Reiseerinnerungen vom August 1969
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Nach dem Besuch des Parks boten die menschlichen Darstellungen, wie sie der Künstler Vigeland so eindringlich darzustellen vermochte, viel Zündstoff für Diskussionen. Geheimnisvoll sind Parks immer, seien sie nun neu oder alt, im Zentrum einer Stadt gelegen oder irgendwo an ihrem Rand. Und das Herzblut ihrer Gestalter umfließt uns, so wie hier in Oslo, sobald unser Fuß ihre unsichtbare Schwelle überschreitet. Durch monumentale schmiedeeiserne Tore hindurch tauchen wir ein in eine andere Welt, in die Welt der Vigelandsanlge. Eidechsen- und Drachenwesen, eingebunden in breite, fantasievoll geschlungene, scheinbar
geflochtene Bänder ziehen uns in eine Welt, welche für uns weit im Norden liegt. Welche lange vor unserer Zeit den Wikingern gehörte. Der Park des Lebens umfängt uns. Alte Bäume säumen Kieswege, in einer verwirrenden Anordnung scheinen sie ein großes Labyrinth nach zu zeichnen, ein Labyrinth, welches doch keines ist, weil ihm die Ordnung des Lebens Struktur und Halt gibt. Da begegnen wir Stein, Eisen und Bronze gewordenen Gestalten, welche erstarrt sind in ihrem Lebensalter, in ihrer Bewegung, in ihrer Lebendigkeit. Und die doch in teils bedrückender Deutlichkeit die Sprache der Vergänglichkeit sprechen. Jedem Lebensalter wird die ihm gebührende
Aufmerksamkeit zuteil. Jedes Lebensalter zieht durch die vollendete, künstlerische Darstellung in ihren Bann und berührt seinen Betrachter zutiefst. Gleichgültig, in welcher Lebenszeit sich der Betrachter selbst befindet, die über Lebens großen Figuren lassen nicht ab und mahnen, dem Leben gegenüber eine neue Haltung einzunehmen, über eine neue Wertschätzung des Lebens nachzudenken. Dem Lebensweg folgend, zeigt sich der Mensch als Embryo, Säugling, Kleinkind bis hin zum Pubertierenden in vielen Facetten, welche auch die Jugend prägen. Fröhlichkeit, Sorglosigkeit, Wut und andere Emotionen gehören dazu, ebenso das Spiel und die Ernsthaftigkeit. Weiter führt der Lebensweg
vorbei an solchen Stationen, die kaum jemand in seiner gegenwärtigen Zeit sehen oder gar eingehend betrachten will, zum Beispiel Krankheit, Elend oder gar Tod. Dann durchwandert der Mensch die Zeit der Hochblüte seines Lebens, wenn er vor Kraft strotzend eine Familie gründet. Doch am Rande begleiten ihn auch hier immer die anderen Lebenszeiten. Jeder Schritt auf der Wanderung durch das Labyrinth ist eine wahrhafte Begegnung mit dem eigenen Leben und dem Leben im Allgemeinen. So wie es uns auch unser Alltag ständig zeigt. An der großen Wasserfontäne schrickt der Lebenswanderer unmerklich zusammen. Das Wasser fließt so wie die Zeit ständig fließt und verrinnt, unwiederbringlich! Doch der
Fluss des Lebens strömt weiter. Und das ist auch sehr tröstlich. Um die Fontäne herum erzählen wunderbare Reliefs Geschichten über die Kindheit, über Jugend, Mannesalter, Greisenzeit und schließlich den Tod. Der Kreis schließt sich und doch erneuert sich das Leben immer wieder. Weiter zieht sich der Lebensweg. Eine große Brücke will überquert werden. Sogar hier begegnen die Lebenswanderer den vier Lebensaltern, welche immer wieder an unsere Vergänglichkeit gemahnen. Eine Vergänglichkeit, die hier in Stein, Eisen und Bronze dem Vergehen hoffentlich ein kleines Schnippchen schlägt und noch viele Generationen über das Leben und über Lebenszeit nachdenken
lässt. Weiter und weiter führt der symbolische Lebensweg, der endlich im Zentrum in einem Obelisken zu enden scheint. Der Obelisk, ein Sonnenstrahl, der vom Himmel fällt, ein Sonnenstrahl, der uns zum Himmel aufschauen lässt. Hier erstrebt der Lebenswanderer sein Ziel, den Weg ins Licht, den Weg in den Himmel. Ob Kind oder Greis, ob Mann oder Frau, alle bemühen sich, hinauf zu steigen und das Licht, den Himmel zu erreichen. Aber diesem Ziel kommt nur näher, wer vorher alle Situationen, Empfindungen, Tätigkeiten und Aufgaben des täglichen Lebens nach seinen Fähigkeiten gemeistert hat. Wer das Rad des Lebens erfolgreich
durchlaufen hat.
In ihrer Eindringlichkeit sind die Darstellungen des Lebens in allen Phasen, in Kindheit und Glück, in Liebe und Kraft, Alter, Krankheit und Leid, selbst im Tod, unübertrefflich. Der Lebenswanderer ist verstummt und sucht nachdenklich nach dem Ausgang, nach dem Ausgang auch aus seinem Trott des Alltags, der ihn beinahe aufzufressen droht.
Als der Wanderer das schmiedeeiserne Tor wieder durchschreitet auf seinem Weg in die Wirklichkeit, da scheint ein Sog nach ihm zu greifen. Ob er ihm diesmal entkommen kann?
Ines und Axel sind Geschwister und in diesen Sommerferien haben sie mit ihren Eltern eine weite Reise in den hohen Norden unternommen. Die gesamte Familie will wandern und dabei nicht nur die Hochflächen des Landes, die Fjells, erkunden, sondern auch einen Ausflug zu dem größten Gletscher hier unternehmen. Er heißt Jostedalsbre und soll mit den angrenzenden Eisströmen zusammen mehr als 1000 qkm Fläche bedecken und sein Eis soll eine Dicke von etwa 500 Metern haben. Die zwei Kinder versuchen, sich das vorzustellen. Aber es gelingt ihnen nicht.
