Sonstiges
Molzettas große Reise

Waren die Mäuse anfangs noch etwas schüchtern und getrauten sich kaum ihre Köpfchen zu heben, so gewöhnten sie sich doch schnell an ihre neue Umgebung und fühlten sich bald wie zuhause.

Besonders Pa gefiel es in der Eingangshalle. Das rege Treiben, die fremden Sprachen, die an sein Ohr drangen und vor allem die tollen Autos, mit denen manche Gäste kamen, all das fand er einfach wunderbar.

„Interessant! Wirklich, sehr interessant,“ hörte man ihn immer wieder murmeln.

Auch Mamamaus war mehr als zufrieden mit dem neuen Quartier.

Es gab genug Platz für alle. Die lebhaften Zwillinge Flip und Flop konnten sich nach Herzenslust austoben und sogar Baby Molli hatte ein eigenes kleines Reich.

Nur Molzetta, die ´Prinzessin`, wie sie Pa oft nannte, konnte sich mit ihrem Platz in der Vitrine nicht anfreunden.

„Was soll ich denn hier in diesem Schaukasten, während sich draußen vor der Tür das große Leben abspielt?“, fragte sie sich jeden Tag.

Oft standen Gäste vor der Vitrine, unterhielten sich laut, lachten und scherzten, doch für ein kleines, abenteuerlustiges Mäusemädchen schien sich niemand zu interessieren.

„Dabei bin ich wirklich hübsch“, bemerkte sie ein wenig eitel, während sie sich ihre rot-weiß-gemusterte Schirmmütze frech ins Gesicht zog.

Ob es der Frühling war, der Duft der Veilchen und Himmelschlüssel, der sie auf einmal so kribbelig machte?

Jedenfalls wollte sie so schnell wie möglich hier raus.

Hinaus in die große, weite Welt, weg von den ewig grünen Wäldern.

Sie wollte ferne Länder und große Städte kennen lernen, in einem schicken Auto sitzen und die Ohren im Wind flattern lassen - einfach das Leben genießen.

Für eine kleine Stoffmaus eigentlich gar nicht so leicht zu verwirklichen, was sie sich da vorgenommen hatte.

Doch sie würde es schaffen, davon war sie fest überzeugt.

Und wirklich, der Zufall wollte es, dass am nächsten Tag die Vitrinentür für einen Augenblick geöffnet wurde.

„Molzetta, pass auf!“, hörte sie Mamamaus noch rufen, während sie sich ein ganz klein wenig nach vor beugte, und da war es auch schon geschehen. Ein leichter Windstoß und schon fiel sie tief hinunter, geradewegs in eine schöne, braune Ledertasche, die ein abreisender Gast kurz zuvor hier abgestellt hatte.

Geschafft! Das große Abenteuer konnte beginnen.

Sie machte sich ganz klein, rollte in die hinterste Ecke der Tasche und wartete gespannt auf den weiteren Verlauf der Dinge.

Kurze Zeit später hörte sie eine Kinderstimme, die Tasche wurde aufgehoben und bald darauf  wieder abgestellt. Gleichmäßig summte ein Motor - sie fuhr in einem großen Auto, genauso, wie sie es sich immer erträumt hatte.

Überglücklich drehte sie sich zur Seite und schon war sie eingeschlafen.

Als sie erwachte, fand sie sich in den Händen einer freundlichen Frau wieder, die verwundert fragte: „Ja, wie kommst denn du in unsere Tasche?“

„Das bleibt mein Geheimnis“, wollte sie antworten, doch sie kam nicht mehr dazu, denn eine  Kinderhand packte sie jetzt etwas unsanft.

Ein kleines Mädchen drückte sie fest ans Herz und rief: „Ist die aber süß! Darf ich sie behalten, Mama?“

„Meinetwegen, aber nur so lange, bis wir ihre Herkunft geklärt haben.“

Es folgte eine wunderschöne Zeit für Molzetta. Das kleine Mädchen spielte jeden Tag mit ihr und den anderen Stofftieren, die oben auf der Kommode standen.

Manchmal nahm sie das kleine Mädchen sogar bis zum Fenster mit. Da konnte sie dann auf die Straße hinunterschauen, den vielen Autos und der Straßenbahn zusehen und auch den Menschen, die von heroben, wie kleine Ameisen aussahen. Das also war die große Stadt. Eigentlich ganz nett, nur der viele Lärm machte sie etwas nervös.

Doch dann wurde auf einmal alles anders.

Das Mädchen musste in die Schule. Im Kinderzimmer wurde es sehr ruhig, viel zu ruhig für Molzetta.

Das Mädchen kam zwar nachmittags kurz vorbei, doch viel Zeit zum Spielen hatte es nicht mehr. Aufgaben mussten geschrieben werden, Ballettunterricht und Turnstunden standen auf dem Stundenplan, kurzum jeder Tag war voll ausgefüllt.

Traurig stand Molzetta jetzt neben all den anderen Spielsachen den ganzen langen Tag auf der Kommode.

Die Sonne schien zum Fenster herein, doch sie hörte keinen Vogel zwitschern, keine Blätter rauschten im Wind, nur der Lärm der vielen Autos drang von der Straße herauf.

Immer öfter dachte sie jetzt an Mamamaus, an Pa und an ihre Geschwister im Molzbachhof. Wenn sie sich auch früher oft über die Streiche der Zwillinge geärgert hatte, plötzlich fehlten sie ihr.

Ihre ehemals gesunde, braune Farbe war längst grau und fahl geworden und ihre unternehmungslustigen dunklen Augen hatten jeden Glanz verloren.

„Nächste Woche beginnen die Ferien, dann fahren wir wieder in den Molzbachhof. Wir müssen doch deine Maus zurück bringen“, hörte sie eines Abends die freundliche Frau sagen.

„Muss ich sie wirklich wieder hergeben, Mama? Schade, ich hätte sie so gerne behalten. Aber du hast recht, wahrscheinlich hat sie schon jemand vermisst. Vielleicht gehört sie einem kleinen Kind, das sich freut, wenn ich sie wieder zurückbringe,“ meinte das Mädchen.

„Hurra, es geht nachhause!“ jubelte Molzetta.

Ja, sie hatte tatsächlich ´nachhause´ gesagt.

Plötzlich war sie wieder voller Leben und konnte es kaum erwarten, ihre Heimat und ihre Familie wieder zu sehen.

Für das Leben in der Stadt war sie wohl doch nicht so richtig geschaffen.

Aufgeregt beobachtete sie das Mädchen beim Packen. Am liebsten wäre sie wieder selbst in die Tasche gehüpft, aber diesmal durfte sie die Reise im Rückfenster des Autos antreten.

War das eine Freude, als sie endlich in der Ferne die Türme des Molzbachhofes erkennen konnte.

Und erst der herzliche Empfang – Pa, Mamamaus und alle ihre Geschwister waren gekommen, um sie zu begrüßen. Jeder freute sich über ihre Heimkehr.

Nein, freiwillig würde sie den Molzbachhof nie wieder verlassen, das nahm sie sich ganz fest vor. Jetzt wusste sie genau, wo sie hingehörte.

Trotzdem fiel ihr der Abschied von dem kleinen Mädchen dann doch schwerer, als sie dachte.

Erst als das Mädchen versprach im nächsten Jahr wieder zu kommen, verschwanden die verräterischen Tränen in Molzettas Augen und es gelang ihr sogar ein ganz kleines Lächeln.