Ich bemerke nicht sofort, dass er gekommen ist und erschrecke ein wenig, als ich ihn da sitzen sehe.
So hatte ich ihn mir gar nicht vorgestellt.
Eigentlich hatte ich mir nie vorgestellt, wie er aussieht.
Weshalb auch?
Ich war mir immer sicher, dass er da war.
Ich war mir sicher, dass er für mich da war.
Dass er mich begleitete, wohin auch immer meine Wege mich führten und meine Füße mich trugen.
Wie er aussah, war mir bisher völlig egal. Es war einfach nicht wichtig für unsere Beziehung und unsere gemeinsame Zeit.
Aber jetzt sitzt er da und sieht mich an.
Einfach so. Ohne ein Wort zu sagen.
Wie gesagt, ich habe ihn zuerst auch gar nicht bemerkt; bin wie immer ziemlich beschäftigt.
Ich weiß nicht, ob er da schon eine Stunde, eine Minute oder vielleicht schon den ganzen Tag lang auf unserer Gartenbank gesessen hatte.
Ich bin hin und her gelaufen, räumte Sachen in Schränke und Regale, hob Dinge vom Boden auf und legte sie zurück an ihren Platz. Nebenbei bereitete ich mich auf meinen morgigen Arbeitstag vor, half den Kindern bei den Hausaufgaben, checkte den übersichtlichen Inhalt unseres Kühlschrankes und goss die Blumen.
Und gerade als ich mich leise stöhnend,
weil es keine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist, ans Unkrautzupfen mache, registriere ich ihn.
Verwundert sehe ich ihn an. Was machst du hier?
Ich sitze hier auf deiner Gartenbank und schaue dir zu, sagt er.
Hm, mache ich, und ziehe die Augenbrauen nach oben. Hab ich etwas falsch gemacht, weil du persönlich kommst?
Doch er schüttelt den Kopf. Nein, hast du nicht. Ich bin gekommen, weil du es so wolltest.
Ich krame in meinem Kopf herum, wann ich mir seinen Besuch gewünscht habe. Ich ziehe Gehirnschubladen auf und schiebe sie wieder zu. Und da entdecke ich
unter vielen anderen den Moment, in dem ich mir wirklich gewünscht hatte, dass er mal vorbei kommt und ich ihm meine Fragen stellen kann. Fragen, die mir schon so lange im Herzen liegen und auf der Seele brennen. Jede von ihnen. Und ich habe mir gewünscht, dass er sie mir alle beantwortet, während er neben mir sitzt, er mich ansieht und ich ihn auch ansehen kann.
Wie gesagt, habe ich ihn mir nie vorgestellt, aber jetzt schaue ich ihn verlegen von der Seite an. Darf ich das überhaupt, überlege ich still.
Zu meiner Überraschung nickt er. Du darfst, sagt er.
Und ich spüre, je länger ich ihn betrachte,
dass er genau so ist, wie ich ihn mir vorgestellt hätte.
Nicht zu groß, nicht zu klein. Nicht zu dünn, nicht zu dick. Sportlich durchtrainiert, Dreitagebart. Die Frisur genau richtig, die Augen sanft und freundlich. Sympathisch, denke ich und er lächelt mich an.
Setz dich zu mir und sag mir, was du von mir wissen willst, meint er und lädt mich auf meine Gartenbank ein.
Mit einem fast entschuldigendem Blick zeige ich auf die Beete und das Unkraut. Das muss ich noch schaffen, meine ich.
Doch er klopft leicht mit seiner Hand auf den Platz neben ihn. Ach was, das Unkraut läuft dir nicht weg. Das ist morgen auch
noch da. Er schmunzelt ein bisschen, als er das sagt.
Leider, denke ich. Doch ich streife die Handschuhe ab und lasse mich neben ihm auf der Bank nieder.
In diesem Augenblick wird mir ganz leicht zumute und ich denke nicht mehr an die vielen Dinge, die ich heute eigentlich noch schaffen will, schaffen muss.
Frag mich, was du auf dem Herzen hast, ermuntert er mich.
Ich weiß nicht so recht, ob ich das kann. Aber er schaut mich erwartungsvoll an.
Mein Leben, beginne ich, weshalb ist es so und nicht anders? Weshalb war es an vielen Stellen so schwierig, obwohl es für dich ein Leichtes gewesen wäre, es anders
zu machen.
