Bis morgen, gute Nacht
Es ist die Zeit zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang, die wie keine andere in meinem Leben Sinn macht. Irgendwie finde ich immer zu mir, begegne mir und erkenne, dass … irgendetwas erkenne ich immer, es ist gar nicht so wichtig, was, nur dass ich erkenne.
Ich schreibe am liebsten in dieser Zeit, oder schaue Filme oder tue nichts und denke, dass ich denke, oder denke tatsächlich. Gerade geht die Sonne auf, die Vögel singen die Nacht in der Schlaf und bald vertreiben die ersten Busse den Morgentau mit ihrem Brummen und Knarren, mit den Abgasen aus schwarzen
Rohren. Heute hab ich frei. Ich fahre nirgendwohin und kann bei mir bleiben. Früher hatte ich Angst mit mir allein. Vielleicht vertraute ich mir nicht, aber wenn ich ganz ehrlich bin, wusste ich immer, schon als Kind, ich spürte es, dass meine Beziehung zu mir eine schwierige ist. Ich mochte die Schlafenszeit nicht, weil ich nicht einschlafen konnte und dachte und die Zeit zog sich hin und ich war allein, mit mir allein. Aber irgendwann schlief ich ein. Später mit kleinen Tricks, Musik z.B., wenn der Text eines Songs die eigenen Gedanken übertönt, nein, sie eher sanft bei Seite schiebt. Aber es konnte auch Stunden dauern, bis ich
einschlief, manchmal konnte nicht einmal die Musik mir helfen. Die Gedanken drängten sich in den Vordergrund, schlängelten sich zwischen die Melodien. Sie wollten gedacht werden. Also blieb die Nacht und der Schlaf immer ein problematisches Thema. Als Kind und Jugendlicher kann man nicht bestimmen, ob man am Morgen einer durchgemachten Nacht einfach zu hause bleibt, mit sich allein. Die Schule war Pflicht, später die Uni, dann der Beruf. Immer war die Nacht eine verbotene Zeit, weil der Tag kein Fremdgehen duldete. Und schon saß ich mit roten Augen in der Schule und schwor mir, heute früher schlafen zu
gehen, oder ich nickte beim Autofahren zur Uni am Steuer ein und versuchte mit der Klimaanlage wieder wacher zu werden. Der Tag war immer Pflicht, die Nacht eine unwiderstehliche Versuchung.
Jetzt kann ich freier über mein Leben bestimmen. Mein Wecker ist freundlicher geworden und klingelt nur noch selten. Also begebe ich mich in die Nacht, mit der Nacht und mit mir. Wir gehen spazieren, wenn alles schläft, schlendern durch verlassene Straßen und erzählen uns Geschichten, halten und gegenseitig wach, wenn der Tag doch mal mit Pflichten und Terminen aufwarten musste, es ist kein Problem, müde sein ist normal, schlafen nur eine
Option.
Irgendwann sitzen wir da, wo man der Sonne beim erwachen zusehen kann, wir trinken vielleicht Tee oder Kaffee und Musik dudelt aus dem Autoradio, irgendetwas Leises, Melodisches oder Punktrock, vielleicht auch Herbert Grönemeyer – das ist auch schön, und dann kommen die Nachrichten, Politik, Sport, Stau … schalt das Radio aus, du verschreckst noch den Sonnenaufgang. – Ja, dann bleibe ich immer da. – Nein, das wäre auch nicht gut. Man braucht Licht, um zu leben. – Aber es gibt doch genug Licht; schau die Laternen. – Und wer soll den Strom bezahlen? Dann fangen sie noch an, auch damit an den
Börsen zu spekulieren. – Du hast recht. Vielleicht muss ich gehen, um zu bleiben. – Wo hast du das den geklaut? – Das ist nicht geklaut! Das hab ich einem schlaflosen Poeten eines nachts ins Ohr geflüstert. Er hat es für mich aufgeschrieben. – Und ich sage nichts mehr, schweige und sehe alles in ein warmes Rot getaucht. Die Vögel zwitschern und Tau liegt auf den Feldern. Ein neuer Tag erwacht und meine Begleiterin ist verschwunden. Nein, nicht plötzlich, wie immer hat sie sich mit einem Lächeln im Gesicht langsam in der frischen Morgenluft aufgelöst. – Mach's gut, bis morgen. Vergiss nicht, etwas von dem
aufzuschreiben, was ich dir erzählt habe.
Ich ziehe meine Haustür zu, lege mich ins Bett und lasse mich von den Vögeln in den Schlaf zwitschern, bevor der erste Bus den Tag einleitet. Es war wieder schön. Bis morgen.