Da holt die Mutter die Landkarte und nun sitzen die beiden, über die Karte gebeugt, bei ihrem Vater und lauschen schweigend, aber mit vor Staunen offenem Mund, seinen Schilderungen über dieses seltsame Land. „Hoch droben im Norden, in großer Höhe, dort wo sogar im Sommer statt Regen oft Schnee fällt, dort sind sie zuhause, die Gletschermännchen. Sie sind für menschliche Augen unsichtbar, weil sie stets weiße Tarnkappen tragen. Und wie man sich erzählt, sollen einige sogar in diesem Gletscher wohnen.“ Dies ist der Grund, weshalb die zwei Kinder unbedingt zu diesem Ungetüm von Eiskoloss wandern wollen. Und sie wollen natürlich auch
an seinen Fuß kommen, um zu erleben, wie sich seine Schmelzwasser in einen riesigen See ergießen. Der Ausflug ist von den Eltern perfekt geplant worden. Wetterfeste Kleidung schützt vor der Kälte und Nässe, feste Wanderstiefel lassen keine kalten Füße zu und ein kräftiges Picknick mit heißen Getränken muss auch mit. Ein geliehenes Allradauto samt Fahrer bringt sie auf steinigen, sehr schmalen Gebirgsstraßen hinauf auf die Hochfläche. Es dauert nicht allzu lange, bis sie ihr Ziel erreichen. Aber es kann ein langer Wandertag werden. Doch das ist um die Zeit der Sommersonnenwende keine Schwierigkeit, denn die Nächte sind dann sehr hell.
Endlich beginnen sie ihre Wanderung. Das Wetter ist nicht so schön, der Himmel grau und es weht ein frischer Wind über die Hochfläche. Trotzdem sind die Kinder heute zielstrebig unterwegs. Der Weg ist sehr gut markiert und beide sind geübte Wanderer. Sie eilen den Eltern weit voraus, sehen hier und dort die niedrigen Krüppelkiefern, die Flechten und vielen anderen Pflanzen, die perfekt an diesen Lebensraum angepasst sind. Und natürlich halten sie wegen der Gletschermännchen die Augen offen. Als der Weg eine Biegung macht und es bergab geht, erstreckt sich plötzlich eine riesige, graue, mit unendlich vielen Felsbrocken bedeckte, rissige Fläche vor ihnen. „Du Axel, schau mal, ist das etwa der
Gletscher? Wo ist denn da der Schnee?“ Doch Axel steht nur mit offenem Mund und staunt über diese unendliche Fläche, deren Anfang und Ende kaum zu erkennen sind. Nach langer Pause meint er: „Einen Gletscher habe ich mir ganz anders vorgestellt. Weiß und in der Sonne glitzernd. Du weißt doch, wie wir ihn vom Skiurlaub kennen. Das hier ist bestimmt kein Gletscher.“ „Aber wo sollen denn dann die Gletschermännchen sein? Vater hat uns doch davon erzählt.“ Während die Kinder noch rätseln, ob das hier wirklich ein echter Gletscher ist, sind auch ihre Eltern da. Der Vater hat die letzten Worte gehört und bestätigt: „Das ist der große Gletscher, den ihr
unbedingt sehen wolltet. Wenn wir in den Skiurlaub fahren, dann ist es Winter und es hat schon immer tüchtig geschneit. Jetzt ist hier aber Sommer und die letzten Schneefälle liegen diesmal lange zurück. Deshalb sieht der Gletscher so schmutzig aus.“ Die Kinder geben sich mit dieser Erklärung zufrieden und drängen weiter. Der schmale Pfad zieht sich nun an der Flanke der riesigen Eisfläche entlang, umrundet Felsen, führt immer tiefer hinunter in die Nähe der Gletscherdecke. Über Geröllflächen windet er sich, führt an Felsabstürzen vorüber und bringt sie irgendwo wieder an eine Fahrstraße. Man kann sie kaum als solche erkennen, aber ein größerer Felsblock trägt
eine Inschrift als Wegweiser. Wie besprochen wird sie hier der Fahrer des Allradautos nach einer ausgiebigen Pause wieder abholen. Die Mutter hat in einer kleinen Mulde ein vom Wind geschütztes Plätzchen entdeckt. Hier wollen sie ihr Picknick einnehmen. Es gibt braunen Käse, getrocknetes Fleisch, knusprig gebackenes Fladenbrot und viel heißen Tee. Als plötzlich die Sonne durchbricht und es in der Mulde angenehm warm wird, beschließt die Familie, sich hier einem kleinen Schläfchen hinzugeben. Die Kinder strolchen nimmermüde ein wenig herum und entdecken schließlich für sich den idealen Ruheplatz. Er liegt ganz nahe bei einem der eisigen Nebenarme des großen Gletschers. Kaum
haben sie sich an den in der Sonne schnell warm gewordenen Felsen gekuschelt, als ein lautes Knirschen wie von Schnee ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nach einigem hin und her und ein wenig Sucherei entdecken sie nicht weit von ihrem Ruheplatz zwei kleine Gestalten, die winzigen Schneemännern ähneln. „Ui, Ines, schau mal, was da für komische Wesen stehen.“ „Glaubst du, dass diese Wesen Gletschermännlein sind?“ „Ich weiß nicht. Aber ich denke, wir können sie mal fragen. Oder?“ „Hallo, seid ihr zwei Gletschermännlein?“, ertönt es wie aus einem Mund. Die beiden kleinen Gestalten nicken heftig.
Dann verbeugen sie sich elegant und die Größere sagt: „Ja, wir sind Gletschermännlein. Dass es uns gibt, hat euch euer Vater schon erzählt. Aber wir zeigen uns nicht allen Menschen, sondern nur Sonntagskindern. Und ihr seid welche. Und ich bin Lomi und das ist mein Bruder Lumi. Der muss noch ein paar Schneeflocken essen, damit er groß und stark wird so wie ich. Und wer seid ihr?“ „Wir sind Axel und Ines und haben eine weite Reise in den Norden hinter uns. Wir machen hier Ferien mit unseren Eltern.“ Da legen die beiden Männlein ihre Händchen vor den Mund und winken den Kindern, dass sie ihnen folgen sollen. „Aber unsere Eltern sollen wissen, dass ihr da seid.“
„Und wir müssen sagen, wenn wir weg gehen.“ Da lachen die beiden Gletschermännlein, schütteln ihre Schneeköpfchen und winken wieder heftig mit den Armen, fordern so die Kinder zum Mitkommen auf. Als diese immer noch zögern, rufen beide gleichzeitig: „Nun kommt schon, eure Eltern sind eingeschlafen. Und bis ihr abgeholt werdet, sind wir wieder da. Ganz bestimmt.“ Rasch folgen jetzt die mutig gewordenen Kinder den beiden Gestalten, die vor ihnen her zu fliegen scheinen. Über Stock und Stein geht es hinein in ein großes, eisiges Loch. Auf einer spiegelblanken Rutschbahn sausen sie in eine unbekannte Tiefe hinunter.
