Goldader
Martin ist Hobbygeologe und begeisterter Wanderer. Wenn er durch die Mittelgebirge streift, trifft er gelegentlich auf alte, längst wieder verschlossene Stollen. Natürlich interessiert er sich sofort dafür. In den jeweiligen Gemeinden kommen dann Dokumente ans Tageslicht, die berichten, dass hier im Mittelalter oder früher, manchmal sogar noch später Bergbau betrieben wurde. Und weil Martin davon überzeugt ist, dass auch unsere Gewässer heute noch Gold enthalten, hat er sich einfaches Werkzeug beschafft, um aus dem Sand der Bächlein und Flüsschen Gold zu
waschen.
Zuerst schlugen alle Versuche fehl, denn Martin musste erst den Umgang mit seiner Waschschüssel lernen, wie er das Ganze scherzhaft nennt. Eines Tages aber schenkt ihm das Glück einen ersten Fund. Ein paar winzige Körnchen so groß wie manche Blumensamen. Martin ist überglücklich. Und der Fachmann, zu welchem er die Körnchen bringt, bestätigt die Richtigkeit seines Fundes. Immer öfter nimmt Martin jetzt seine Waschschüssel mit, wenn er zu seinen Wanderungen aufbricht. Immer häufiger kommt er mit kleinen Goldfunden nach Hause. In einem kleinen Schraubglas werden die winzigen Körnchen und Stäubchen aufbewahrt.
Eines Tages ist nicht mehr der Hobbygeologe und Wanderer Martin unterwegs, sondern ein ehrgeiziger Goldwäscher, der von einem ganz großen Fund träumt. Er bereist alle für ihre Goldfunde bekannten Länder der Welt. Immer wieder findet er kleinere und gelegentlich größere Bröckchen pures Flussgold, aber es reicht ihm immer noch nicht. Obwohl ihn Frau und Kinder verlassen haben, alle seine Freunde sich zurückgezogen haben und er aus seiner Firma entlassen wurde, zieht es ihn weiterhin in die Einsamkeit.
Unter beinahe Menschen unwürdigen Umständen haust er in seinen selbst gebauten Camps, setzt sich freiwillig den
Gefahren und Unbilden der Natur aus, nur um den allergrößten Klumpen Gold aus dem Wasser eines Baches oder Flusses zu waschen. Martin will nicht wahr haben, welche Veränderungen mit ihm geschehen sind, doch alle seine Freunde wissen es längst: Er ist der Gier nach dem Gold erlegen. Sie hat ihn in ihren unbarmherzigen Fängen und wird ihn so schnell nicht loslassen. Ob er je von dieser Krankheit, die man Sucht nennt, geheilt werden kann, weiß niemand.
Eines Tages werden Martins Goldfunde immer geringer, seine Anstrengungen immer größer, mehr Gold zu finden. An seinem Körper beginnt er Raubbau zu treiben. Trotz Krankheit setzt er sich immer neuen
Strapazen aus, um endlich den Riesenklumpen zu finden. Trotz wochenlanger Bemühungen ohne Erfolg hockt er jetzt im Fieberwahn hoch oben im Gebirge an einem Bach, voller Verzweiflung und zum Äußersten entschlossen.
Da steht plötzlich ein Wesen vor ihm, das nur wenig kleiner ist als er. Der Hut ist zerbeult, ein völlig ungepflegter Bart verdeckt beinahe das gesamte Gesicht, die dürftige Kleidung hängt in Fetzen um seinen ausgemergelten Körper. In den Händen hält er Schürfhammer und Waschgerät. Wutentbrannt faucht er Martin an: „Was willst du eigentlich hier in meinem Reich? Scher dich zum Teufel, du ungebetener Gast.“ Als Martin erschrocken aufblickt, schaut er in sein eigenes Gesicht.
Entsetzen durchfährt ihn. Aber dann packt ihn doch wieder der Goldrausch und er antwortet mit einem ganz verächtlichen Unterton: „Was ich wohl will? Na, den größten Klumpen Flussgold auf der Welt will ich hier finden. Und du wirst mir dabei helfen, nicht wahr?“ Der andere Goldsucher lacht dröhnend. Dann wird er plötzlich sehr ernst. Er wendet sich wieder Martin zu, nickt ein paar Mal mit dem Kopf und erwidert: „Na gut, ob das mit dem Goldklumpen etwas wird, kann ich dir nicht versprechen. Aber du hast zwei Wünsche frei. Doch bedenke wohl, wie du deine Wünsche nutzt.“
Martin ist von diesem Angebot wie erschlagen. Er starrt das Wesen an und wittert sofort etwas ganz Großes, etwas, das
ihm unermesslichen Reichtum verspricht, wenn er nur richtig wünscht. Während schon die Goldgier aus seinen Augen funkelt, kratzt er sich noch am Kopf, weil er sich kaum entscheiden kann, wie er den Wunsch formulieren will. Dann scheint er zu einem Ergebnis gekommen und sagt: „Mein erster Wunsch lautet: Bitte schenke mir Goldadern.“ Der andere Goldwäscher lacht ein wenig in sich hinein, ehe er zurück fragt: „Ist das wirklich dein erster Wunsch? Hast du es dir gut überlegt?“ Martin schaut ihn verdutzt an, aber nach einer Weile nickt er ernsthaft. Dann antwortet er sogar: „Ja, das will ich.“ Und dann träumt Martin von den Goldadern, die überall auf der Welt in Bergen versteckt sind und er sieht sich als den reichsten Mann
der Welt.
Auf einmal, während er noch in seinen Tagträumen schwelgt, fühlt Martin, wie sein Körper schwer und schwerer wird, wie er immer weniger Luft bekommt und wie sich in ihm alles verhärtet. Die Blutgefäße auf seinen Handrücken, sonst bläulich durch das fließende Blut gefärbt, beginnen golden zu schimmern. Kurz bevor sein Herz aufhört zu schlagen, schreit er verzweifelt: „Bitte gib mir mein Blut zurück, denn ich will noch nicht sterben.“ Dann wird Martin ohnmächtig.
Wie lange Martin so gelegen hatte, wusste er später nicht mehr. Als er erwacht, ist das Fieber verschwunden, er fühlt sich erfrischt und packt seine Habseligkeiten zusammen. Das Lager ist schnell abgebrochen. Dann
kehrt er in seine Heimat und zu seiner Familie zurück. Seine Goldfunde in dem Schraubglas wird er seinen Kindern schenken.
© HeiO 22-08-2011