mord oder totschlag
Enrico saß auf der Terrasse seiner gepflegten Villa. Er genoss seit Jahren den Respekt, den ihm die Bewohner des kleinen Gebirgsdorfes entgegenbrachten. Gerade ließ er noch einmal in Gedanken die Vergangenheit an sich vorüber ziehen.
Er stammte aus ärmsten Verhältnissen. Seine Mutter starb zu früh und so zog ihn der Vater zusammen mit seinen Geschwistern allein groß. Jeder musste zum Lebensunterhalt auf seine Weise beitragen. Da Enrico der kleinste war, entschloss er sich, durch Einbrüche seine Familie zu unterstützen. Doch er wurde immer wieder erwischt und
dann jämmerlich verprügelt. Auch zu Hause gab es dann Schläge. Da beschloss Enrico als Vierzehnjähriger, das Elternhaus, das nie eines gewesen war, zu verlassen. Um eine neue Familie zu haben, schloss er sich der Mafia an. Diese nahm ihn wegen seiner Geschicklichkeit gerne auf. Also führte er sein kriminelles Leben weiter.
Um bei Auseinandersetzungen feindlicher Gruppen bessere Verteidigungsmittel zu haben, hatte sich Enrico einen schönen Schlagring besorgen lassen. Den aber sollte er teuer bezahlen. So kehrte er noch einmal in sein Elternhaus zurück und bat seinen Vater um den Ehering seiner Mutter. Doch der Vater gab ihn nicht heraus und Enrico
stahl ihn bei nächstbester Gelegenheit. Damit konnte er endlich den gewünschten Schlagring bezahlen und hatte gleichzeitig seine Rache dafür, dass ihn seine Mutter als Kind allein gelassen hatte.
Das Leben als Mitglied der Ehrenwerten war hart und häufig von Streitereien begleitet. Trotzdem schaffte es Enrico, sich hoch zu arbeiten. Er hatte sich durch seine Korruptheit, sein aalglattes Wesen und seinen knallharten Gerechtigkeitssinn gegenüber den Ärmsten einen Namen gemacht. An ein Ereignis mochte er aber nicht erinnert werden.
Wieder einmal war es zu erbitterten
Auseinandersetzungen verfeindeter Clans gekommen und Enrico hatte alle Mühe, sich zu verteidigen. So zog er seinen Schlagring und hieb auf seinen Gegner ein, der sofort tot zusammenbrach. Als man die Toten beiseite schaffte, musste er erkennen, dass er seinen Vater erschlagen hatte. Alles hatte er gewusst, nur das nicht. Nun wusste er auch, dass seine Mutter nicht gestorben war, sondern wegen seines Vaters die Familie verlassen hatte. Der Schmerz darüber ging tief. Für Enrico ein böses Erwachen und er schwor, sich nie wieder an Kämpfen zu beteiligen. Um diesen Schwur einhalten zu können, ließ sich Enrico seinen Schlagring vergolden.
Gestern Abend nun hatte ihn sein Boss besucht. Wieder einmal ging es darum, die Ärmsten der Armen im Dorf vor den feindlichen Clans zu schützen. Doch diesmal wollte sein Chef nicht mehr dazu beitragen, die Schutzgelder für die Armen zu bezahlen. Der Streit eskalierte, nachdem sie vorher gemeinsam eine Flasche Grappa getrunken hatten. Als sein Chef auf ihn losging, griff er instinktiv nach dem nächstbesten Gegenstand und schlug zu. Lautlos sackte der Getroffene zusammen. In diesem Augenblick erschrak Enrico zu Tode. Er hielt den vergoldeten Schlagring in der Hand.
Nachdem er ihn sorgfältig abgewischt hatte, rief er seine Freunde. Gemeinsam beseitigten
sie den Leichnam.
Nun also saß er hier und wartete …
Wieder und wieder wischte sich Enrico den Schweiß von der Stirn, der ihm in winzigen Tropfen aus den Poren trat. Er befürchtete so viel … Nichts von all dem geschah.