Als die rasende Fahrt jäh zu Ende ist, stehen sie in einem riesigen, türkisfarben und blau und weiß-grün schimmernden Eispalast. Die beiden Kinder sind so sehr überrascht, dass sie den Mund nicht mehr aufbekommen. Erst nach einer ganzen Weile des Staunens meint Ines: „Ich kann nicht fassen, was ich sehe. Kneife mich bitte, Axel. Das ist so wunderbar wie im Märchen.“ „Und ich komme mir fast wie in einer eisigen Tropfsteinhöhle vor.“ Die Gletschermännlein geben den Kindern Zeit, die riesige Höhle, die Wunderwerke der Eiszapfen, die kunstvollen Formen des gefrorenen Wassers, ausgiebig zu bewundern. Vorsichtig und ehrfürchtig
berühren die zwei Kinder mit ihren Fingern die Eiswände, spüren die Kühle, die Glätte, nehmen den seltsamen Glanz des gefrorenen Wunders wahr. Es ist eine Welt, die ihres gleichen sucht und doch nie findet. Ein seltsames Knirschen ist leise irgendwo zu hören und eines der Gletschermännlein beruhigt die Kinder: „Das Eis wandert stets das Tal entlang und schabt dabei über den Felsen. Das sind die Geräusche, welche ihr hören könnt. Aber das geht gaaaaanz langsam.“ „Und wie werden schließlich die wunderschönen Schneeflocken, von denen uns unser Vater erzählt hat, zu diesem Eispalast?“ „Ihr seid ganz schön wissbegierig.“, meint
Lomi. „Dann kommt einmal mit, dass wir euch alles zeigen und erklären können.“ Und schon geht es auf eine neue Rutschbahn, welche in einem weißen Kälteraum endet. „Das sieht hier aus wie in unserer alten Tiefkühltruhe. Schau, die vielen Eiskristalle und Schneeflocken Wie sie hier so wohl geordnet neben einander liegen. Hebt ihr hier alles während der warmen Jahreszeit auf?“ Die beiden Gletschermännlein lachen. Dann beginnt Lumi umständlich mit seiner Erklärung. „Immer wenn es schneit, fangen wir die fallenden Schneeflocken auf und bringen sie ganz schnell in diese Speicher, natürlich nach
Größen sortiert. Einen Teil der Flocken müssen wir sorgfältig in die schon vorhandenen einpassen, so dass sie sich mit einander verhaken und ganz fest werden. Dabei arbeiten wir von unten nach oben. So wird der Gletscher jedes Jahr um eine kleine Schicht dicker. Und je dicker die Schicht wird, umso mehr drückt es die unteren Schichten zusammen, bis sie zu Eis geworden sind. Aber auch im Sommer haben wir fleißig zu tun. Es gilt, entstandene Löcher in den oberen Schichten immer wieder zu flicken. Dafür benutzen wir die hier gelagerten Schneeflocken.“ „Und mit welchen Farben mal ihr das Eis an?“ „Axel, wir malen das Eis nicht an. Es bekommt seine Farbe dadurch, dass
verschieden große Flocken verschieden viel Luft enthalten. Große Flocken färben das Eis anders als Pulverschnee.“ „Und ich will wissen, warum der Gletscher so viele Felsbrocken auf seinem Rücken trägt und so viele Risse in seiner Oberfläche hat.“ „Das sind die Risse, die der Gletscher durch sein Alter bekommt. Und die Felsen werden ihm aufgeladen, wenn durch Regen, Frost und Hitze die Berge verwittern. Im Laufe der Gletscherwanderung wandern die Brocken und Bröckchen immer tiefer. Dabei werden sie wie in einer Mühle immer kleiner gemahlen, bis sie schließlich auf dem Grund des Eisriesen angekommen sind. Als unterschiedlich große Kiesel oder Sand werden sie schließlich im Gletschersee
abgelagert. Von dort treibt sie der Fluss weiter, der aus dem Gletschersee entspringt. Ines, möchtet ihr denn den Gletschersee besuchen?“ „Sagt bloß, ihr habt dorthin auch eine Rutschbahn gebaut? Na dann, nichts wie los. Führt uns gleich dorthin.“ Da lachen die beiden Gletschermännchen wieder. „Wenn ihr mitkommen wollt, können wir euch noch etwas zeigen.“ Über Eisrutschen, Röhrensysteme und Eistreppen geht es hin und her, auf und ab, bis sie schließlich ein riesiges Fenster erreichen. „Das ist eines von mehreren Gletschertoren, die es hier gibt. Aber seid bitte vorsichtig. Hier
bricht manchmal etwas ab.“ Ines bewegt sich vorsichtig darauf zu, wird aber sofort von Lomi in einen sicheren Winkel geführt. Von dort hat sie einen großartigen Ausblick auf den Fuß einer nahe gelegenen Gletscherzunge, die weit in einen milchig-grünen Gletschersee hinein ragt. Im nächsten Augenblick löst sich mit lautem Getöse ein riesiger Eisbrocken und lässt durch seinen Sturz die Wasser des Sees hoch aufschäumen. Ehrfürchtig beobachten die beiden Kinder dieses unwirkliche Schauspiel. Da werden sie von den zwei kleinen Gletschermännlein an den Jacken gezupft. Es ist Zeit zur Umkehr. Wieder geht es über Eistreppen und
geheimnisvolle Gänge auf und ab durch das Eis, das in allen Farben leuchtet und strahlt. Andächtig bleiben die Kinder immer wieder stehen und saugen diesen wunderbaren Anblick förmlich ein. Die Gletschermännlein eilen hurtig voraus und sparen nicht mit Ermahnungen zur Eile. Dann endlich fallen ein paar Sonnenstrahlen in den Eisgang. Es ist geschafft. Nur wenige Meter von ihrem Ruheplatz entfernt stehen Ines und Axel wieder auf festem Boden. Da hören sie auch schon die Eltern rufen. Beide drehen sich um und winken zurück, aber die kleinen Gletschermännlein sind verschwunden. „Mama, Papa, wir haben sie gesehen, die Gletschermännlein!“, rufen die Kinder wie aus
