Beschreibung
Dieses Kapitel gefĂ€llt mir persönlich am besten, aber ĂŒber Geschmack kann ja immer recht prima gestritten werden... . Ich empfehle, den Text in der Reihenfolge zu lesen und wĂŒnsche angenehme LektĂŒre !
Titelbild : Lechona /Wikipedia
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Kapitel Sechs: Sarah Holmes und Charly Watson
Der Tee war bereits gut durchgezogen und auch der Milchkaffee für Charly war fertig zubereitet. Sarah nahm die kleine gelbe Keramikschale vom Board und füllte sie mit Schokokeksen. Sie stellte alles zusammen auf das Tablett und trug es in ihr Arbeitszimmer.
Charly hatte die beiden Bilder eingescannt und gründlich nachbearbeitet. Sie brachte die fertigen Ausdrucke mit an den Tisch. Dort lagen schon der Stadtplan und eine kurze Übersicht der bisherigen Fakten, die sie noch in der Nacht getippt hatten. Sarah gab einen kleinen Spritzer Zitronensaft in ihren Tee, rührte sorgfältig um und nahm einen kleinen Schluck.
"Das ist er also.", sagte sie, "Sehr scharf sind die ja nicht."
Der Mann auf den Fotos war mit einer dunklen Jeans, einem hellen Shirt und einer leichten Jacke bekleidet.
Er trug Sneakers einer weit verbreiteten Kaufhausmarke. Seine Haare waren mittellang und wirkten eher dunkel, was allerdings auch an der fehlenden Farbdarstellung liegen konnte. Dem Gesicht nach schätzten ihn die beiden Frauen auf Mitte bis Ende Zwanzig. Er trug keine Brille, keinen Schmuck. Besondere Kennzeichen : Keine.
"Ein absoluter Durchschnittstyp, " sagte Charly, "nicht klein, nicht groß, nicht dünn, nicht dick. Total unauffällig, wenn Du mich fragst."
Sarah hatte mittlerweile eine Lupe aus der Schreibtischschublade geholt und besah sich die beiden Bilder noch einmal ganz genau.
Zwischen zwei Keksen sagte Charly leicht genervt, "Das kannst du vergessen, ich habe die bis Maximum gezoomt, da findest du nichts !"
Sarah legte die Lupe aus der Hand und trank noch einen Schluck Tee, ohne den Blick von den Bildern zu nehmen. Dann tat sie das Blatt zur Seite und las zum wiederholten Mal den Zeitplan. Anschließend nahm sie sich auch einen Keks, bevor sie ganz alle waren.
"Ich habe mir das so gedacht," platzte Charly heraus, "Wir wissen wo mein Auto stand und wann er ungefähr dort war. Und wir wissen, dass er um zehn bei der Tankfit war. Lass uns mit den Bildern in der Gegend rumgehen und rauskriegen, ob ihn jemand gesehen hat."
"Dann sind wir aber auch nicht schlauer als jetzt.", gab Sarah zurück. "Oder glaubst Du, der hat sich irgendwo mit Name und Adresse vorgestellt ?"
"Es könnte ja sein, es hat ihn jemand gesehen, der ihn kennt.", sagte Charly.
Sarah überlegte einen Moment. Dann hatte sie eine Idee.
"Wenn wir schon mit den Bilder losziehen und sie allen möglichen Leute unter die Nase halten, sollten wir es aber systematisch angehen. Laß uns hier anfangen.", sagte sie und deutete auf das Haus am Stadtpark, das auf dem Plan markiert war.
"Aber hinterher gehen wir den Weg von der Tankstelle bis zum Rathaus, am besten genau zur gleichen Tageszeit.", sagte Charly und sah auf die Uhr. "Wenn wir gegen sieben bei Oma sein wollen, haben wir noch fast zwei Stunden."
"Okay.", sagte Sarah.
Sie stand auf und ging in die Küche, um noch mehr Kekse und den Kuchenrest zu holen. Ihre Freundin räumte die Papiere vom Tisch, fuhr den Rechner runter und holte das Backgammon aus dem Regal.
Diesmal parkte Charly den Wagen ordnungsgemäß vorm Haus ihrer Großeltern. Sie stiegen aus und überlegten, aus welcher Richtung der Gesuchte wohl gekommen war. Gerade hatten sie entschieden, sich zuerst im Park umzusehen, als plötzlich ein alter Mann vor ihnen stand und Charly in strengen Ton ansprach.
"Das sieht Dir mal wieder ähnlich, Charlotte ! Wochenlang hört man gar nichts von Dir und dann kommst Du einfach unangemeldet vorbei."
Bevor Charly etwas entgegnen konnte, hatte er väterlich fordernd seinen Arm um die junge Frau gelegt und bugsierte seine Enkelin in Richtung Hauseingang, wie immer ihre Freundin vollständig ignorierend, worüber Sarah allerdings ganz froh war. Zu gut erinnerte sie sich an ihren ersten und einzigen Besuch im Haus. Damals hatten Charlies Großeltern sich nicht sehr bemüht, ihre Abneigung gegen das jüdische Mädchen zu verbergen. Wie Charly ihr später erzählte, hatte es dann noch einen fürchterlichen Streit gegeben, aber so waren Oma und Opa nun einmal. Danach war Charly dort ausgezogen, obwohl Großvater den Entzug seiner monatlichen Zahlungen angedroht hatte, was er auch fast sechs Wochen lang durchhielt. Sarah war damals sehr beeindruckt von ihrer Freundin gewesen, aber Charly hatte nur kurz den Kopf geschüttelt und seitdem war es halt so, wie es war. Es würde Charly vermutlich erst in ein bis zwei Stunden gelingen, sich dort loszueisen, dachte Sarah und ging allein in den Stadtpark.