Nach einer sehr unruhigen Nacht machte sich Enrico auf den Weg. Er hatte sich entschieden und verließ noch im Morgengrauen sein Heimatdorf. Er hatte außer einigen Lebensmitteln kein Gepäck bei sich. Nur den Schlagring führte er mit sich, besah ihn immer wieder auf seinem Weg in die Berge. Kein Mensch außer ihm kannte sich so gut in dem Gewirr der Felsen und auf
den Steigen der Ziegen aus, die hier ihre karge Nahrung suchten. Nach stundenlangem Aufstieg erreichte er die Höhle, welche er als Hütebub einmal entdeckt hatte. Schon damals hatte er sich hier ein gemütliches Nest geschaffen. Die Höhle war sauber und trocken, in der Luft der Höhe hatte sich alles gut erhalten. Er ließ sich auf das Lager aus trockenem Gras und Laub sinken. Tränen rannen ihm über die Wangen. Niemals vorher war er so von seinen Gefühlen übermannt worden.
Als er erwachte, war es bereits dunkel. Der Mann entfachte ein kleines Feuer, briet sich ein Stückchen Fleisch, aß etwas Brot dazu und gönnte sich einen Schluck von dem
mitgebrachten Wein. Seine Gedanken kreisten stets um das Gleiche: er hatte zwei Menschen umgebracht. Beide hatten ihm – jeder auf seine Weise – viel bedeutet. Hatte es wirklich so weit kommen müssen, dass er zum Mörder geworden war? Wie würde er mit dieser Schuld weiter leben können? Hin und her drehte und wendete der Mann die Tatsachen. Immer wieder wurde ihm bewusst, dass er in Notwehr gehandelt hatte und nicht aus Vorsatz. Vor Gericht würde er in beiden Fällen ohne Strafe davon kommen. Und im Himmel? Wenn es Vergebung gab, war ihm solche auch zugedacht? Enrico konnte sich kaum aus dem Wirrwarr seiner Gedanken befreien. Schließlich schlief er doch über seinen Grübeleien ein.
Früh am Morgen des folgenden Tages strich Enrico, in Gedanken versunken, durch das Gelände, welches ihm so vertraut war. Er sah nicht den wunderschönen Sonnenaufgang, bemerkte weder die Bergziegen, die um ihn herum grasten, noch konnte er den Anblick des herrlichen Bergpanoramas genießen. Wie eine dunkle Wolke schwebten seine Schuldgefühle über ihm. Mehrere Tage dauerte dieser Zustand an. Endlich war es soweit. Enrico hatte sich zu einer Entscheidung durchgerungen.
Festen Schrittes strebte er dem Tale zu. Sein erster Weg führte ihn in das abgelegene Dorf, welches nur von hier aus erreichbar war.
Er betrat die kleine Kirche des Ortes. Man hatte sie der Muttergottes geweiht. Er kniete nieder und wieder rannen ihm die Tränen über die Wangen. Lange verharrte er in seiner Gebetshaltung. Als er sich endlich erhob, zeigte sein Gesicht ein inneres Leuchten, welches niemals jemand erwartet hätte.
Noch einmal betrachtete Enrico nachdenklich den vergoldeten Schlagring.
Dann machte er sich erneut auf den Weg, diesmal in das nahe gelegene Kloster. Hier wollte er seinen gesamten Reichtum den Ordensbrüdern übergeben und selbst eine kleine Zelle beziehen. Im Frieden mit Gott – so hoffte er – würde er im Kloster den Rest
seines Lebens verbringen.
© HeiO 02-11-2013
Nachtrag
Die Idee zu dieser Geschichte geht zurück auf die Ausstellung ORTUNG 2011 in Schwabach. Im Zeichen des Goldes beteiligten sich Künstler an einem Kunstparcour. Eines dieser Werke stammte von Andreas Feist: Der vergoldete Schlagring.