Glitter-Girl hockte zusammengekauert im Dunkeln. Schweiß stand auf ihrer Stirn, rann ihr über den freien Rücken bis in das schwarze Viscosegewebe ihres Offshouldertops und schwemmte aufgelöstes Make Up in ihre Augen. Sie hätte gerne noch einmal dem Drang gefolgt, aufzustehen und davonzurennen, doch die tiefen Einschnitte in ihren Handgelenken waren ihr eine Lehre gewesen. Der erste Versuch hatte damit geendet, dass sie erschrocken zurück auf den kalten, rauen Betonboden stürzte, als sie die Fesseln an ihren Händen bemerkte. Sie blieb daher stocksteif und zitternd in ihrer Position und hoffte, betete, dass es ihr bald wieder einfallen würde. Wo war sie und wie war sie hierhergekommen? Nichts. Auch wenn sie mit aller Kraft in ihrem Gedächtnis kramte, sie fand keinerlei
Erinnerungen, die ihr Antworten hätten geben können. Doch, da war etwas! Das Bild das vor ihrem geistigen Auge erschien beruhigte sie ein wenig, sie musste beinahe grinsen. Sie konnte sich plötzlich wieder genau an den großen, attraktiven Mann mit den haselnussbraunen Augen und der geheimnisvollen Ausstrahlung erinnern, dessen Blicke genügten, um sie dazu zu bringen, sich ihm völlig auszuliefern, obwohl sie sich einander völlig fremd waren. Erinnerungen an ihre gemeinsame Nacht im Zimmer 34 des Kensington Olympia Hotel begannen in ihrem Kopf aufzuflammen. Noch nie hatte sie ein Mann derart um den Verstand gebracht, noch nie hatte sie sich einem Mann derart hingegeben. Es kam ihr wie ein Traum vor. Nicht einmal seinen Namen wusste sie, er wollte ihn nicht verraten. Sie hatte es als Herausforderung angesehen, die Aufforderung zu
einem frechen Spiel voller knisternder Erotik. Und so war es auch gekommen. So plötzlich wie sie erschienen waren, verschwanden jegliche Erinnerungen wieder. Glitter-Girl starrte wieder in völlige Finsternis. Hatte er sie hierhergebracht? Sie wusste es nicht. Wer war er überhaupt? Könnte es sein, dass sie auf einen Loverboy hereingefallen war? Nein, unmöglich. Er hätte sich nicht so viel Zeit genommen. Was war sonst geschehen? Sie kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen an, die ihr in die brennenden Augen stiegen. Das Atmen fiel ihr mit dem Klebebandstreifen auf dem Mund ohnehin schon schwer, wenn sie jetzt auch noch zu weinen anfing, drohte sie zu ersticken. Langsam hoben sich vage Formen und Umrisse von der Dunkelheit ab. Sie blickte auf ihre
nackten Füße hinunter und fragte sich, wo ihre Schuhe geblieben waren. In der nächsten Sekunde freute sie sich darüber, sich daran erinnern zu können, überhaupt welche getragen zu haben. Ja! Sie wusste es mit aller Gewissheit, die hautfarbenen 525 Dollar Jimmy Choos. Niemals hätte sie diese Schuhe einfach vergessen, genauso wenig wie sie sich vorstellen konnte, das Hotel barfuß verlassen zu haben. Moment, hatte sie das Hotel überhaupt verlassen? Und dann explodierten auf einen Schlag so viele Geräusche, Bilder, Eindrücke in ihrem Bewusstsein, dass ihr schwindlig wurde. Sie presste ihren Rücken an die kalte Wand und rutschte ein Stück weiter hinunter, die Hände seitlich an den Kopf gepresst, die Augen vor Schreck geweitet. Er hatte sie gebissen, als er auf ihr lag. Nicht neckisch, kein leichter Biss, seine Zähne