Der Park war zu einer Zeit dort angelegt worden, als Ruhrstadt noch ein kleines Provinznest war. Ursprünglich hatte er zu einem Rittergut oder einem Herzoglichen Jagdschloss gehört, genau wusste Sarah es nicht mehr. Jetzt war er die grüne Lunge der Stadt, ein weitläufiges Areal mit Spielplätzen, vielen alten Bäumen und seit einiger Zeit mit einem recht großen Biergarten, der besonders an lauen Sommerabenden zahlreiche Gästen anlockte. Aber das war am anderen Parkende. Diese Seite war vor allem von einigen Teichen und einem kleinen Bach geprägt, den man schon vor zweihundert Jahren aus seinem natürlichen Bett in den heutigen Verlauf zwang. Die verschlungenen Wege und die kleinen Wäldchen bildeten romantische Oasen, die sehr gerne von kiffenden Schulschwänzern und Liebespaaren genutzt wurden. Alles in allem war es ein friedlicher Ort, der einen angenehmen Kontrast zum Großstadtgetriebe bot. Schon nach einigen Wegbiegungen fühlte sich Sarah in eine längst vergangene Epoche zurück versetzt. Es hätte sie nicht wirklich gewundert, wenn hinter der nächsten Kurve eine Dame im vornehmen Ausgehkleid mit einem zartrosa Sonnenschirm, am Arm eines feschen Gardeleutnants, flaniert wäre . Sie war fast ein wenig enttäuscht, als dem nicht so war.
Stattdessen saß auf einer Parkbank ein Mann mit zotteliger Mähne, die ihm weit über die Schultern fiel. Er war barfuß und seine Hose schien nur noch aus Flicken zu bestehen. Sein für die Jahreszeit viel zu dicker Wollpullover war über und über mit schmutzigen Flecken bedeckt und selbst aus einiger Entfernung war der Mann deutlich zu riechen. Neben sich hatte er einige zerfledderte Plastiktüten, die mit allerei Krimskram gefüllt schienen und eine riesige alte Reisetasche, an der ein Henkel fehlte. In der linken Hand hielt er eine mit einem blauen Kleidchen bekleidete Puppe die er mit einer winzige Haarbürste zärtlich kämmte. Dabei sprach er mit der Puppe wie mit einem kleinen Kind und summte einige Takte aus einem Schlaflied. Einen kleinen Moment lang verspürte Sarah den starken Impuls, auf der Stelle umzukehren oder zumindest einfach weiter zu gehen, aber dann blieb sie stehen und sprach den Mann an.
"Guten Tag, kann ich Sie etwas fragen ?"
Der Mann schien sie gar nicht bemerkt zu haben und summte weiter seine Puppe an.
"Entschuldigen Sie," , sagte Sarah nun etwas lauter, "kann ich Sie wohl etwas fragen?"
"Frag mich nur, frag mich nur, mein hübsches kleines Püppchen", säuselte der Mann, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.
"Ich suche einen jungen Mann, den ich vor ein paar Tagen hier gesehen habe.", fuhr Sarah fort und zog eines der Bilder aus der Tasche.
"Vielleicht haben Sie ihn ja gesehen."
"Oh das kann gefährlich sein.", sagte der Mann, hörte mit bürsten auf und sah seine Puppe sehr ernst an. "Manche Männer sind gefährlich, da musst du aufpassen, mein Schätzchen !"
"Aber ich muss ihn unbedingt wiedersehen, hier habe ich ein Foto !", sagte Sarah und verdeckte die Puppe mit dem Bild.
"Haben Sie ihn denn nicht gesehen ?"
Der Mann lies die Hand mit der Bürste sinken und sah zu Sarah hoch. Er hatte graugrüne Augen und sein Blick schien irgendwie an ihr vorbei zu gehen.
"Du musst ihn wiedersehen ? Warum denn das ?", fragte der Mann.
"Ich glaube, ", sagte Sarah verlegen, "ich habe mich ein bisschen in ihn verliebt. Und jetzt weiß ich nicht, wie ich ihn wiedersehen kann."
"Oh, oh ", sagte der Mann und wendete sich wieder seiner Puppe zu, "da hörst du es mal wieder, die jungen Männer sind gefährlich, mein kleiner Engel."
"Haben Sie ihn nun gesehen oder nicht ?", fragte Sarah nochmal, die kurz davor war, die Geduld zu verlieren.
Wieder schaute der Mann sie an und warf dann nochmal einen Blick auf das Bild.
Dann sagte er, "Schade, daß man das Gesicht nicht sieht."
Sarah hatte ihm versehentlich das Foto mit der Rückansicht gezeigt und zog nun das andere Bild aus der Tasche, das den Jungen an der Kasse zeigte.
Der Mann sah das Bild sehr lange an und sagte dann, "Natürlich kenne ich den. Den kenne ich sogar ganz gut, das ist Andy. Der ist ganz in Ordnung, da hast Du dich aber gut verliebt !"
Charly war sehr schlecht gelaunt, als sie aus dem Haus ihrer Großeltern kam und fand es überhaupt nicht witzig, als sie Sarah mit einem breiten Grinsen am Auto lehnen sah. Zwei Minuten später hatte sich auch ihre Laune schlagartig verbessert.