wenigen Laub- und Nadelbäumen, während auf seiner Linken kleine, felsige Hügel aus den Ebenen olivgrünen Gras‘ aufragten. Der Wind trug das Blöken vereinzelter Ziegen zu ihm und streichelte dabei die Farne. Der ewigwährende Nebel, der in der Senke von Bitterweid flanierte, hatte hier oben vor einer strahlenden Frühherbstsonne kapituliert und die Luft
füllte seine Lungen bei jedem Atemzug mit kalter Reinheit.
Dem Land fehlte der Makel. Abgesehen von der Straße in ihrem bedauerlichen Zustand hatte keine Menschenhand sie je berührt, sie mochte unverändert sein, seit der große Meteor vor Äonen den Urkontinent gespalten und die Gebrochene Welt geformt hatte.
Zumindest erzählen sich das die durchgeknallten Magier in ihren Elfenbeintürmen.
Ferren jedoch konnte nicht umhin, dieses Land zu bewundern, wenngleich jeder Blick eine Welle der Bitterkeit in ihn wehte. Es erinnerte ihn an die entlegenen, ebenso unberührten
Landstriche Fiondrals vor der Katastrophe, und ließ in ihm nur eine Frage aufkeimen:
Warum sind wir nicht hierher gekommen?
All das hätte vermieden werden können, wenn er in diesen Weiten seinen Frieden gesucht hätte, zusammen mit ihr; und doch war Lothan nie eine Option gewesen, der Westen gehörte dem wilden Volk der Vjar, der Osten einer Gruppe vertriebener Royalisten, die sich um Prinzessin Mara Lemorgant gescharrt hatten, oder Königin Mara. Seitdem die Revolutionäre das Königreich Kalatars in die Geschichtsbücher vertrieben hatte, schien sich keiner mehr darüber im Klaren zu sein, wem welcher Titel
gebührte. Doch das alles verebbte für ihn in einem Meer von Bedeutungslosigkeit, aus dem nur die himmelhohe Gewissheit emporragte, dass er an keinem Ort vor der Erinnerung an sie sicher war.
Außer…
Sein Blick fiel in die Fluten der Murn, die unaufhaltsam und kalt den Tälern im Süden entgegenströmten. Das Wasser selbst schien ihn zu einer Umarmung einzuladen, eisig zwar, aber endgültig.
Nein!, herrschte er sich an, wobei er die Zügel seines Pferds fester griff. Ihm bot sich die letzte Möglichkeit aus diesem Schlamassel, ein einziger Ausweg, und mochte er auch nur mit seinem Tod
enden, er hatte sich entschieden, ihm zu folgen, also würde er ihn auch bis zum Ende gehen.
„Ich wette, wir schaffen es diesmal ohne Komplikationen“, hörte er Norman Ewenett, der neben Sir Dave ritt, sagen.
„Keine Chance“, lachte dieser gelassen, „Ich bin mit zehn Draken dabei.“
„Hand drauf!“, rief Ewenett, wobei er sogleich die zugehörige Geste ausführte.
Lächerlich, ich habe nicht mal mehr 10 Silbertaler, dachte Ferren, während Aymeric von hinten heran ritt.
„Ihr lernt es auch nie, Ewenett, oder?“, knurrte der Alte milde amüsiert.
„Ich gewinne immer“, tönte Dave.
„Ist dem so?“, wandte Ferren
einigermaßen gelangweilt ein, und durfte sich danach eine Geschichte über die unglaubliche Glücksträhne des Ritters anhören, der offenbar bei jeglichen Wetten und Spielen gewann und noch nie in seinem Leben von einer Klinge gekratzt geschweige denn von einem Geschoss getroffen worden war. Von Ewenett hingegen erfuhr er nur wenig. Ein eher unbedeutender Edelmann aus einem der beinahe restlos ausgelöschten Adelshäuser Kalatars. Je weiter sie durch das Land zogen und je länger er seine Gefährten betrachtete, umso mehr musste er sich fragen, in welche Misere Aymeric ihn dort hineinzog. So sehr sich die Royalisten
eine Rückkehr nach Kalatar auch wünschen mochten, selbst unter diesen Umständen fehlten ihnen dazu die Truppen; und dass man Männer wie Dave Valentin und Norman Ewenett zu Rittern der königlichen Garde gemacht hatte, sprach nicht gerade für eine Veränderung dieser Situation. Davon dass sie sich auch noch an ihn gewandt hatten, ganz zu schweigen.
Allerdings, so erkannte er schnell, während sie weiter der Straße folgten und ein paar Ziegenhirten mit ihren Herden hinter sich ließen, vermochte das kaum, ihn in Unbehagen zu stürzen. Die Misere, in die er nun ritt, konnte kaum größer sein als jene, aus der man
ihn hinausgezerrt hatte. Er warf einen kurzen Blick auf Aymeric, empfand ein leichtes Gefühl von Wärme, das er jedoch nicht benennen konnte.
Dankbarkeit?
Er gestand sich ein, dass er nicht vermochte, es genau zu sagen, wohl aber verwunderte es ihn, dass der Mann ihn offenbar nicht hasste, obwohl er eben dies erwartet hatte. Immerhin trug er Schuld am Tod seiner…
Seine Gedanken prallten jäh gegen eine brüchige Mauer, noch einmal krallte er sich in die Zügel seines Rosses, verhärtete sein Gesicht und ließ den Blick leer über die Fluten der Murn schweifen, die mit ihrem stetigen, tiefen
Grollen antworteten.