einem Mund. Kurze Zeit später kommt der Fahrer mit dem Allradauto und holt sie wieder ab. Über unbefestigte Straßen rumpeln sie talwärts bis zu einem großen, freien Platz, auf dem schon eine ganze Reihe Autos abgestellt sind. „Wir müssen das Auto hier stehen lassen, weil nur ein schmaler Bergpfad an den Fuß des Gletschers führt. Ich werde euch dorthin begleiten, weil ich einen tollen Platz zum Schauen kenne.“ Mit diesen Worten setzt sich der Fahrer des Autos in Bewegung, die Familie folgt gerne. Während die Kinder ihren Spaß mit den wilden Ziegen haben, die hier munter zwischen Felsen und niedrigen Kräutern herumhüpfen, sind alle am Gletschersee
angekommen. Das Wasser schimmert milchig-trüb und ist eiskalt. Kleinere Brocken schneeweißen Eises schwimmen darin herum und die Gletscherzunge, die sie von hier aus deutlich sehen können, leuchtet und strahlt weiß im Sonnenschein. „So habe ich mir den Gletscher auch ganz oben vorgestellt, eben richtig weiß und toll glänzend. Ich bin ganz enttäuscht gewesen, wie hässlich das Eis droben aussieht.“ „Weil es hier unten wärmer ist und die Sonne anders auf das Eis scheint, deshalb taut es schneller und der Schmutz verschwindet in den Spalten. So erscheint uns das Eis weißer.“ Ein unheimliches Grollen ist zu hören und unterbricht eine weitere Erklärung. Der Mann
zeigt mit dem Finger auf das obere Ende der Gletscherzunge. Dort hat sich wohl ein Eisbrocken gelöst, der sich jetzt donnernd zur Lawine entwickelt, immer mehr an Größe und Geschwindigkeit zunimmt und am Ende krachend in den Gletschersee stürzt. Dann noch einmal ein dumpfer Laut, die Luft erzittert und mit einem mächtigen Knall löst sich auf der anderen Seite ganz unten ein riesiger Eisbrocken und stürzt ebenfalls in den See, dessen Wasser noch einmal hoch aufspritzt. Welch ein gewaltiges Naturschauspiel! „Der Gletscher kalbt. Das sieht man nicht alle Tage.“ In die entstandene Stille hinein hat es der Mann mit dem Allradauto gesagt. Stumm
geworden durch die Erhabenheit des Augenblicks treten sie ihren Rückweg an.
„Noch gewaltiger als es uns Lomi und Lumi gezeigt haben.“
Das flüstert Ines ihrem Bruder Axel im Weitergehen ins Ohr. Dann umgibt sie die helle Midsommernacht und begleitet sie auf dem Weg zu ihrer Unterkunft.
Frühstücken ist nicht jedermanns Sache, wenn es zu Hause nur ein Brot mit Butter und Marmelade gibt. Und wer sich dann eine Reise ins Ausland zutraut, der kann viele kleine und große Überraschungen erleben. So ist das eben mit dem Satz: Wenn einer eine Reise tut … Die Tür zum Frühstücksraum des Hotels ist einladend geöffnet. Ein freundlicher Herr im „Pinguin“, oder besser gesagt im Frack, begrüßt freundlich lächelnd die ersten Frühaufsteher. Und dann fällt der noch etwas müde Blick auf eine riesige Tafel. Das kann gar nicht wahr sein!
Schlagartig ist jede Art von Müdigkeit verschwunden. Du bist hellwach. Wo ist denn hier der Anfang aller dieser Köstlichkeiten? Und wo ist das Ende? Und dann beginnt eine erste, neugierige Umrundung der Ausstellung. Da stehen zuerst Krüge mit Orangensaft, daneben Schalen mit verschiedenen Flocken. Es folgen große Kannen mit frischer, warmer und kalter Milch. Auch Buttermilch gibt es. Dann gekochte Eier in einem hübschen Warmhaltekorb. In den nächsten Schüsseln warten Heringssalate in weiß, rot oder einfach sauer angemacht, sogar Rote-Bete-Salat fehlt nicht. Auch Gewürzgurken laden zum Probieren ein.
Danach reihen sich große Bretter mit verschiedenen Käsesorten neben Wurst- und Schinkenplatten ein. Alles sieht äußerst lecker aus und Hunger macht sich breit. Doch die Tafel ist noch nicht zu Ende. Eine große Fülle an Brotsorten und süßen Kuchen, dazu Butter und mehrere Sorten Marmelade und Honig erwecken einen paradiesischen Eindruck. Die Qual der Wahl wird immer größer, nachdem aus verschiedenen Behältern an der Wand die Düfte von rösch gebratenen Kartoffeln und gerösteter Dorschleber die Geschmackssinne kitzeln. Dazu mischen sich noch die feinen Aromen von frisch gebrühtem Kaffee. Das ist schließlich ein echter Muntermacher für jeden
Morgenmuffel. Ob jemand das überhaupt schafft, sich einmal um diese Tafel mit ihren Leckerbissen herum zu essen? Oder hält man sich lieber an die häuslichen Gewohnheiten? Es wäre schon wunderbar, wenn man wüsste, wie das alles schmeckt. Wieder die Qual der Wahl. Und dann die Vorstellung, dass man sich so oft selbst bedienen darf wie man Lust hat! Einfach unglaublich! Na gut, heute erst mal bei dem bleiben, was du kennt: wenig Haferflocken mit Milch, ein gekochtes Ei, Toast, Butter, Marmelade und natürlich duftenden Kaffee. Ach ja, und ein kleines Glas Orangensaft zum Probieren darf nicht fehlen.
