Ich will Sein was ich bin
Eigentlich war es für Susanne ein ganz normaler Sommertag. Wie immer, ging sie morgens zur Arbeit, und wie es ihre Gewohnheit war so hatte sie auch heute eine ihrer Handpuppen dabei. Heute wollte sie nach der Arbeit noch auf die Straußenfarm ganz in der Nähe gehen. Sie wollte unbedingt wieder ihren Lieblingsstrauß besuchen. Manchmal hatte sie schon den Eindruck, dass dieser Strauß sich in sie verliebt hatte. Doch konnte das wirklich sein? Zumindest war es schon ein bisschen merkwürdig, dass dieser Strauß jedes Mal, wenn sie ihn besuchen ging, hingebungsvoll seinen Balztanz
aufführte.
Suanne hasste ihren Job, aber sie wusste auch, dass sie von irgendetwas leben musste. Also brachte sie diese acht Stunden jeden Tag irgendwie hinter sich. Wenn sie dann endlich aus dem Büro draußen war, fühlte sie sich wie eine Blume, die nach einer langen Dürreperiode wieder anfing zu blühen. Sie war gesundheitlich ziemlich angeschlagen, sie liebte Tischtennis, doch damit hatte sie es die letzte Zeit ziemlich übertrieben. Sie wusste ja, dass man sich vom Tennis spielen einen Tennisarm zuziehen konnte, dass es allerdings auch einen Tischtennisarm gab, war ihr neu bis sie diesen selbst zu spüren
bekam.
Susanne litt noch unter vielen weiteren kleineren und größeren Krankheiten. Sie konnte manchmal kaum ihre Füße bewegen, weil diese wieder so angeschwollen waren, wegen Ihrer Lymphprobleme. Ihre Knie waren auch schon mehrfach am Meniskus operiert worden, und nicht zuletzt hatte sie auch noch eine Schilddrüsenunterfunktion. Als sie dann endlich wieder von der Arbeit zuhause war, um noch kurz etwas zu essen, bevor sie sich auf den Weg zur Straußenfarm machte, rief ihr guter Freund Richard an und fragte sie, ob sie nicht wieder einmal zusammen angeln gehen sollten.
Richard dachte noch, dass sie dann an dem
großen Angelwettbewerb antizipieren könnten. Er war der festen Überzeugung dass er und Susanne zusammen glorreich den 1.Preis in diesem Wettbewerb gewinnen würden. Doch Susanne enttäuschte ihn und sagte ab. Sie wollte unbedingt auf die Straußenfarm zu ihrem Lieblingsstrauß. Diese Straußenfarm war für Richard so etwas von langweilig, dass er da niemals mitgehen würde, selbst dann nicht, wenn Susanne ihn dort ins Restaurant einladen würden. Dort gab es zwar ein sehr leckeres Kartoffelpüree, aber alleine wegen eines Püree`s auf eine Straußenfarm zu
gehen, das lohnte sich seiner Ansicht nach nicht. Manchmal dachte er, dass er und Susanne in komplett verschiedenen Welten,
ja geradezu verschiedenen Universen lebten.
Als Susanne endlich auf der Straußenfarm angekommen war, suchte sie nach ihrem Lieblingsstrauß. Leider konnte sie ihn nirgends entdecken. Da fragte sie sich was denn hier geschehen war. Der Schmetterling, der sich dann auf ihren Arm setzte, brachte sie noch mehr zum Nachdenken über die Menschen, die Tiere und die Natur. Sicher, die Menschen versuchten durchaus etwas gegen den Klimawandel, für den Artenschutz und so weiter zu tun, aber
letztlich waren das alles doch nur sehr rudimentäre Aktionen. Da sie ihren Strauß
nicht finden konnte ging sie in den kleinen Farmladen, der sich auch auf der Farm befand. Dort erfuhr sie es dann. Ihr Lieblingsstrauß war verkauft worden an eine Schlachterei und war inzwischen wahrscheinlich schon irgendwo als Steak verspeist. Susanne dachte noch bei sich: „Irgendwie eine Metamorphose, die der Strauß da mitgemacht hat“ Doch schon bald sollte sie noch eine ganz andere Metamorphose kennenlernen, von der sie im Moment noch nichts ahnte.Susanne musste so sehr heulen dass die Verkäuferin so bei sich dachte. „Wegen einem Strauß, was ist Susanne doch nur für eine Mimose."