Und ich beginne von dem Kind zu erzählen, das in meiner Seele wohnt und immer noch jeden Nacht weint. Davon, dass es sich allein fühlt, betrogen, verachtet, verspottet. Davon, dass es sich schwach fühlt, missverstanden, nutzlos. Davon, dass es gerne anders wäre. Davon, dass es gerne anders gelebt hätte. Davon, dass es müde ist vom Kämpfen.
Wieso musste ich mich immer gegen andere behaupten? Warum verlief mein Leben nicht so, wie das der anderen? Immer habe ich mich mit den anderen verglichen. Warum musste ich immer und immer wieder kämpfen, um vor den anderen zu bestehen?
Die Fragen sprudeln nur so aus mir heraus. Und all das, was ich ihm schon sooft im Stillen gesagt hatte, breite ich nun hier auf meiner Gartenbank vor ihm aus.
Als ich fertig bin, sieht er mich lange schweigend an. Dann nimmt er meine Hände in seine. Ich spüre, wie ein warmer Strom in meine Fingerspitzen, meine Hände, meine Arme und von dort aus durch meinen ganzen Körper fließt.
Weil es dich stark gemacht hat. Weil es dir geholfen hat, dass du dein Leben weiterlebst, so wie es jetzt ist. Weil du dadurch gelernt hast, nicht sofort aufzugeben. Weil du dadurch entdeckt hast, wie es ist, zu vertrauen.
Aber es nervt, wenn man immer nur kämpfen muss, sage ich.
Aber du hast die schwierigen Zeiten überstanden, oder?, fragt er.
Ich nicke. Aber es wäre leicht für dich gewesen, sie gar nicht schwierig sein zu lassen, sage ich fast ein bisschen trotzig.
Ja, da hast du Recht. Aber ich wusste schon vorher, dass du es schaffst.
Und die Schmerzen?, frage ich. Weshalb hast du die Schmerzen auf meiner Seele und in meinem Herzen zugelassen? Ich habe sooft gehofft und vertraut, aber immer wieder musste ich erfahren, dass es scheinbar umsonst war.
Bist du daran zerbrochen?, fragt er. Konntest du deshalb nicht weiter leben?
Ich denke nach. Nein, sage ich leise, es ging immer irgendwie weiter.
Du hast Kraft bekommen, dass du weiter machen willst, dass du es anders machen willst. Und ich war immer an deiner Seite.
Ich weiß, gebe ich zu, ich habe dich gespürt. Nur manchmal hatte ich das Gefühl, dass du weit weg warst.
Er schaut mir tief in meine Augen. Und ich sehe in seinen die ganze Liebe, die er für mich empfindet.
Ich war nie weiter weg von dir, als du denken kannst. Du hast vielleicht gedacht, dass ich weit entfernt bin, aber glaube mir, ich war immer da. In jeder deiner leuchtenden und in jeder deiner dunklen Sekunden war ich neben dir, hinter dir, vor
dir, unter dir, über dir.
Und meine Lebensträume?, frage ich ein wenig beleidigt und denke an sie zurück an all die Wünsche und Vorhaben. Viele von ihnen sind nicht in Erfüllung gegangen. Ich hatte so große Ziele. Kaum eines davon habe ich erreicht.
Wirklich?, fragt er und sieht mich erwartungsvoll an. Schließe deine Augen, fordert er mich auf.
Ich lehne mich zurück und schließe meine Augen. Und schon ziehen Bilder in mir vorrüber. Der Film ist mir bekannt. Ich sehe mich auf der Gedankenleinwand. Ich sehe mich in all den glücklichen Momente meines Lebens, mit Freudentränen in den Augen, mit Lachen im Gesicht.
Stimmt, du hast Recht, meine ich kleinlaut, all die Tränen haben die Lichtblicke meines Lebens verschleiert.
Er erhebt sich. Erschrocken springe ich auf. Du willst schon gehen? Ich habe doch noch so viele Fragen an dich. Du kannst mich nicht schon wieder allein hier zurück lassen.
Er nimmt mich in die Arme und drückt mich fest an sich. Ich gehe nicht weg. Ich lass dich nicht allein, mein Kind. Ich bin immer bei dir, das weißt du doch.
Dann drückt er mir einen sanften Kuss auf meine Stirn, streichelt über mein Haar.
Er fasst mich mit der Hand unters Kinn und hebt meinen Blick zu ihm auf.
Vergiss mich nicht, sagt er. Selbst, wenn
es dir schwer fällt, zu glauben, dass ich da bin.
Als es im Haus längst still geworden ist und die Dunkelheit der Nacht sich um mich ausgebreitet hat, flüstere ich mit einem Lächeln im Gesicht: Danke, dass du da bist, Papa.