1. Rotwalden. 775 ÄIII n.Br. – Fürstentum Ledria Eva Nell schritt derart hastig zwischen den Männern auf und ab, dass ihre Füße in den Sandalen brannten, und doch war die Hitze nichtig gegen die Flammen, die ihren Geist versengten. Auf der einen Seite standen Petron, Locres und zwei ihrer interessierteren Reisebegleiter, die sie nur den Fiedler und den Stummen schimpfte, auf der anderen drei geknickte Soldaten in den blauweißgestreiften Waffenröcken des
Republikheeres. Für sie hatten die Gestalten nicht mehr Bedeutung als die Orangenbäume, welche die Straße flankierten. Bloße Objekte, nichtsnutzig und sperrig. Es zählte nur die Botschaft, die sie ihr überbracht hatten, eine lächerliche Botschaft. „Die Straßen nach Travelle sind gesperrt“, erklärte der Mittlere der drei Soldaten erneut, wobei er sich am Kinn kratzte, doch seine brüchige Stimme entlockte ihr nur ein höhnisches Lachen. Diese Männer hatten Angst, sie konnte es durch ihre stinkenden Röcke riechen, es in ihren glasigen Augen sehen. Sie hatten von Überfällen gesprochen, von
Ausschreitungen in Travelle, von Morden an mehreren Repräsentanten der Republik. Selbst Senator Iverlyn, der das Fürstentum Ledria von Travelle aus verwaltet hatte, sei aus der Stadt geflohen und regiere nun vom ehemaligen Landsitz der Schwarzschilds aus. Schwarzschild, der Name echote durch ihren Geist, wo er nur Hass entfachte. All das klang mehr nach einer offenen Revolte, denn nach Ausschreitungen, all das stank nach Renard Schwarzschild und all das zirkelte um Travelle, den Hort allen Bösen. Sie musste in diese Stadt. „Das kümmert mich
nicht.“ „Niemand kommt…nach Travelle“, wiederholte der Vorsteher des kleinen Trupps, der mittlerweile von einem Bein auf das andere wippte. „Ich bin“, begann sie in einer Lautstärke, die ein Singvogelpärchen aus einem angrenzenden Orangenbaum scheuchte, „Eva Nell von Servyn und Kronsweiher. Ich...“, eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter, doch obgleich die Geste behutsam gewesen war, wirbelte sie wie ein Orkan herum und starrte in Petrons graue Augen. „Iverlyn lässt die Straßen sicher nicht umsonst sperren. Schon mal drüber nachgedacht?“, er sprach, als würde er
gerade eines seiner Pferde tätscheln. In ihr türmte sich der Zorn dem Himmel entgegen. „Das ist lächerlich!“, fauchte sie, „Iverlyn kann sagen, was er will, ich gehe nach Travelle und ihr“, sie wandte sich wieder an die Soldaten, „werdet mich nicht aufhalten!“ „Das werden sie“, aus dem Tonfall des Sprechers wisperte unterschwelliger Ärger. Zum dritten Mal drehte sie sich und sah sich nun einem ihrer ungewollten Reisegefährten gegenüber. Der Stumme. Sie konnte sich kaum wundern, seine Stimme nicht erkannt zu haben, denn im Gegensatz zu seinen Gefährten, dem
Fiedler und Herrn Apfel, hatte er bislang kaum ein Wort gesprochen; und doch war es ihm gelungen, so viel ihrer Aufmerksamkeit zu erregen, dass sie ihn zumindest mit einem Spitznamen gewürdigt hatte. Vermutlich, weil er nicht zu den anderen passt, dachte sie. Sie konnte nicht anders, als den Mann roh zu schimpfen. Entgegen seiner Reisegefährten legte er augenscheinlich keinen Wert auf gestriegelte Kleidung, jedoch wirkte er mit den schweren Muskeln, die trotz seines Alters unter dem Leinenhemd hervortraten um Längen beeindruckender. Die grauen Haare, die ihm bis über die Schultern fielen, und
der Bart, hinter dem sein gegerbtes Gesicht versank, erinnerten sie an einen nordländischen Barbaren, wohingegen jede Geste, jede Bewegung vor militärischer Disziplin strotze. Aber das alles, war nicht, was sie derart auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Sie entsann sich, als sie in die eisblauen Augen blickte und sich irgendetwas in den tiefen ihres Inneren regte, von dem sie nicht wusste was es war oder woher es kam. Es verblieb lediglich die Gewissheit, dass auch diese Unwissenheit nur Zorn in ihr gebar; Zorn und einen Hauch von Furcht. „Wieso sollten sie?“, fauchte sie. „Sie sind drei bewaffnete Männer. Ihr
habt einen“, er strafte Locres mit einem abwertenden Blick, „Denn von uns hier würde sicher keiner ein Schwert für Euch erheben.“ Sie musste nicht erst in die Gesichter der übrigen blicken, um zu wissen, dass er damit nicht falsch lag. Wenngleich einige dieser Leute die Dreistigkeit besessen hatten, um sie zu buhlen, wusste sie doch, dass sie von keinem dieser Männer auch nur einen Hauch Treue zu erwarten hätte, sollte es hart auf hart kommen. Sie alle stammten aus dem ehemals königstreuen Herzen Kalatars und mussten sie sowie die gesamte Republik allein deshalb hassen, wie sie wiederum die Royalisten hasste.
