Ich stehe im Wohnzimmer, direkt am großen Balkonfenster und schaue raus. Irgendwie nicht so geil. Eigentlich sollte an einem Tag wie diesem die Sonne mit ihrem wärmenden Licht meinen Astralkörper küssen. Stattdessen guck ich raus und sehe ... Fenster. Weil irgendeine Pappnase vor tausend Jahren auf die Idee kam, der Berliner von Welt würde, wenn er aus dem Fenster guckt, sicher nichts lieber sehen wollen, als weitere Fenster, ist das jetzt so, dass es absolut nichts anderes zu sehen gibt. Kann man auch nicht mehr umbauen jetzt, wo alles steht und der Zement trocken ist. Kein Wunder, dass hier immer alle ’ne Fresse ziehen. Direkt
gegenüber im Hinterhaus, nur ein Stockwerk höher steht eine Frau und guckt auch aus dem Fenster. Entweder sieht sie direkt auf mich herab, oder sie starrt nur so und denkt schlicht dasselbe wie ich: überall nichts als Fenster auf grauem Beton. Was ’ne bekloppte Scheiße!
Dabei könnte es so einfach sein: Die Zinsen am Geldmarkt sind derzeit so üppig wie die Oberweite von Keira Knightley. Im Ernst, den ganzen Zaster vom Konto abzuheben und bar in der Sofaritze zu bunkern, verspräche deutlich mehr Rendite. Ein paar Cent tauchen da neben Brotkrümeln, obwohl nie jemand auf der Couch Brot gegessen
hat, beim Absaugen der Bezüge immer mal wie herbeigezaubert auf. Das läppert sich.
Alternativ, denke ich, könnte man doch ’ne Eigentumswohnung anschaffen. Irgendwas mit Dachterrasse, mit Blick über Berlin, statt Blick auf Berlins FENSTER! Ich kann diese scheiß Drecksfenster nicht mehr sehen! Echt jetzt!
Eigentumswohnungen, das hat in Berlin ja Tradition. Wer sich beliebt machen will, fährt beispielsweise nach Friedrichshain, je bunter die Hausfassaden dann sind, desto besser, und fragt direkt mal jemanden mit ’ner Flasche Sterni in der Hand, wo man denn
dort fesche Eigentumswohnungen kaufen kann. Wer glaubt, in Berlin sei nicht alles innerhalb vertretbarer Zeit fußläufig erreichbar, der wird definitiv eines Besseren belehrt, ist erst mal ein aufgebrachter Mob aus der »Lower Class« mit nagelgespickten Holzlatten hinter einem her.
Eigentumswohnungen, die schießen hier aus dem Boden wie Pilze. In Berlin geht das so: Heute noch bist du alteingesessener Besitzer eines Schrebergartens, noch unter Willy Brandt günstig ins Familenvermögen übernommen, dann schließt du einmal abends das Gartentor nicht ab, schon steht am nächsten Morgen ein neuer
fünfstöckiger Glaskasten auf deinem Grundstück, und dein Schlüssel passt nicht ins Schloss. Da, wo gestern noch »Vorsicht vor dem Hund« stand, steht jetzt »Eigentumswohnungen im Herzen Berlins zu verkaufen!«. Außerdem kommt zur Begrüßung nicht mehr Isolde vom Nachbargrundstück mit ’nem Körbchen Erdbeeren vorbei, sondern irgendein Kerl mit Schnauzbart, Wachmannmütze und entsichertem Pfefferspray. So schnell geht das, und ratz fatz brennen dir auch noch die Klüsen vom Sprühpfeffer! Ist wie mit Starbucks-Filialen. Einmal zu langsam geblinzelt, steht ’ne neue da. Überhaupt, Starbucks - auch so’n Phänomen hier:
Nichts gegen Kaffee, ich trink nichts anderes, und heute weiß man ja auch, dass Kaffee gesund ist. Lauter Antioxidadingsbums, oder wie die Viecher heißen. Alles drin, jawoll ja, und man gucke sich etwa Franz Kafka an, dem hat’s ja auch nicht geschadet. Der soff nichts anderes als Kaffee, und der wurde immerhin vierzig Jahre alt. Aber Starbucks: eine simple Tasse Aldi-Kaffee für fünf Tacken an den Mann zu bringen und beim Abkassieren auch noch zu grinsen, das muss man sich mal trauen. Geht auch nur, wenn drumrum vorher kräftig luxussaniert wurde. Ich wette, der Erfolg dieser Brühbande basiert gar nicht darauf, dass sie das,
was anderswo ein Pott Kaffee ist, ganz schnieke als »Venti« verticken, sondern darauf, dass die Leute nur da reinschneien, weil sie so ’ne chice, große Tasse klauen wollen.