bohrten sich scharf und spitz tief in die gebräunte Haut an ihrem Hals. Zuerst hatte sie es als äußerst erregend empfunden, doch dann spürte sie den Schmerz. Er schoss durch ihren ganzen Körper, ihr Blut wie heiße Flammen, die durch ihre Venen züngeln. Mit panischem Ausdruck sah sie ihm ins Gesicht, sah seine langen, blutigen Eckzähne, während er ihren Blick verwundert erwiderte. Sie hörte ihn fluchen, zuerst auf Englisch, dann in einer Sprache, die sie nicht verstand, als es energisch an der Tür klopfte. Sie konnte sich nicht wehren, sie fühlte sich wie betäubt von unsagbarem Schmerz, der zuvor durch ihren Körper gejagt war. So konnte sie nicht verhindern, dass er ihr mit seiner zur Faust geballten Hand gegen die Schläfen schlug. Einmal, zweimal. Sie wusste es nicht mehr. Ihr Bewusstsein verließ sie. Und dann war sie hier aufgewacht, in völliger Finsternis, allein mit ihrer Angst. Diese wurde
auch nicht gerade gelindert, nun da sie wieder wusste, was geschehen war. Ihr Herz pochte so heftig gegen ihren Brustkorb, dass sie bald Angst hatte, ihre Rippen würden brechen. Sie versuchte sich zu beruhigen. Nun hatte sie wenigstens einen Anhaltspunkt. Die schreckliche Erinnerung an seine blutigen Fänge würde sich auf ewig in ihr Gedächtnis einbrennen. Mit dieser Gewissheit, die ihren ganzen Körper umfing, spürte sie, wie ihr Bewusstsein wieder abdriftete. Eine samtig-weich säuselnde Stimme schlich sich in ihren Kopf. „Komm schon Glitter-Girl, wir werden viel Spaß miteinander haben.“ Ein schelmisches Grinsen, sie nahm seine Hand und folgte ihm grinsend in den Aufzug. „Glitter-Girl?“, fragte sie lachend. Er nahm ihre Hand und führte sie sanft zu seinen Lippen, bevor er damit über ihre
schimmernd lackierten Nägel strich. Sie lächelte ihn herausfordernd an, doch ihr Lächeln versiegte, als sie sah, wie seine Augen aggressiv aufblitzten und sich seine Eckzähne immer weiter verlängerten. Er packte sie an den Handgelenken und erstickte mit einem stürmischen Kuss ihre Schreie, seine unmenschlichen Fänge schlitzten im nächsten Augenblick ihre Lippen auf. Sie riss die Augen auf und verspürte sofort das Bedürfnis, sich den Schweiß und das verlaufene Make Up wegzuwischen. Sie hob die rechte Hand bevor sie sie auf halbem Wege sofort wieder zurückzog und eng an ihren Körper presste. Sie war immer noch hier. Wo auch immer hier sein mochte. Und sie wusste, die Albträume würden sie nie mehr loslassen. Wer und vor allem, was zum Teufel war er? Ein Vampir? Ja, klar. Vermutlich der Neffe von Graf
Dracula. Sie wusste, wie fiktiv diese Vermutung war, doch anders konnte sie sich das, was sie gesehen hatte im Moment nicht erklären. Kurz überlegte sie, ob sie ein Kruzifix suchen sollte, um sich damit zu schützen, und verspürte den Drang, in lautes Gelächter auszubrechen, welcher sie jäh an den Klebestreifen über ihren Mund erinnerte. Sie musste unbedingt einen klaren Kopf bewahren, wenn sie hier wieder raus wollte. Und zwar lebend. Atmen. Atmen. Ruhig. Sie horchte angestrengt nach Geräuschen von außerhalb, doch da war nichts. Absolute Stille. Totenstille, kam es ihr in den Sinn. Sie blinzelte mehrmals schnell hintereinander, um den Schweiß aus ihren Augen und den grausigen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, so gut es ihr nun mal möglich war.
Der Raum war etwas heller als vorhin. Sie konnte nun in alle vier Ecken des Zimmers sehen, in dem sie sich befand.
Doch was sie sah, lies sie die Luft anhalten und ihr Herz für einen Moment aussetzen.
Das Angstgefühl kroch schlagartig in ihren Körper zurück, es fraß sich bis tief in ihre Knochen.
Sie würde sterben.