Es würde nie enden. Zu allem Überfluss brandete ihr Verstand an der Mauer der Gewissheit. Der Mann hat recht. Sie konnte die Soldaten nicht überwältigen und ihnen auch trotz ihres klangvollen, aber hohlen Titels auch nicht gebieten. Die Aussicht, dass ihr der Weg nach Travelle vorerst versperrt war, steckte ihren ganzen Körper in Brand. So heiß glühte der Zorn, dass sie es nicht mehr ertrug, still zu stehen und die Blicke der anderen auf sich zu spüren. „Ich will zu Iverlyn!“, blaffte sie, bevor sie auf der Stelle herumwirbelte und an den Männer vorbei zog, um sich wieder
in den Tiefen der Kutsche zu vergraben. Nachdem sie die Türen hinter sich zugeschlagen hatte, pochte ihr Schädel. Ihre Knochen, ja der ganze Innenraum der Kutsche schienen zu klein zu sein für ihren Zorn, der wie ein wilder Stier gegen die Wände donnerte. Die Luft schien sie zu erdrücken, ihr Herz schmetterte gegen ihre Rippen, ihr Körper, ihr Geist sehnte sich danach, endlich den Ruck zu verspüren, mit dem die Kutsche anfuhr, doch ließ dieser bislang noch auf sich warten. Stattdessen drang von draußen nur ein Wirrwarr von Stimmen durch die dunklen Holzwände. Einige gellten vor Heiterkeit, andere trieften vor
Schwermut, was sie jedoch nur mit Gleichgültigkeit strafte. Sie focht ihren eigenen Krieg, einen Krieg, von dem keiner da draußen auch nur die leiseste Ahnung hatte. Nicht Petron, nicht Locres, nicht der unfähige Fiedler, nicht der Narr, der ihr widerliche Äpfel schenkte, nicht der Stumme hinter seiner eisernen Visage, nicht die beiden grobschlächtigen Edelmänner aus Vaska, nicht der Rest in seiner Bedeutungslosigkeit. Renard Schwarzschild hatte sie gebrandmarkt, mit Erinnerungen und Schmerzen, die sich kein Lebender je vorzustellen vermochte, und doch, war er ungesühnt davon gekommen, eine
Häme, die nur noch tiefer schnitt. Sie wusste nicht, was aus dem Mann geworden war, der bis auf ihren jüngeren Bruder Serril ihre gesamte Familie ausgelöscht und ihr Leben mit abgrundtiefer Bosheit ruiniert hatte, aber sie wusste, dass ihre gesamte Existenz nur noch diesen einen Zweck verfolgte: Rache. Es war der einzige Ausweg, die einzige Antwort. Renard… Mit dem Namen flackerten Erinnerungen durch ihren zerrütten Geist, Todesschreien drangen aus brennenden Kehlen in ihre Ohren, Trauertränen
ergossen sich über fahle Wangen, abgetrennte Körperteile, ein Blick in leere Augenhöhlen… Nein! Sie fuhr sich selbst an, sich zu beherrschen, aber es nützte nichts. Die Schrecken der Vergangenheit überrollten sie wie eine Lawine, die sich stets löste, wenn sie sich selbst ausgeliefert war. Sie musste etwas tun, griff in das kleine Fach unter ihrem Sitz und fingerte nach einer der Weinflaschen, die sie erst am Vortag bei einem fahrenden Händler erstanden hatte. Das Behältnis aus dunkelgrünem Glas beherbergte nur noch wenige Schlucke, sodass sie nur hoffen konnte, es würde reichen, um ihre Gedanken einmal mehr
niederzuschlagen, als sie den Wein in ihren Rachen goss. Während er ihre Kehle hinunter rann, spürte sie, dass sich die Kutsche in Bewegung setzte. War zuvor noch jeder Muskel, jede Sehne bis zum Zerreißen gespannt gewesen, erschlaffte alles in einem einzigen Atemzug und der Zorn verpuffte, als hätte man einen längst überspannten Bogen endlich abgefeuert. Hastig tat sie ein paar weitere wohltuende Atemzüge, bis die Luft nicht mehr so schwül und stickig auf ihr lastete. Sie ließ sich in die Polster sinken, die sie jedoch kaum vor den Erschütterungen bewahrten, mit denen das Gefährt über die Straße holperte. Sie
aber empfand es in diesem Moment nicht als unangenehm, sondern genoss zu spüren, dass es noch eine Verbindung zur Außenwelt gab. So nötig sie es auch hatte, sich von Zeit zu Zeit in den dämmrigen Innenraum der Kutsche zurückzuziehen und vor den Blicken der anderen zu flüchten, so sehr wusste sie auch, dass sie die Verbindung nicht gänzlich verlieren durfte, um nicht wieder in den Abgrund ihrer selbst zu stürzen. Nichts verachtete sie mehr, als die bruchstückhaften Erinnerung an die Zeit, nachdem der letzte Akt dieses grausamen Reigens vollzogen worden war, den Renard begonnen und sie