Spätestens nach der nächsten Mieterhöhung würde sich das Nachdenken über eine Eigentumswohnung jedenfalls echt lohnen. Ich nehme einen heißen Schluck Kaffee aus meiner chicen, großen Starbucks-Tasse, und denke die Idee durch. Ein alternativer Lebensentwurf spult sich wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab.
…
Eines Morgens also, ich öffne den Briefkasten, und das Schreiben von der Hausverwaltung springt mir förmlich entgegen. Ich will es gar nicht mit in die Wohnung nehmen, doch es folgt mir wie ein schlammgetränkter Streuner, der seit Tagen nichts gefressen hat. Ich meine, es sogar bellen und knurren gehört zu haben. Die Hausverwaltung freut sich, mir eine Mietzinsanpassung von 100 Euro mitteilen zu können. 100 Euro! Die nennen das nie Erhöhung, es ist immer nur ’ne Anpassung. Als würde mein Puls auf diese Scheiße hereinfallen. 100 Euro
also dafür, dass ich hier rausgucken kann und nie die Sonne, sondern immer nur einen Haufen Fenster sehe. Heiße Scheiße, und ich glaubte bisher, Wucher sei illegal.
Ich sag zu meiner Freundin: »Freundin«, sag ich, also natürlich nenne ich sie so nicht, aber Datenschutz und so weiter, »Freundin«, sag ich also, »die erhöhen schon wieder die Miete. Lass mal ’ne Eigentumswohnung anschaffen.«
Sie schaut mich entgeistert an, doch in meinen Augen sieht sie ganz klar zwei Dinge: Dachterrasse, Maisonette. Und sie nickt, denn sie sieht, dass es gut war.
Was Mieten in Berlin angeht, haben
wir beide sowieso ’nen Zappen. Erst letztens saß noch dieser Irrenhausfreigänger Christian Lindner in einer Talkshow und behauptete, 1.500 Euro warm für 120 Quadratmeter seien in Prenzlberg ja wohl ’ne super Sache. Immerhin könne man da den Porsche direkt vor der Tür parken. Wo hat man das denn sonst in Berlin? Da dachten wir noch: So ’ne Drecksau! Scheiß FDP, alle aufhängen! Und dann rechneten wir nach und fanden, dass der Lindner schon irgendwie recht hatte. Doch direkt darauf stieß Gregor Gysi dazu und erklärte dem Zuschauer alles viel verständlicher, und wir dachten wieder, dieser Lindner, die Mistsau!
Zeitsprung. Ein Makler zeigt uns die Traumwohnung schlechthin. Wurde angeblich auf den Knochen alter Urberliner errichtet, die sich die Miete nicht mehr leisten konnten, aber was geht uns das an? Man kann ja nicht auf jede Kleinigkeit Rücksicht nehmen, nech? »So ’ne Immobilie«, sagt der Makler, der wie ein feuchter Penis mit gegeltem Rauhaardackeltoupet aussieht, feierlich, »die trägt sich ja von ganz allein.« Sagt er bestimmt dreimal. Jedes Mal grinst er so obszön dabei, und man sieht einen Goldzahn in seinem Mund aufblitzen, obwohl er gar keine Goldzähne hat. Was mich am Ende überzeugt, ist seine Visitenkarte, die von
allein hochkant auf dem Tisch stehen bleibt, weil sie so dick ist wie’n Dachziegel. »Heribert Sautreiber« steht da drauf, darunter der unaussprechliche Name seiner Maklerbude. Wer so dicke Visitenkarten verteilt wie dieser Mann, der hat’s echt geschafft im Leben.
