Tamaril wollte noch mehr sagen, doch seine zitternden Lippen brachten kein weiteres Wort hervor. Es war eine echte Erinnerung gewesen! Eine, die ihm selbst gehörte!
Er konnte sich an diesen Moment auf einmal so deutlich erinnern, dass ihm sogar Details einfielen, die er in seiner Erzählung zuvor gar nicht erwähnt hatte: Wie seltsam dieser Gastraum gerochen hatte, nach Gewürzen, die ihm nicht vertraut waren und altem Holz. Wie der Staub der Straße am Saum seines Gewandes geklebt hatte und er verlegen
daran herumgewischt hatte.
Ja, er war wirklich dort gewesen. Er hatte mit seinem Vater den Prinzen von Illian aufgesucht. Damals bevor...
Er zog die Stirn kraus. Noch immer entglitten ihm die Ereignisse, wenn er sie in seinen Gedanken zu fassen suchte.
Er schob die Sorgen beiseite und hielt sich an dieser wahren Erinnerung fest. Versuchte, sich den Vater noch einmal genau so in den Sinn zu rufen, wie er an diesem Abend gewesen war. Seinen strengen Blick und die hageren Züge, die ein einziges Lächeln doch so
lebendig machen konnten.
Tamaril lächelte wehmütig. Er wollte den Moment nicht vergehen lassen und wusste doch, dass es nicht möglich war, die Zeit anzuhalten. Oder doch?
Wieder einmal fragte er sich, was dieser seltsame Ort noch für Kräfte hatte. Wieso er von Geschehnissen erzählen konnte, die unmöglich seine eigenen Erinnerungen waren. Wie es möglich war, dass er auch jetzt noch einfach wusste, was in der Außenwelt vor sich ging, sobald er nur die Feder in die Hand nahm und schrieb.
Unsicher öffnete er wieder den Mund, doch dann kam ihm ein anderer Gedanke. Die Falamar hatte nun zum ersten Mal seinen Namen gehört. Er stellte sich vor, wie er wieder zum Tor ging, wie sie ihn bei seinem Namen rief und der Wald ihn frei gab.
Wie töricht! Warum sollte der Wald so reagieren? Er schüttelte stumm den Kopf. Nein, es war ihm selbst klar, dass dies nur eine sehnsüchtige Fantasie war.
Aber auch wenn er nicht wagte, den Versuch zu machen und wirklich zum Tor zu gehen, der Gedanke hatte in ihm den Wunsch geweckt, zumindest zu
erfahren, wie sie nun reagierte. Zögernd trat er wieder an sein Pult und griff nach der Feder.
Mitten in der Erzählung verstummte die Stimme.
Ayala warf Jorcan einen ratlosen Blick zu. Die beiden warteten noch einen Moment schweigend, dann begann die Falamar zaghaft: „Was geschah dann mit dem Prinzen und d-“
„Glaubst du diese Geschichte etwa?“,
fiel ihr Jorcan ins Wort. Er schnaubte und wandte sich ab, doch sie hatte die Nervosität in seinem Blick und seiner Haltung bemerkt.
Auf der einen Seite konnte sie ihn gut verstehen. Die ganze Situation grenzte ans Absurde. Hätte ihr jemand vor ein paar Monaten erzählt, dass sie einmal mit einem Shakariesoldaten in einer verwunschenen unterirdischen Stadt eine abenteuerliche Geschichte über zwei rivalisierende Prinzen hören würde, deren Namen verdächtig wie die ihrer beiden Völker klangen – sie hätte ihn schlicht für verrückt erklärt.
Doch dann war da noch die andere Seite. Was, wenn diese Geschichte wahr wäre? Wenn es diese zwei Prinzen wirklich gegeben hätte? Wenn es einmal ein Königreich namens Illian gegeben hätte und keine zwei Völker, die sich bis aufs Letzte bekriegten?
Dieser letzte Gedanke ließ sie schlucken.
Jorcan drehte sich zu ihr um und sie konnte ihn nur anstarren. Wie sollte das möglich sein? Wie sollte es Illian geben, wo doch dieser Mann so offensichtlich anders war?
Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken und ihr Magen machte einen unruhigen Hüpfer. Bevor sie sich versah, taumelte sie nach vorn und Jorcan schlang einen Arm um ihre Taille, um sie aufrecht zu halten. Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf an seine Schulter und hoffte, dass die Schwindelgefühle gleich wieder nachließen.
„Du bist zu lange auf den Beinen“, hörte sie seine Stimme an ihrem Ohr. „Ich bringe dich zurück und du ruhst dich etwas aus.“
Sie wollte protestieren, doch er schnitt
ihr das Wort ab. „Du bist kreidebleich. Wenn du hier zusammenbrichst, kannst du dir jemand anderen suchen, der dich durch die Stadt zurückschleppt. Wir werden jetzt sofort zu unserem Lager zurückkehren und du wirst gefälligst etwas schlafen.“
Ayala musste gegen ihren Willen lächeln. Für Jorcans Verhältnisse war das beinahe fürsorglich gewesen.
Der Schwindel ließ langsam nach, doch sie musste zugeben, dass er Recht hatte. Sie fühlte sich entsetzlich müde und dachte kaum darüber nach, als er ihr seinen Arm anbot und sie sich halb an
ihn gelehnt auf den Rückweg machten.
Erst als sie sich schon auf ihrem Lager niedergelassen hatte, wurde ihr auf einmal etwas klar: Sie hatte keine Angst mehr vor Jorcan. Sie konnte nicht sagen, ob es während der Zeit ihrer Pflege gewesen war, oder ob die Gedanken, die diese seltsame Geschichte in ihr ausgelöst hatten, die Ursache waren, doch etwas hatte sich verändert.
Auch wenn sie noch weit entfernt davon war, in ihm einen Freund zu sehen, konnte sie ihn trotz seines Gesichts nicht mit den Geschichten über die Monster aus dem Norden in Einklang
bringen, die man ihr als Kind erzählt hatte.
Mit diesem Gedanken schlief sie ein, auf den Lippen ein versonnenes Lächeln.
In Jorcan rangen Unruhe und eine neue Furcht vor diesem seltsamen Ort miteinander. Schließlich hielt er es nicht mehr neben der schlafenden Falamar aus und huschte durch die Tür hinaus.
Ziellos wanderte er umher und wurde sich mit jedem Schritt bewusster, dass er
hier gefangen war. Und keine seiner Überlebensstrategien wollte ihn aus diesem Schlamassel heraus bringen. Er war ruhig geblieben, als er mit der Falamar durch die Höhlen gewandert war, aber hier kam er seit Wochen nicht voran. Zwar würden sie wohl vorerst nicht verhungern, aber hier für den Rest seines Lebens mit nur dem Mädchen als Gesellschaft festzusitzen, ließ ihn beinahe verzweifeln.
Nein, nicht nur mit dem Mädchen, erinnerte er sich selbst. Da war auch noch diese Stimme gewesen und die ließ ihn erst recht erschauern. Er hatte nie an Geister geglaubt, sich nie vor Toten
gefürchtet oder sich auch nur darüber Gedanken gemacht, ob es etwas jenseits des Sichtbaren gab. Doch diese Stimme konnte er nicht einordnen und er hasste es, wenn ihm etwas so unvertraut war.
Und dann war da die Geschichte, die er gehört hatte.
Jorcan blieb stehen und lehnte sich an eine Hauswand. Er fragte sich, wie die Falamar so ruhig hatte bleiben können, denn so leichtgläubig und naiv sie auch war, war selbst ihr bestimmt nicht entgangen, was die beiden Prinzen für Namen hatten und was das bedeuten mochte. Seine Hand wanderte zu seiner
Maske, schreckte aber zurück, bevor er sie berührt hatte. Nein, es war unmöglich, dass diese Geschichte der Wahrheit entsprach.
Er straffte sich und wandte sich zur Rückkehr. Er würde sich nicht von einem absurden Märchen verunsichern lassen, entschied er.
Er tat sein Bestes, seine Entschlossenheit aufrecht zu erhalten, doch als er sich kurze Zeit später auf seinem eigenen Lager niederließ, war sein Schlaf unruhig und von verstörenden Träumen geplagt.
