Mit einem letzten, lauten Knall entlud sich die Spannung seiner verlorenen Existenz und ebbte in eine unendliche Stille – minutenlang. Dann hörte man hinter der Tür ein aufkommendes Rascheln, Stimmen und Hektik, Schritte, die von schwerbewaffneten Männer zeugten. Sie wollten die Lage entschärfen, retten, was noch zu retten war oder wenigstens den Schaden in Grenzen halten. Doch sie kamen zu spät; ihn würden sie nicht mehr stören oder belehren können. Sein Plan war vollbracht, sein selbstbestimmtes Ableben setzte den Schlusspunkt hinter einen denkwürdigen Tag, der 23 Leben, 45 Verletzte, 332 Patronen und unzählige
Tränen forderte. Bald würden Nachrichtensprechr mit ernster Miene davon berichten, Zeitungen würden in großen Lettern Angst und Mitgefühl verbreiten, in Talkshows würden Experten schlau reden und nichts sagen, Eltern und Familien würden interviewt werden, Nachbarn würden sagen: „Er war so ein ruhiger Junge, ist nie aufgefallen, hat immer freundlich gegrüßt. Schrecklich so was, ne?“
Jeder wird seine Pflicht erfüllen, betroffen gucken, seine Augen schließen und wieder aufmachen, um weiterzuleben, weil er weiterleben muss, und hoffen, dass ihm so etwas nicht
widerfährt.
Niemand wird sich nach den wahren Gründen für dieses Massaker fragen, niemand wird den nächsten Jungen sehen, der um 6 Uhr morgens mit einem schwarzen Rucksack und einer schwarzen Sporttasche in den Bus steigt, in die er vorher 3 Pistolen und ein Maschinengewehr verstaut hatte. Niemand wird ihn im Bus ansehen und die Kälte in seinen Augen bemerken, die starr aus dem Fenster schauen, Regentropfen sehen und anfangen, diese zu zählen, um das Zittern der Hände zu unterdrücken, die genau wissen, was sie heute noch tun werden. Wieso sie es tun werden, weiß niemand. Und so wird er
alleine in Bus sitzen, alleine, wie letzte Nacht, die er schlaflos verbrachte, am Laptop saß und youtube-Videos schaute, mit seiner besten Freundin chattete, die nicht schlafen konnte. Sie erzählte ihm von ihrem Ex, der sie wie ein Stück Dreck behandelte, sie betrog und an der kurzen Leine ihrer Gefühle durch Wochen und Tage voller Schmerz und Enttäuschung schleppte. Sie liebte ihn, was sollte sie denn tun? Er würde sich ändern, sagte sie immer, er würde sie lieben lernen, irgendwann und bis dahin heulte sie sich bei ihrem besten Freund aus. Vielleicht war er auch nicht ihr bester Freund, vielleicht war er nur der einzige, der sich ihre Geschichten
anhörte und geduldig schwieg, tröstete und hoffte, sie würde sich ändern, irgendwann, und ihn lieben lernen. Doch dann war es zu spät. Er hatte jede Hoffnung verloren, wollte nicht mehr hoffen, nur noch entscheiden, handeln, einen Schlussstrich unter die Rechnung seines Lebens setzen, dessen Unbekannten schon lange mehr der Rahmen seines Verständnisses sprengten, in dem er immer wieder zu Lösungen kam, die falsch waren, die nicht aufgehen konnten, weil er die Rechenregeln nie gelernt hatte, weil er nicht rechnete, sondern riet, weil er auf Glück hoffte, von dem er mal gehört hatte, auf Schicksal setzte, das ihm
schon die richtige Lösung verriete oder ihn wenigstens von der Aufgabe erlöste. Doch irgendwann wurde ihm klar, dass er der Herr seines Schicksals ist, dass nur er über sein Leben bestimmt. Übermannt von dieser Einsicht, trunken von Frust und dürstend nach Rache fasste er den Kurzschluss, allem ein Ende zu setzen. Aber nicht einfach so, nein, die ganze Stadt sollte davon erfahren, das ganze Land sollte seinen Abgang bewundern. Mit etwas Glück würden sogar internationale Medien davon berichten. Er musste es nur groß und laut genug machen. Je mehr starben, umso mehr würde sein Leben wert sein. Es würde genauso wie bei all den
anderen Amokläufen sein, nur besser, monumentaler, epischer. Jedes Mal pochte sein Herz lauter, wenn er in den Nachrichten einen Bericht darüber hörte. Er notierte alle Einzelheiten, sammelte Fotos und Zahlen über das Unglück, informierte sich so weit es ging über die Täter, suchte Parallelen zwischen ihnen und sich, als ob er eine Bestätigung, eine Begründung für sein Vorhaben finden wollte. Sie waren seine Helden, sie waren mutig und stark genug, den Zwängen dieses Lebens zu entkommen, sie kümmerte es nicht, was all die anderen über sie sagten und meinten, ihnen war alles egal. Keine Hänseleien trafen sie, keine Beleidigungen, niemand
sagte ihnen, wie wenig wert sie waren, wie abscheulich und anders ihr Dasein von der Norm abfiel, die der Herde angst machte, die sie an der Richtigkeit ihres Lebens zweifeln ließ und deshalb abgedrängt und vernichtet werden musste.
Zum letzten Mal stand er in der Pause auf dem Schulhof und sah den Regenwolken beim Vorbeiziehen zu. Der Regen setzte ein und alle strömten ins Gebäude. Er blieb allein draußen stehen und zählte die Regentropfen, die den Asphalt langsam schwärzten. Es war so schön ruhig, keine Stimmen prügelten auf sein Trommelfell ein, keine Finger deuteten in seine Richtung, kein
Gelächter traf mehr seine brüchige Psyche. Da war nur er und der Regen fernab des Lebens, im Abseits.
„Hey, pennst du noch, oder wieso starrst du so aus dem Fenster?“
Er drehte seine Augen vom Regen weg und sah auf zum Mädchen, das gesprochen hatte. Es war seine beste Freundin, die sich schwungvoll den Rucksack von den Schulter nahm, um sich auf den leeren Platz neben ihm zu setzen. Sie sah trotz der frühen Stunde sehr munter aus, von der Verzweiflung der letzten Nacht war nichts mehr zu sehen.
Er brachte ein stimmloses Hi zustande
und wusste kein zweites Wort, das nun angebracht wäre.
„Was hast du da in der Tasche?“, fragte das Mädchen.
Er schaute die Tasche an, hielt ein paar Sekunden inne: „Drei Pistolen, ein Maschinengewehr und 500 Patronen.“
Dann richtete er seinen Blick auf und schaute dem Mädchen in die Augen. Ihre Gesichtszüge verfinsterten sich, der Mund stand offen, man sah ihr förmlich an, dass sie mit dieser Information nicht umzugehen wusste. Dann brach sie in ein lautes Gelächter aus.
„Ja, natürlich, und damit willst du zur Schule und alle abknallen“, sagte sie mit einem ironischen
Unterton.
„Ja“, erwiderte er trocken und ohne mit der Wimper zu zucken.
„Jetzt hör aber auf, so was könntest du doch gar nicht. Wie willst du denn an die Waffen rankommen? Aber ohne Spaß, ich bin gerade auch von jedem und allem angepisst. Wenn du so was mal wirklich planst, mach ich mit, ohne Scheiß.“
Ihre weiteren Worte hörte er nicht mehr, er drehte sich wieder zum Fenster um und schob die Tasche mit seinem Fuß unter den Sitz.