Zeitsprung. Wir sitzen beim Bankberater. Chicer Anzug, denk ich noch, und die Krawatte ist sicher auch nicht von der Stange, ganz zu schweigen von der Uhr, die an seinem Handgelenk funkelt wie ’ne südafrikanische Diamantmine. Und während der Kerl Begriffe wie Tilgung und Amortisierung über seine Zunge rollen lässt wie einen besseren Pinot Noir, denk ich noch, der
sieht dieser Maklertype aber verdammt ähnlich. Wird die Branche wohl mit sich bringen, schlussfolgere ich eben noch, da hab ich schon die feuchte Patsche des Kerls in der Hand und ruck zuck sind wir stolze Wohnungskäufer, meine Freundin und ich.
Zeitsprung. Der Umzug ist in vollem Gange. Während Hassan und Kemal die Möbel in die Bude tragen, brüte ich immer noch über den Kreditunterlagen. Irgendwie passt das alles hinten und vorne nicht, und mit jedem Nachrechnen wird’s schlimmer. Ich rufe vorsichtshalber bei der Bank an. Statt meines Beraters geht irgendeine Frau dran, die klingt wie Marilyn
Monroe. »Der Herr Sautreiber macht ein Sabbatical oder so«, sagt sie zärtlich, und noch während ich denke, bei dem Namen klingelt doch irgendwas, setzt sie nach: »Hat er uns auch nicht vorher drüber informiert. Sagte neulich noch was von großen Fischen, endlich weg hier, und leckt mich am vergoldeten Rektum. Dann ging er mit ’ner großen Reisetasche in den Urlaub. Muss wohl ausgedehnter Angelurlaub sein, kann ja mal den Chef fragen. Aber mal was anderes: Sagen Sie, haben Sie schon über Altersvorsorge nachgedacht?«
Ich lege auf. Mir schwant, dass meine Altersvorsorge gerade mit ’ner großen Reisetasche und ’nem goldenen
Rektum durch die Weltgeschichte tingelt und Crackpartys mit Nobelhuren feiert.
»Alles okay, Schatz?«, fragt meine Freundin, die einen besorgten Blick bei mir sieht, bevor er sich auf meinem Gesicht manifestieren kann.
»Ja, alles gut«, flöte ich. »Sind nur ein paar verwaltungstechnische Formalitäten, die geklärt werden müssen, mehr nicht. Kein Grund zur Sorge, Liebling. Du, ich geh mal eben gucken, in welchem Umzugskarton das Seil liegt. Das lange, reißfeste.«
Zeitsprung. Der Kredit ist gekündigt, die Bank komischerweise nicht mehr erreichbar. Wenn ich da jetzt anrufe, bietet mir eine Mittfünfzigerin
mit rumänischem Einschlag in der Stimme Telefonsex an, dabei bin ich mir verdammt sicher, die richtige Nummer gewählt zu haben. Meine Freundin drückte neulich versehentlich die Wahlwiederholungstaste. Sie hatte die Koffer gepackt und die Eigentumswohnung, die uns längst nicht mehr gehörte, schneller verlassen, als Madame Pompadour am anderen Ende der Leitung ihre Dienste und die Preisliste runterrattern konnte. Was dabei gelernt hab ich immerhin: »Es ist nicht, wie du denkst«, funktioniert auch im wahren Leben nicht.