beendet hatte. Es musste ungefähr zwei Jahre nach dem Triumph der Revolutionäre gewesen sein, als alle Hoffnungen , Renard noch stellen und sich rächen zu können versiegt waren. Sie dachte daran und fand sich auf einer Brücke in Weißbach wieder, umhüllt von einer Winternacht, in der sich Klarheit mit Kälte vermählte. Sie starrte in das Wasser des kleinen Flusses, welcher der umliegenden Stadt ihren Namen gegeben hatte. Obwohl sie die Gewissheit jeder körperlicher Kraft beraubt hatte, glaubte sie kaum, in dem kristallklaren Wasser ertrinken zu können. Doch sie wusste, dass es eiskalt sein musste und doch nicht kälter als die Tränen, die über ihre
Wangen rannen. Sie zitterte am ganzen Leibe, während sich der Frost der Nacht durch ihr dünnes Gewand, ihre zarte Haut und ihr schmerzendes Gebein fraß. Sie war aus der Taverne geflohen, ohne darüber nachzudenken, was sie hier erwartete. Aber selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte kein Gedanke noch einen Unterschied gemacht. Die Gewissheit hatte sie hinaus gezwungen, sie hatte nur noch rennen wollen, bis sie auf dieser Brücke, vor diesem Anblick erstarrt war. Der Bach rann ewig weiter, ihn würde es nicht kümmern, wenn ihr Leben darin verfloss, sowie es die ganze Welt nicht kümmern würde; und ihr Leben musste verfließen, einmal mehr,
weil jede Hoffnung versiegt war. Renard Schwarzschild sei nach Hohengram geflohen, sagten sie. Hohengram. Eine schier uneinnehmbare Festung der Royalisten auf dem entfernten Ostkontinent Fiondral. Niemals würde sie ihn dort erreichen, niemals die Mauern dieser Feste brechen. Sie hatte keine Armee, keine Macht, keine Kraft, keine Hoffnung, keine Träume…nichts, und zum ersten Mal bereute sie, es damals nicht geschafft zu haben. Sie klammerte sich an die Brüstung, setzte zaghaft einen Fuß darauf. Zwar mangelte es ihr nicht an Entschlossenheit, doch hatte die Kälte
sie beinahe gelähmt. Ihr Wille focht gegen die Erstarrung und trieb sie eisern ihrem Untergang entgegen, so wie es sein sollte. Der zweite Fuß folgte und sie richtete sich auf, thronte wie ein gefallener Engel über den seichten Wassern des Weißbachs. Der Fluss versiegt nie, hallte es durch ihre Gedanken, während sie die Arme ausbreitete. „Eva…“, die Stimme drang sanft in ihre Ohren, wo sie sich zu einem derart grotesken Zischen verzerrte, dass sie augenblicklich in den schattigen Innenraum der Kutsche zurückgeschleudert wurde. Das Beben
war verebbt, offensichtlich hatte jemand das Gefährt gestoppt.
Erneut atmete sie flach, während jemand energisch von außen gegen das dunkle Holz hämmerte.
„Eva!“, hallte es erneut durch die Planken, worauf sie zu der kleinen Luke schnellte und sie aufklappte.
„Was?“, blaffte sie, bevor sie überhaupt erkennen konnte, mit wem sie sprach.
„Das solltet Ihr Euch ansehen“, erwiderte Petron, wobei er einen leisen Seufzer ausstieß. Sie starrte ihn an und bemerkte zum ersten Mal einen unterschwelligen Anflug von Entsetzen auf der Miene des Alten.
EagleWriter Gut mit DER Vorgeschichte, auch wenn noch ein paar Sachen unklar bleiben, kann man Evas Verhalten ja schon fast wieder rechtfertigen. Wobei ihr Verhalten mir ja anfangs doch recht... kindisch vorkam lg E:W |
Crawley Hm, das ist auch gar nicht so schlecht. Klar hat sie Rechtfertigungsgründe in ihrer Vorgeschichte, die auch noch weiter beleuchtet werden wird, aber sie war nie darauf ausgelegt, in irgendeiner Weise sympathisch zu wirken, insofern passt das mit dem kindischen Verhalten schon ganz gut^^ Danke fürs Lesen und Kommentieren. LG Crawley |