Auf dem Weg zu einem Tisch verschämte Blicke auf die anderen, ob sich deren Teller etwa auch so biegen? Na und ob! Die haben noch ganz anders aufgeladen. So ist das also hier bei der ersten Mahlzeit des Tages. Die Leute essen vielseitig und kräftig. Und mit dem Genuss kommt mehr Appetit auf. Vielleicht sind die Salate doch recht lecker? Du kannst einfach einmal von jeder Art einen Teelöffel voll probieren. Das reicht doch schon, oder? Gedacht – getan. Ein frischer Teller und eine neue Runde um das Frühstücksbüffet. Der Vordermann in der Schlange greift gerade bei den Heringssalaten kräftig zu. Er dreht sich um, sieht deinen zögerlichen Blick und meint dann
in gebrochenem Deutsch: „Ein Teelöffel voll von jeder Sorte – einfach Genuss pur. Reicht bis zum Abendessen.“ Er lacht. So kommt es, dass du mit dem frischen Teller voller Fischköstlichkeiten, mit Rote-Bete-Salat und Essiggurke dekoriert, an deinen Platz zurück wanderst. Und der Herr hatte wirklich Recht. Von jeder Sorte nur ein Mund voll … mmmh. Ein Blick zu den anderen Gästen zeigt, dass viele schon wieder zu den Leckereien unterwegs sind. Allein schon dieser Anblick ist gewöhnungsbedürftig. Na, eine Kleinigkeit hat auch bei dir noch Platz. Also auf in die dritte Runde. Winzige Versuchsportionen von Käse, Wurst und Schinken runden den
heutigen Frühstücksmarathon ab. Und wie delikat das alles schmeckt! Einfach ein Hochgenuss.
Gut gesättigt kannst du getrost das Mittagessen ausfallen lassen. Und die Vorfreude auf das Abendessen wird umso größer werden.
Dies alles im Jahr 1969 in einem norwegischen Luxushotel. Und dann noch zwei Wochen lang. Ein tiefer Seufzer entringt sich deiner Brust …
Es sind seltsame Empfindungen, welche dich berühren, wenn dich sein Auge betrachtet, während du als einsamer Schwimmer hinaus gleitest. Aus unendlichen Tiefen schimmert es herauf, heute meergrün und plötzlich klar blau leuchtend. Es spricht nicht darüber, wo das Wesen lebt und webt, zu welchem es gehört. Es ist einfach da und bezaubert dich auf seine ganz besondere Weise. Heute erzählt es in großer Lebendigkeit von der Herkunft seiner Wasser, durch welche es hindurch blickt wie durch klares Glas. „Es sind die still vergossenen Tränen aller
Wesen einer längst vergangenen Zeit, als die Schöpfung ihren Ursprung nahm. Einst waren es Freudentränen, gewürzt mit dem Salz des Universums, damit sich darin das Leben entwickeln und ausbreiten möge. Und dieses erschuf sich in ungeahnter Vielfalt, bis es schließlich gezwungen war, an Land zu gehen und dort neues Leben zu zeugen. Voll Freude begann es sein Werk. Und eines Tages musste es auch in den Luftraum ausweichen, denn es war überaus erfolgreich.“ So berichtet das Auge des Fjordgeistes. Ruhig glänzt die Wasseroberfläche, eingebettet zwischen den kahlen Felsen, die bis in große Höhen aufragen. Wie viele Meter mögen es sein? Vierhundert? Fünfhundert?
Eintausend? Oder gar mehr? Erneut tauchst du ein in die milden Temperaturen des Sommer warmen Wassers und lässt dich hinaustragen, immer aufmerksam beobachtet vom Auge des Fjordgeistes. Wieder sieht es dich verlockend an mit seinem meergrünen Glanz. Über dir leuchten die Firnfelder der großen Gletscher, gleißend in ihrem Weiß, und grenzen sich klar gegen ihre Umgebung ab. Aus mehr als tausend, vielleicht gar zweitausend Metern Höhe grüßen sie herab auf dieses grüne Wasser. Wieder schimmert das Auge des Fjordgeistes lockend und bittend zugleich zu dir herauf. Nach einem kräftigen Atemzug folgst du seinem Winken und tauchst hinab in unbekannte Welten. Wie
tief wirst du tauchen können? Wie lange reicht die Luft? In diesem Augenblick beginnt der Fjordgeist zu lächeln und mit einem großen Wasserstrahl prustet er dich wieder nach oben. „Sei nicht so vermessen und suche die Tiefe zu erforschen. Dein Körper kann dort ungeschützt den herrschenden Kräften nicht widerstehen. Schließlich sind die Wasser unter dir so tief wie die Berge über dir hoch sind. Und der Fjordgeist wird alles tun, um sein Geheimnis zu wahren. Schließlich gibt es hier ebenso viele Klüfte, Schründe, Höhlen und Abgründe, um sich darin zu verbergen wie in den Gebirgen oberhalb. Aber du sollst dich an allem erfreuen, was dein Auge in dieser schönen Welt sieht.