Nun steh ich da, ohne Freundin, ohne Wohnung, ohne Konto und längst
auch ohne Job, weil ich vom Bürotelefon und während der Arbeitszeit aus ... Madame Pompadour eben. Dafür habe ich ein Gewehr erworben. Auf Rate, super Finanzierung. »Investition fürs Leben«, sagte der Waffenhändler aus der Seitengasse. »Merken Sie gar nicht im Geldbeutel. Das trägt sich quasi von ganz allein.«
Zwischenzeitlich bekomme ich Besuch von Peter Zwegat. Der macht dauernd komische Bewegungen mit seinem Gummimund und verspricht, die Kuh vom Eis zu holen. Nachdem er meine Unterlagen durch hat, hat sein Gesicht die Farbe seiner Haare angenommen. Gleich darauf verlassen er
und sein Kamerateam die Wohnung schneller, als Einsteins Theorien es erlaubt hätten: gekommen um 15 Uhr, gegangen um 14:30. Man soll sich ja über die kleinen Dinge des Lebens freuen: Wenigstens hab ich jetzt ’n Autogramm von Peter Zwegat. Und ein volles Magazin für mein Gewehr.
Zeitsprung. Vor der Tür steht der Gerichtsvollzieher. Ein-Meter-achtzig-Penis im Anzug, denk ich, die Art Hackfresse kennst du doch.
»Tach, Sautreiber mein Name«, poltert der Kerl mit dem Gegenteil von Freundlichkeit in der Stimme. Aha, wohl Verwandtschaft! Ich will ihm die Tür vor seinem Zinken zuschlagen, doch da
steht sein Fuß schon in der Bude. »Gerichtsvollzieher!«, blafft er zackig, zehn Sekunden später hab ich immer noch ein Autogramm von Peter Zwegat, aber nur noch ein fast volles Magazin.
Zeitsprung. Bar jeglicher Mittel stehe ich vor den Trümmern meiner Existenz. Apathisch starre ich die Zimmerwand an. Tapezieren könnte man hier echt mal, und neue Möbel wären auch nett, denke ich, als auch schon Tine Wittler reinschneit, in der rechten Hand ’ne Farbpalette, unterm linken Arm eine zurechtgesägte Arbeitsplatte für die neue Einbauküche. Versuchen kann man’s ja wohl mal, würde ich sagen.
»Du liebes Lieschen«, sagt sie, »da
kriegen wir aber viel zu tun. Haste oben auch noch Räume, die wir angucken müssen?«
»Nee, ist ’ne Einzelzelle«, sag ich. »Ein Zimmer, null Euro warm.« Gleich darauf machen sie und ihr Kamerateam es wie Peter Zwegat. Wahnsinn, dass die Wittler so schnell rennen kann! Leider hat sie kein Autogramm da gelassen, dafür gibt’s jetzt ’ne Klage von RTL. Dass ich mit Wohnklo eine Gefängniszelle meinte, sei aus meiner Bewerbung nicht hinreichend hervorgegangen. Mein Blick fällt auf das Bettlaken. Lang genug wär es ja. Reißfest bestimmt auch.
…
Mein alternativer Lebensentwurf endet wie ein Fallschirmsprung. Nur ohne Fallschirm. Ich schüttle den Kopf und schiebe die Gedankengewitterwolke beiseite. Meine Eltern haben mir seit jeher eingetrichtert, mich aus riskanten Dingen rauszuhalten. Scheiß doch auf die Eigentumswohnung. Drecks-Immbilienblase! Finger weg davon, basta! Inzwischen sehen die Fenster vom Hinterhaus auch gar nicht mehr so deprimierend aus. Einen Stock höher gegenüber steht immer noch die Frau und starrt mich komisch an. Ja, ich bin
jetzt sicher, sie guckt tatsächlich mich an. Und als mir endlich einfällt, woran das wohl liegen wird, zucke ich mit den Schultern, kippe mir den letzten Schluck Kaffee in den Schlund und beschließe, vor der nächsten morgendlichen Tagträumerei am Fenster wenigstens eine Unterhose anzuziehen.