Sonntag, 6. Juli
Alles was ich will, ist, endlich ins Hotel zu kommen. Aber nein, wie mein Vater so ist, hat er noch gar keinen Wagen gemietet und steht seit gefühlten Stunden an diesem Rent-a-Car-Schalter, während ich mich mit einem Modeheftchen und einem bitteren Kaffee beschäftigen muss. Neben uns läuft ein Pärchen mit einem kleinen Hund vorbei. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich mit acht unbedingt einen Hund wollte und die ganze Zeit darum gebettelt habe, zum Glück habe ich keinen bekommen… Ich blättere in meiner Zeitschrift um. Und wer blickt mir entgegen? Justin Bieber.
Mein Augenrollen scheint nicht ganz unbemerkt zu bleiben, denn als ich aufschaue, sehe ich, wie mir jemand belustigt zulächelt. Es ist, als hätten wir sofort eine besondere Verbindung, obwohl wir uns nicht kennen. Ich lächle zurück, und ohne ihm einmal in die Augen gesehen zu haben, blättere ich weiter. Doch ich merke, dass er stehenbleibt. Schnell werfe ich ihm einen kurzen Blick zu. Er schaut auf sein Smartphone. Ideal. Nun habe ich Zeit, ihn etwas länger zu betrachten. Er ist nicht der Traumtyp mit Sixpack und strahlend blauen Augen ( das mit den Augen denke ich zumindest, da er ganz dunkle Haare hat und blaue Augen bei
ihm beinahe ein Wunder wären ), und trotzdem ist er etwas Besonderes. Ein Musiker-Typ mit schulterlangen, gelockten Haaren, einem verblassten Tie-Dye-Shirt, einer alten Lederjacke, langen, dunkelgrauen Jeans und klassischen Lederschuhen, die mir überhaupt nicht gefallen, doch zu diesem dünnen Typ mit dem Gitarrenkasten neben sich passen sie irgendwie ziemlich gut. Er ist schätzungsweise etwa achtzehn. Was macht er wohl hier, alleine am Flughafen? Ach was soll’s, ich mache mir wieder zu viele Gedanken. Nun sieht er wieder auf, sein Blick sucht mich. Seine Augen sind dunkelbraun, fast schwarz. Man könnte fast darin
versinken…
„Olivia“, höre ich die Stimme meines Vaters hinter mir. „Ja?“, sage ich und wende mich vom Unbekannten ab. „Wir haben einen Wagen, lass uns gehen“. Super, ausgerechnet jetzt. Als ich beim Verlassen der Halle ein letztes Mal zurückschaue und den Pink Floyd-Button an seiner Jacke erblicke, ist es eindeutig um mich geschehen. „Geht es dir gut?“, will mein Vater wissen, „du bist so still“.
„Ja, ich bin nur müde.“
Schweigend ziehen wir unsere Koffer hinter uns her, bis zur Garage, wo unser Auto steht. Es scheint fast zu gross zu sein fĂĽr uns zwei. Doch wie mein Vater
gesagt hat: „Wir werden die Ferien in vollen Zügen geniessen. Es gibt keine Ausnahme.“
Während der dreistündigen Fahrt zu unserer Ferienwohnung beginnt sich die Sonne langsam zu senken, das Meer in der Ferne färbt sich rot-orange, und ich kann an nichts anderes mehr denken als an meine Mom. Früher fuhren wir immer zu dritt hierhin, dreimal an denselben Ort. Heute wird es das vierte Mal sein, doch sie sitzt zu Hause und wartet auf den Anruf des Spitals wegen der Transplantation. Seit Monaten. Ich wette, wenn sie den Musikerjungen auch gesehen hätte, hätte sie mir ein verschwörerisches Lächeln zugeworfen,
das so viel bedeutet hätte wie: „Du hast einen guten Geschmack, meine Liebe.“
Sie hat gesagt, es wäre okay für sie, wenn wir ohne sie Urlaub machen. Wir sollen die Zeit geniessen, bevor eine schwierigere kommt. Ich bestand darauf, hierhin zu kommen. Vielleicht, weil ich Angst hatte, dass dies das letzte Mal für eine lange Zeit sein könnte, was wahrscheinlich auch der Fall sein wird. Egal, nun sind wir hier und sollten die Sorgen für eine kurze Zeit vergessen können.
Im Radio wird gerade der wichtigste Match des Jahres kommentiert, und in diesem Moment hat meine favorisierte Mannschaft gerade ein Tor erzielt, wie
ich an den langen „Gooaal“-Rufen des spanischen Kommentators erkennen kann. Bald sind wir da, ich kann bereits den Leuchtturm in der Ferne erkennen, der sein Licht schon jetzt übers Meer kreisen lässt, obwohl es noch hell ist. In Gedanken versunken stecke ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und spiele mein Lieblingslied ab.
Wenn man zu viel denkt, wird man leer. Schwarz.
„Wach auf, wir sind da“.
Zögerlich öffne ich meine Augen. Das Erste, was ich erkennen kann, sind die Umrisse des Hauses, in dessen zweiten Stock wir wie immer wohnen werden.
Unter unserer Wohnung befindet sich ein Strandrestaurant, dort gibt es die beste Thunpizza, die ich je gegessen habe. Ich höre die hitzigen Diskussionen und das Lachen der Menschenmenge, die vor dem Restaurant vor einem grossen Fernseher sitzen und mit ihrer Lieblingsmannschaft mitfiebern, über deren Schicksal gerade in diesen Sekunden in einem Penaltyschiessen entschieden wird. Und so kommt es, dass ich beim Verlassen des Autos plötzlich von allen Seiten nur noch Jubel und Applaus zu hören bekomme. Was für ein schöner Empfang. „Willst du noch was essen?“, fragt mein Vater, dem man die Erleichterung über die Ankunft und den Ausgang des Spiels
ansehen kann. Ich lächle und nicke zufrieden beim Gedanken an meine Pizza.
Als ich nachts im Bett liege, kann ich nicht einschlafen, weil es so heiss ist. Deshalb höre ich einfach dem Rauschen des Meeres zu, das sich etwa fünfzig Meter vor unserer Wohnung befindet, und lasse diesen einen Gedanken im Raum kreisen: Etwas ist falsch.