Genieße es in vollen Zügen. Und hüte die Schönheit, die du siehst, denn sie ist auf ewig die größte Kostbarkeit dieser Erde.“ Augenblicklich verdunkelt sich das Auge des Fjordgeistes und versinkt in den unergründlichen Tiefen der salzigen Tränenflut. Die Sonne aber wirft einen goldenen Spiegel über das Wasser, in welchem die Berge und Gletscher ihr Bild selbst erkennen und sich daran erfreuen können. Ein Raunen läuft plötzlich durch das Tal des Fjordes und aus allen Gräsern, Blumen und Bäumen kann man das leise Flüstern hören: „Ein Wunder ist geschehen, denn der Fjordgeist erwacht nur einmal alle tausend Jahre. Ihr solltet ihn ernst nehmen. Schützt,
was euch lieb ist.“
Eine melancholische Melodie scheint durch den abendlichen Park zu fließen, einmal ein wenig leiser und dann wieder deutlicher. Voller Sehnsucht, voller Trauer, voller Tränen. Unter den alten Bäumen webt schon die Dämmerung ihr sachtes Gespinnst. Aus den Fenstern des schönen, alten Holzhauses dringt hie und da gedämpftes Licht. Vor dem Eingang der Villa Menschen in festlicher Kleidung. Der Veranstaltung angemessen, unterhält man sich nur leise. Es klingt wie das ferne Murmeln eines Baches. Als die Doppeltüre aufschwingt, verstummen die Menschen und betreten feierlich gemessenen Schrittes die ehemalige
Heimstatt dieses großen Komponisten. Troldhaugen nimmt uns in seine Arme auf. Über weiche Teppiche führt der Weg, vorbei an antiken Möbeln, die von Wohlstand sprechen. Die schön lackierten, hölzernen Wände, von den Jahren gebräunt, wirken sehr anheimelnd. Die Flure und Räumlichkeiten des Erdgeschoßes werden von Kerzen beleuchtet, die in Wandleuchtern oder großen Lüstern aufgesteckt wurden. Es ist, als ob die Musik aus allen Ritzen quellen würde. Leise Töne glaubt man überall zu vernehmen, wenn man seine Ohren öffnet. Inspirierend das wunderschöne Holzhaus, der wilde Park und die großartige Natur, die einem hier auf Schritt und Tritt wunderbare Märchen und anrührende
Geschichten erzählt. Der ideale Ort also für einen großartigen Komponisten. Im Musikzimmer bilden der große Flügel und das darüber hängende Bild einer Flusslandschaft den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Rest des Raumes ist mit einer bunten Mischung aus allerlei Stühlen gefüllt. Offensichtlich wurden sie aus allen Räumen des Hauses hier zusammen getragen. Die große Doppeltür gegenüber dem Flügel ist ebenfalls weit geöffnet und der angrenzende Raum, genau wie das Musikzimmer, mit Stühlen der verschiedenartigsten Herkunft gefüllt. Die Menschen, welche das Konzert erleben wollen, scheinen Einheimische zu sein, abgesehen von der Hand voll Fremder, für
welche es zufällig noch zu einigen Konzertkarten gereicht hat. Ab sofort werden Unterhaltungen nur noch flüsternd geführt. Man bereitet sich auf das große Ereignis vor, auf das Konzert mit Musik von Edvard Grieg, gespielt in seinem Haus, in seinem Musikzimmer. Andächtige Stille breitet sich aus, als der Pianist seinen Platz einnimmt. Leise und zart ziehen die ersten Töne durch die Räume wie Frühlingsluft, perlen dann wie Vogelmelodien oder strömen wie das Rauschen wilder, ungezähmter Wasser. Die schönsten Melodien Griegs erfüllen den Abend mit ihrem Zauber und werden wunderbar ergänzt von Volksliedern seiner Heimat. Einige junge Mädchen in Tracht tragen diese vor. Heitere
und traurige Lieder, sogar richtig lustige oder sehnsuchtsvolle. Selbst Tanzlieder fehlen nicht. Darüber geben allerdings nur die Gesichter der Zuhörer Aufschluss. Den wenigen anderen bleibt ihr Inhalt wegen der fremden Sprache leider verschlossen. Einen weiteren Höhepunkt bildet die Abschlussmelodie. Piano und Geige ergänzen sich darin gegenseitig auf so einzigartige Weise, dass sich am Ende alle Zuhörer für den wohlverdienten Applaus spontan von ihren Stühlen erheben. Solch ein Konzert ist ein bleibender Höhepunkt in der Erinnerung und kann nur selten übertroffen werden. Als die Besucher nach dem schönen Konzert wieder im Park stehen, hören sie noch einmal
aus den geöffneten Fenstern des Musikzimmers ganz leise jene zarte Melodie, die im Anfang durch den Park zog. Jene Melodie, die so sehnsüchtig klingt, so traurig und so voller Tränen.
Dort, wo sich die Straße auf der Hochfläche in endloser Ferne zu verlieren scheint, tauchen plötzlich ein paar kleine Rundzelte auf. Acht kaum gerade gewachsener Stangen bilden ein Gerüst, kreisförmig aufgestellt, an den Spitzen kunstvoll in einander verhakt. Große Decken aus Haarfilz, rasch darauf geworfen, umhüllen die hölzernen Ständer und bilden ein wasserdichtes Zelt. Davor sitzen ein paar Menschen, in erster Linie Kinder, in farbenfroher Kleidung. Es sind Samen, besser bekannt als Lappen. Das ist ein Volksstamm von Nomaden, die im Norden Norwegens, Schwedens und Finnlands leben.
Sie sind mit den Mongolen verwandt, sprechen eine eigene Sprache, pflegen ihre eigene Kultur und ihre eigenen Traditionen. Mit ihren Rentierherden ziehen sie ganzjährig umher und leben von dem, was ihnen ihre Tiere geben. Sie sind hervorragende Lassowerfer und Künstler bei der Herstellung von Werkzeug und bunten Trachten. Kleine Schnitzereien aus Rentierknochen und geflochtene Bänder verkaufen sie auch an vorbei fahrende Besucher. Die Menschen, die bei diesen Zelten zurück geblieben sind, lachen uns freundlich an und zeigen gegen ein paar Münzen gerne, wie sie leben. Die mit Steinen abgesicherte Feuerstelle, der große Wasserkessel, ein mit
vielen Gebrauchsspuren gezierter Kochtopf, Teller und Becher aus Aluminium oder emailliertem Blech, ein bisschen Besteck scheint schon die Küche auszumachen. In verschieden großen Truhen werden offensichtlich Kleidung und Bettzeug aufbewahrt. Verschiedene, auf dem Boden ausgelegte Teppiche, selbst gewebt, sowie Rentier- und Ziegenfelle machen die Zelte wohnlich. Die Menschen selbst fallen durch ihre dunklere Hautfarbe und vor allem durch ihre runde Gesichtsform, die blauschwarzen Haare und die sehr schmalen, dunklen Augen auf. Ihre Kleidung ist für uns besonders interessant. Leuchtend blau ist der Grund, breite Stickborten in roter und