Susanne holte ihre Handpuppe aus ihrer
karierten Tasche. Immer wenn Susanne traurig war, nahm sie eine ihrer Handpuppen in den Arm und spielte mit ihr. Es war ihr auch reichlich egal, was die anderen Menschen, die ihr so begegneten, dabei über sie dachten. Ihr halfen die Puppen etwas über schwierige Momente im Leben hinweg. Mittlerweile hatte sie über dreissig Puppen. Am liebsten hätte sie jeden Tag alle dreissig mitgenommen was natürlich nicht möglich war
.Deshalb hatte sie sich selbst die Regel auferlegt, dass jeden Tag immer nur eine mitgehen durfte. Heute hatte sie Yuna dabei. Susanne machte es auch immer großen Spaß Charaktere für ihre Puppen zu entwickeln. Yuna war für Susanne ein Fragenkind.
Immer
und überall wurde etwas gefragt. Yunas Lieblingswörter waren ganz klar: "Wieso, weshalb, warum." Susanne hatte sich inzwischen wieder etwas beruhigt und damit abgefunden, dass ihr Lieblingsstrauß inzwischen nicht mehr lebte.
Da geschah es. Ein kleines übrig gebliebenes Tränchen rann erst über Susannes Wangen, und tropfte dann langsam auf Yuna. Und schon hörte Susanne eine kleine leise Stimme die sagte: „Wo bin ich?“ Erst war diese Stimme so leise, dass Susanne dachte, dass sie sich das nur eingebildet hatte. Dann hörte sie die Stimme etwas lauter, diesmal sagte diese: „Wer bin ich?“ Doch
immer noch war die Stimme so leise,
dass Susanne an Einbildung dachte. Doch dann streifte ein Blick ihre Yuna und da erschrak sie fast zu Tode. Yuna war nicht mehr aus Stoff, sondern es war ganz klar zu erkennen, dass Yuna jetzt aus Haut und Knochen bestand. Dass sie ein richtiger Mensch geworden war. Als Yuna merkte, dass Susanne erkannt hatte, dass ihre Puppe auf einmal völlig anders war, da erschrak auch Yuna. Sie wussten beide nicht, wie das geschehen war, und auch nicht wieso, und schon gar nicht ob, und wenn ja wie, diese Metamorphose wieder rückgängig gemacht werden konnte.
Sie wussten beide, dass das eigentlich nicht
sein konnte, dass es aber trotzdem so war. Zum Glück hatten die Mitarbeiter im Farmladen der Straußenfarm nichts von Yunas Metamorphose mitbekommen. So fuhren Susanne und YUna erst einmal nach Hause. Lange, sehr lange brauchten Yuna und Susanne, um sich gemeinsam anzufreunden. So manches Mal dachte Susanne, dass sie Yuna lieber einen anderen Charakter hätte geben sollen. Denn genau den hatte sie auch in der jetzt lebenden Form noch, und diese dauernde Fragerei ging Susanne so manches Mal gewaltig auf die
Nerven.
Yuna und Susanne unternahmen sehr viel gemeinsam. Sie gingen gemeinsam
schwimmen, fuhren Achterbahn in einem Freizeitpark, und sie besuchten auch oft die Straußenfarm auf der alles angefangen hatte.
Yuna fühlte sich als Mensch alles andere als wohl und sie hätte alles dafür gegeben wieder eine Puppe zu werden. Denn es ist nicht einfach zu erklären, aber Yuna fühlte sich irgendwie im falschen Körper. Und sie wollte unbedingt wieder das sein, was sie wirklich war. Daher betete sie jeden Tag und fragte „Lieber Gott, warum darf ich nicht sein, was ich wirklich bin?“
Doch leider bekam sie darauf keine Antwort. Susanne hätte Yuna gerne geholfen, aber auch sie wusste darauf keine Antwort,
allerdings konnte Susanne wenigstens bleiben, was sie war. Und soweit es irgendwie möglich war, wollte sie auch bis ans Lebensende sich nicht für andere verbiegen, sondern sein und bleiben was sie eben war, auch wenn das nicht jedem gefiel. Diese Geschichte zeigte Susanne einmal mehr, dass man sich nicht wohlfühlt, wenn man nicht sein darf und kann, wer man wirklich ist.