Ayala erwachte von einem seltsamen Keuchen und stemmte sich mühsam in die Höhe. Das Licht der blauen Steine war gedämpft, dennoch konnte sie Jorcan ausmachen, der sich im Schlaf hin und her wälzte.
Kurzerhand robbte sie zu ihm hinüber und griff nach seiner Schulter. Er erwachte nicht sofort, was das Ganze in ihren Augen noch ungewöhnlicher machte, doch als er sich schließlich ruckartig aufsetzte, sah er beinahe panisch aus. Dann erkannte er sie und
begann etwas ruhiger zu atmen.
„Hattet Ihr einen schlimmen Traum?“, fragte sie besorgt.
Er schob ihre Hand unwirsch zur Seite. „Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! Glaubst du denn, du könntest auch nur ansatzweise verstehen, was ihn mir vorgeht, Falamar?“
Sie bemühte sich, seinen Ärger nicht persönlich zu nehmen. „Wenn die Geschichte stimmt, dann sind wir uns vielleicht ähnlicher, als wir gedacht haben. Womöglich kann ich Euch ja doch
verstehen, wenn --“
Bevor sie den Satz beenden konnte, schoss Jorcans Hand vor und packte sie am Kragen. Mit seiner anderen Hand griff er nach oben und zog sich die Maske vom Gesicht. Aus so kurzer Distanz konnte sie die Fratze noch weit besser sehen und Ayala musste ein Würgen unterdrücken.
„Wir sind uns nicht ähnlich, Falamar!“, zischte er wütend. „Sieh mich doch an. Wir sehen anders aus als ihr, von Geburt an. Wir verhalten uns anders. Wir denken anders. Was immer diese Stimme erzählt hat, ist nichts als ein dummes
Märchen über ein Königreich, das es nie gab.“
Sie schlug die Augen nieder und legte ihre Hand auf die seine, die sie immer noch festhielt. „Ich bin mir nicht sicher, was ich denken soll, aber wir haben auch noch nicht die ganze Geschichte gehört. Vielleicht ist nichts von diesen Dingen wirklich geschehen, aber vielleicht kann uns die Geschichte trotzdem helfen. Sie hat jedenfalls etwas mit dieser Stadt zu tun und ich wüsste gern, was hier vor sich gegangen ist. Möglicherweise erhalten wir auch noch einen Hinweis darauf, wie wir hier herauskommen.“
Ihre ruhige Antwort schien auch ihn zum Nachdenken gebracht zu haben, denn nach einem Moment ließ er sie los und zog die Maske wieder nach oben. Seine Augen sahen noch eine Weile ins Leere, als kämpfe er mit sich. Schließlich nickte er kaum wahrnehmbar. „Es ist einen Versuch wert, nehme ich an“, sagte er leise.
Sie versuchte nicht triumphierend auszusehen, doch innerlich freute sie sich unbändig über ihren Erfolg. Es war doch tatsächlich möglich gewesen, ihn mit Argumenten zu etwas zu überzeugen.
Trotz ihrer Ungeduld nahmen sie sich die Zeit, etwas zu frühstücken – Jorcan mit dem Rücken zu ihr – bevor sie sich auf den Weg in den silbernen Wald machten. Der Shakarie schien es so gar nicht eilig zu haben, doch solange er bereit war, ihr die Türen zu öffnen, nahm sie auch das hin.
Dort angekommen war sie es, die sich dort, wo die Bäume eine Barriere bildeten, im Schneidersitz zu Boden ließ und hoffnungsvoll die Stimme bat: „Bitte erzählt mehr von Illian und den Mencun.“
Tamaril war ein wenig enttäuscht, dass sie seinen Namen nicht einmal ausgesprochen hatte, und dass der verfluchte Shakarie auch wieder zur Stelle war. Nun gut, ohne ihn wäre Ayala wohl nicht bis hierher gekommen, auch wenn es ihn rasend machte, dass sich die Tore vor dem Elenden öffneten.
Aber immerhin hatte das Mädchen ihn um die Geschichte gebeten und nicht das Monstrum.
Er schloss die Augen und erlaubte seinen Lippen fortzufahren.