gelber Farbe fallen besonders auf. Alle tragen, soweit man das erkennen kann, leuchtend rote Strickmützen, welche an Zipfelmützen erinnern. Auch sie sind mit bunten Borten reich verziert. Von den Männern keine Spur. Sie sind offensichtlich mit den Tierherden unterwegs. Ob das schwere Arbeit ist, ob das Leben schön oder eher langweilig ist, ob beschwerlich und mühsam, keiner kann uns diese Fragen beantworten, denn niemand spricht unsere Sprache. Wir können uns nur durch Gesten und Lächeln verständigen. Doch die Menschen, die uns hier begegnen, und ihre Lebensweise regen zum Nachdenken an. Alles, was der Mensch unbedingt zum Leben
braucht, haben sie bei sich. Tiere, welche ihren Lebensunterhalt sichern, Hausrat, Kleidung und Wohnung. Und alles ist auf ein Minimum beschränkt. Sogar Fortbewegungsmittel führen sie bei sich. Und mit der Welt sind sie wohl verbunden, wenn die Einheimischen vorbeikommen und sich mit ihnen unterhalten. Sie führen ein einfaches Leben und sie scheinen glücklich zu sein mit dem Wenigen, das sie besitzen. Wie sieht das bei mir und bei dir und den anderen aus? Manche lassen beim Campingurlaub den großen Ballast zu Hause. Sie reisen mit ganz wenig, brauchen kaum Geld, lernen nette, gleich Gesinnte kennen und haben viel Spaß. Mit schwer bepackten, winzigen und
uralten Autos oder dem Motorroller wagen sie weite Reisen in den Süden, welcher schon für Künstler aller Zeiten ein Sehnsuchtsziel war. Auf diese Weise können sie ihren Traum verwirklichen, ihren Traum vom einfachen Leben. Und sie erholen sich gut. Sagen sie. Ob sie für immer so wenig besitzen wollen wie beim Camping? Darauf möchten sie keine Antwort geben. Andere haben das Rucksackreisen für sich entdeckt und mit sehr geringem Aufwand ziehen sie weit durch die Welt. Von fernen Zielen träumen sie: Afrika, Asien, Nord- oder Südamerika, ja sogar Australien und Neuseeland stehen auf ihrer Wunschliste. Als Blumenkinder machen sie von sich reden. Geld? Das haben sie selten oder nie. Aber
mit ein wenig Hilfe hier und dort, mit Betteln oder vielleicht sogar Arbeit kommen sie ihrem Traum vom einfachen Leben nahe. Reich an Lebenserfahrung und Abenteuern kehren sie in ihren Alltag zurück. Was nehmen sie daraus für ihre Zukunft mit? Wir, meine Reisegenossen und ich, werden mit kleinem Gepäck von Luxushotel zu Luxushotel gefahren. Und schon beim kleinen Gepäck gibt es enorme Unterschiede. Der eine reist wirklich mit einem winzigen Koffer, der andere braucht für eine einzige Person einen riesigen Schrankkoffer. Der eine erlebt diese Reise als Lebenstraum, der andere als erstes Abenteuer in der Ferne, wenn auch wohl behütet und organisiert von einem
Reiseunternehmen. Und der Wunsch nach dem einfachen Leben, welches wir bei den Samen beispielsweise so bewundern? Wir wollen uns den Luxus dieser Reise wirklich gönnen, weil wir ihn zu Hause nicht haben. Viele junge Familien haben nicht das nötige Kleingeld für Reisen jeglicher Art. Sie bleiben zu Hause. Per Fahrrad oder zu Fuß erkunden sie mit ganz wenig Aufwand ihre schöne Heimat. Auch sie erleben richtige Abenteuer, wenn sie Tropfsteinhöhlen erkunden, Berge und Burgen entdecken, eintauchen in Märchen und Sagen und abends in einem Biergarten ihre mitgebrachten Vesperbrote verzehren. Und nebenbei lernen sie Gleichgesinnte kennen und können möglicherweise Freundschaften
fürs Leben knüpfen. Welch eine Lebensqualität! Und sehr Reiche flüchten per Flieger aus ihrer Luxuswelt in eine gänzlich andere Luxuswelt. Eine Welt, in der vieles in Gold glänzt, in Seide gehüllt und in tropischen Zauber getaucht ist. Aber hinter die Fassaden schauen sie nicht. Hinter die Fassaden einer geteilten Welt. So also sieht unsere Welt aus, wenn wir durch unser Leben reisen. Unser Leben, ein Nomadenleben. Ob wir mehr oder weniger Gepäck aus der Vergangenheit mit schleppen wollen. Ob wir uns durch Verzeihen und Vergebung den Luxus der Leichtigkeit des Reisens gönnen. Ob wir bereit sind, uns offenen Herzens und offenen
Auges auf Abenteuer einzulassen. Ob wir mit den Augen der Liebe und des Verstehens die Andersartigkeit jedes einzelnen Menschen respektieren und viele Freunde finden. Ob wir neugierig und frohen Herzens reisen oder verbittert unsere Reisezeit nur absitzen.
Die Wahl und auch die Entscheidungsfreiheit hat jeder für sich. Auch die Möglichkeit, einen Weg um der Umkehr willen zu verlassen und einen anderen einzuschlagen.
Dann also: GUTE REISE !
Elegant gleitet das schlanke Boot aus der schützenden Bucht. Mit kräftigen, rhythmischen Ruderschlägen treiben die Männer das Schiff rasch voran. Sie wollen den Sund noch überqueren, solange der Wind günstig steht. Als sie die letzte Felsnase umrundet haben, ziehen sie geschwind das große Segel am Mast hinauf. Mit dem Wind von Achtern werden sie mindestens doppelt so schnell vorankommen. Kraftvoll tauchen sie die Ruder ins Wasser, das heute erstaunlich ruhig ist. Hoffentlich wird es so bleiben, bis sie die nächsten Inseln in Sicht haben. Sie wollen ihren König würdig empfangen,
wenn er mit seiner jungen Königin in seine Heimat zurückkehrt. Reichliche Vorräte haben sie an Bord genommen. Gesalzenen, getrockneten Fisch, dazu auch größere Mengen Trockenfleisch. Dann hart gebackene Brotfladen, die lange haltbar sind. Alles wurde sorgfältig in Ledersäcken verstaut und dann noch in mit Teer getränkten Leinensäcken, die gut vor dem Meerwasser schützen. Auch süßes Wasser ist in Lederschläuche gefüllt an Bord gebracht worden. In geeigneten Behältern nehmen sie sogar stark gebrautes Bier auf ihre Reise mit. Alle Vorräte werden noch einmal von grobem Segeltuch gegen die Unbilden der Witterung geschützt. Auf Frischkost in Form von Gemüse müssen sie
in den nächsten Tagen verzichten. Sechs Mal zehn Männer teilen sich die Arbeit an den Riemen. Es wurde vorher genau festgelegt, wer zu welcher Zeit und wie lange als Ruderer arbeitet. Das Steuerruder können sie gekonnt festzurren, wenn sie erst ihren Kurs gefunden haben. Bei Tag dienen ihnen die Sonne und die Strömungen des Meeres als Navigationshilfe, bei Nacht vertrauen sie sich den Gestirnen an. Und sie haben alle sehr viel Erfahrung auf See. Ein paar Männer sind unter anderem für die Verpflegung verantwortlich. Natürlich wird gefischt und an einer besonders abgesicherten Stelle des Schiffes gibt es sogar Raum für eine Feuerstelle, über der gekocht werden kann.