Am späten Nachmittag kam am linken Wegesrand eine größere Hütte in Sicht, die auf einer Ebene zwischen zwei kleineren Hügeln ruhte, auf denen jeweils eine kleine Birke spross.
Das Birkenheim war, wie er wusste, eine der wenigen Rastmöglichkeiten in dem kaum besiedelten Landstrich zwischen Murngard und der Südküste Lothans. So verwunderte es ihn nicht, dass Aymeric vorschlug, dort zu rasten und erst am nächsten Morgen weiter gen Murngard zu reisen. Vor dem niedrigen Gatter, welches die Taverne umschloss sattelten sie ab und überreichten Ewenett die Zügel ihrer Pferde, damit er sie zum
Stall bringen konnte. Er hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als hinter dem Haus eine ältliche Magd hervorkam, sie freundlich grüßte und sogleich ihre Hilfe anbot. Sir Norman nahm diese dankend an, während Ferren seinen anderen beiden Gefährten zum Eingang der Taverne folgte. Ein schweres hölzernes Schild, das eine stilisierte Birke zierte, prangte darüber und wogte leicht im Wind. Nach einem kurzen Blick darauf, vermutete er, dass sie einst grün gewesen war, jedoch im Laufe der Zeit ihre Farbe verloren hatte.
Trotz der günstigen Lage der Taverne empfing sie der Schankraum mit gähnender Leere, die Ferren jedoch nicht
davon abhielt, sich genau umzusehen. An den unzähligen Tischen saßen lediglich drei Parteien. Zwei ältere Männer in einfacher Kleidung, vermutlich Ziegen- oder Schafshirten, die nach ihrem Tagwerk ins Birkenheim kamen, um ein Bier zu trinken. Ein abgehalfterter Kerl, der aus einem großen Humpen Met soff und dabei immer noch in seiner beschlagenen Lederrüstung steckte. Ein Schwert mit grobem Griff ruhte in einer hölzernen Scheide an seinem Gürtel und er warf den drei Ankömmlingen einen äußerst missbilligen Blick zu, nachdem er sie entdeckt und ihre Röcke gemustert hatte.
Ein Söldner, wie Ferren vermutete, oder
ein unglückseliger Edelmann, möglicherweise verarmter Landadel, der mit den übrigen Royalisten nach der Revolution gen Lothan geflohen war.
Er hielt sich jedoch nicht lange mit diesem Gedanken auf, denn sein Blick huschte allzu schnell in eine der dunklen hinteren Ecken des Schankraumes, wo er kleben blieb. Obgleich die beiden Gestalten, die an diesem Tisch saßen, kaum mehr als schattenhafte Silhouetten waren, gelang es ihm, eine Frau auszumachen, die eine sich karmesinrote Robe aus schwerem Filz kleidete. Schwarzgoldenes Dekor zierte Ärmel und Schultern und erinnerte Ferren an eine Montur, die er
zuletzt bei der Verteidigung des Ewigen Palastes gesehen hatte.
Kampfmagier des Königs.
Es war schon außergewöhnlich genug, Magier in der freien Welt anzutreffen, denn sofern es sich nicht um Adlige, gescheiterte Novizen, Anwärter auf Studienreise oder vereidigte Zauberer handelte, ballten sich alle magiebegabten Menschen nach königlichem Edikt in den Magierakademien der Gebrochenen Welt. Auch die Revolution hatte daran nichts geändert, zumindest glaubte er das. Diese Roben allerdings gehörten einer Eliteeinheit der königlichen Verteidiger von Velorien, die soweit er
wusste, beim Sturm des Ewigen Palastes nahezu restlos ausgelöscht worden war. Eine solche Person an eben diesem Ort anzutreffen, stellte einen Zufall dar, dem er nicht trauen wollte. Da Aymeric und Dave die Anwesenheit einer königlichen Kampfmagierin jedoch nicht zu kümmern schien und selbst Ferren schwerlich glauben konnte, dass sie eine Gefahr für andere Royalisten darstellen würde, beließ er es dabei und begab sich mit den beiden anderen an die Theke.
„Avel!“, rief Aymeric dem Wirt entgegen und klopfte diesem über den Tresen hinweg auf die Schulter. Die hageren Züge des alten Mannes dahinter formten ein Lächeln und erinnerten ihn
an jemanden, den er einst gekannt hatte. Die Bekanntschaft konnte jedoch allenfalls flüchtig gewesen sein, denn er vermochte nicht zusagen, woher genau er den Mann kannte oder wer er war, und doch ließ das freundliche, aber zugleich strenge Gesicht einmal mehr eine vergangene Zeit in ihm echoen. Vor der Revolution und der Katastrophe auf Fiondral. Er spürte die warme Sonne Ledrias auf seiner Haut, roch den schweren Duft unzähliger Lavendelblüten, sein Blick versank in azurblauen Augen, nur flüchtig, bis sie sich abwandte und in das Feld hinfort lief, voller Leichtigkeit voller Leben…
„Wein!“, verlangte
er.
„Das lässt du mal lieber“, lachte Aymeric nicht ohne Bitterkeit, wobei er ihn sanft, aber bestimmt vom Tresen zurückschob. Er hörte, wie Dave hinter ihm die Nase rümpfte.
„Quynt?“, der Wirt starrte ihn fragend an, „Seid Ihr das?“
Er nickte darauf nur, bevor er sich zu einer der Bänke zurückzog und sich darauf niederließ. Als er bemerkte, dass die Kampfmagierin verschwunden war, zuckte er nur kurz mit den Schultern.
Das alles ist nicht mein Problem, diese Welt ist nicht mein Problem.