Lange Schlafzeiten werden sie sich sicherlich nicht gönnen. Sie müssen oft den Platz an den Riemen mit dem harten Lager tauschen, welches sie auf den Planken des Schiffes errichteten. Dadurch bleiben sie ausdauernder. Doch sie sind Seeleute und daran gewöhnt. Ein quer über das Schiff gespanntes Segeltuch schützt sie vor Salzwasserspritzern oder zu viel Sonne. Und da der günstige Wind ein Einsehen hat und mit gleich bleibender Stärke bläst, bleiben mehr Zeiten als gedacht zum Kraft schöpfen. Während dieser mehrtägigen Reise weht ein frischer Wind beständig aus der gleichen Richtung. So erreichen sie früher als gedacht ihr Ziel: die Insel der kleinen Pferde. Groß ist
die Freude, als sie am Ufer des Meeres die Zelte ihres frisch vermählten Königs sehen. Es ist ein beinahe fürstlicher Empfang, der ihnen geboten wird. Hier können sie sich zunächst ein paar Tage Ruhe gönnen, ehe der König mit seiner jungen Frau auf ihrem Schiff die Heimreise antreten wird. Sie werden daheim doch schon sehnlichst erwartet von ihren Frauen und Kindern. Für eine glückliche Rückkehr beteten sie zu den Göttern des Meeres und des Windes und brachten denen entsprechende Opfer dar. Mehr und mehr versank ich in meinen Träumen, während der Museumsführer seine Informationen über die technischen Einzelheiten des Gokstad-Schiffes vor uns ausbreitete.
So ähnlich könnte doch damals eine Fahrt mit einem der Wikingerschiffe abgelaufen sein, wie sie in diesem Museum ausgestellt waren.
Vielleicht! Wer weiß das schon? Hoffentlich hatten sie auch allezeit eine Hand breit Wasser unter dem Kiel.
Zentaur Liebe Heidemarie, Deine wunderschönen Geschichten aus dem Land der Fjorde ließen mich teilhaben an deiner Traumreise. All deine Episoden haben ihren eigenen Charme, ich kann gar nicht sagen, welche mir am besten gefallen hat. Es waren schon unsere Ahnen, die aus der Not heraus loswanderten und ihre Spuren überall hinterließen. Für viele Menschen wandelte sich der einstige Reisefrust in Reiselust. Und ich denke die große Völkerwanderung ist längst noch nicht beendet. LG Helga |
NORIS Ich freue mich sehr, dass Du mich auf meiner Reise begleitet hast ebenfalls in den Zauber des Nordens eingetaucht bist ... ich glaube, dass Menschen immer wandern werden sei es aus Neugier sei es aus Not, das zeigt die Menschheitsgeschichte deutlich ... die Frage ist nur, wie es weitergehen wird ... Über Deine Belohnung mit Herz und Beutel freue ich mich sehr. Liebe Sonntagsgrüße Heidemarie |
welpenweste Frogner Park: Ein etwas anderer Lebenslauf! Die Gletschermännchen: Eine Reise mit Hilfe der Gletschermännchen. Nicht nur unterhaltend, sondern auch lehrreich. Die Idee die Sage mit einer lehrreichen Reise der Kinder zu verbinden ist mir einen Favo wert. Nicht zuletzt auch wegen der reizenden Ausführung! Nichts für Frühstücksmuffel: Ich persönlich nehme recht wenig zum Frühstück ein. Gewaltige Berge von köstlichkeiten würden bei mir in Null Komma nichts an Grenzen stoßen, vielleicht leider, vielleicht aber auch nicht so schlecht, wenn man 14 Tage lang damit konfrontiert ist .-) Auge in Auge mit dem Fjordgeist: Immer wieder erstaunt es, wie viel Wahrheit in alter Mär steckt. Tatsächlich kam das Wasser in erdgeschichtlicher Zeit durch Meteore und Kometen auf unsere Erde. Solveigs Lied Edvard Grieg, Norweger, Komponist und Pianist der Romantik – wie gut mag es in den Frogner Park passen. Nomadenleben: Es fängt so interessant an und gleitet dann zu Überlegungen der modernen Reiselustigen über, die mit wirklichen Nomaden eben ganz und gar nicht vergleichbar sind. Schade, denn der Schreibstil ist nach wie vor flüssig und angenehm. Auf Großer Fahrt: Das Gockstadt Schiff ist berühmt. Diese Geschichte gefällt mir wieder ausnehmend gut. Das ist lebendig Machen von Geschichte. Ich bin sehr gerne auf Reisen gegangen! Lg Günter |
NORIS Für diesen wunderbaren und ausführlichen Kommentar würde ich Dir gerne einen Favo geben muss es aber leider bei einem sehr HERZlichen Danke und einer Handvoll klingender Münze belassen. Du hast mir damit eine riesengroße Freude bereitet, die von Deinem Favo noch gekrönt wird. Liebe Grüße und ein schönes Wochenende Heidemarie |
welpenweste Ich betone es immer wieder: Ich vergebe grundsätzlich keine "Gefälligkeits-Favos". Wenn ich einen für Wert halte, steht der Günter voll dahinter! Nimm es einfach als wohlverdientes Lob. Ich kritisiere ja auch. Günter Bunkt! |
EllaWolke Ein wirklich schönes Buch und Lomi und Lumi haben mich an einen Urlaub in der Hohen Tatra erinnert, wir hatten Glück zu dem Zeitpunkt noch die Eishöhle besuchen zu dürfen. Auch wenn mir damals die Knie geschlottert haben erinnere ich mich gern zurück. Danke :) Liebe Grüße Ella |
Gaenseblume Wunderschön geschrieben,in Gedanken könnte ich Dich begleiten. LG Marina Gaenseblume |