Als ich das Gartentor öffnete, das schon seit Jahren zuverlässig klemmte, weil das Holz sich verzogen hatte, und das beim Öffnen verräterisch quietschte, hörte ich laute Musik aus unserem Haus durch jede Ritze schallen. Ich brachte mein Fahrrad in den kleinen Schuppen mit den vielen Geräten, die nie jemand benutzte - aber es war ja immer gut, alles parat zu haben, man wusste schließlich nie, wann man mal was brauchte - und schloss dann vorsichtig die Haustür auf. Wenn man in meiner Familie aufgewachsen war, dann erwartete man nicht, dass laute Musik aus dem Haus dröhnte, wenn man selbst gerade nicht da war. So ging es wenigstens mir: Ich war der Einzige, der
an schönen Tagen die Anlage derart aufdrehte, dass durchs offene Fenster die ganze Straße beschallt wurde. Ein Verhalten, das sich später unbemerkt abtrat wie ein Klumpen Erde unterm Schuh, was im Nachhinein ungemein hilfreich war, damit es auch langfristig mit den Nachbarn klappte.
Als ich das Haus betrat, sah ich, dass es sich nicht um die vermuteten Einbrecher auf LSD handelte, die die elterliche Stereoanlage bis an die Belastungsgrenze peitschten. Schon die Musik - ich erinnere mich nicht mehr an das Lied, aber es wird wohl was »Schlageriges« gewesen sein - hätte Indiz genug sein müssen: Es war meine Mutter, die im
Wohnzimmer stand, still mitsang und tanzte.
Meine Mutter war immer die Korrekte. Mein ganzes Leben lang. Sie war diejenige, die meine Mathematikhausaufgaben noch mal nachrechnete, die ins Hausaufgabenheft schaute, nur um sicherzugehen, dass ich auch wirklich alles erledigt hatte, bevor ich mich an die Spielkonsole setzte oder mit dem Fußball unterm Arm aus dem Haus verschwinden wollte. Später hatte sie mir diese Korrektheit derart eingeimpft, dass sie nichts mehr kontrollieren musste. Ich war Perfektionist. Während meine Schwester an diesem Verhalten verzweifelte, war es
bei mir von Erfolg gekrönt. Ich absolvierte mein Abitur fast mit Bestnote. Erst im Studium wurde ich dann wieder schludrig, was mir allerdings auch nicht schadete und damit eine der ersten großen Lebenslehren für mich wurde: einfach nach dem Min-Max-Prinzip vorgehen, also mit minimalem Aufwand maximale Ergebnisse erzielen. So blieb mehr Zeit für die vergnüglichen Dinge des Lebens. Die mit den besten Noten standen am Ende auch nicht besser da.
Meine Mutter war immer die, die sich um den Haushalt kümmerte. Das war ganz klassisch in unserer Familie. Sie weckte uns Kinder morgens pünktlich um
sechs, sie war die, die unsere Wäsche wusch, Socken sortierte und dafür sorgte, dass am Ende des Geldes nicht noch zu viel Monat übrig war. Mein Vater kümmerte sich ums eigentliche Geldverdienen, ums Putzen - was niemand auf dieser Welt so energisch konnte wie er - und zumeist um den Garten. Heute spricht man immer von Arbeitsteilung, sich vermischenden Rollen und so. Ich glaube, das Geheimnis einer, na ja, einigermaßen funktionierenden Partnerschaft ist genau das Gegenteil. Zumindest hätte meine Mutter sich niemals die Verantwortlichkeit über sorgfältig sortierte Socken entreißen lassen. Da
können die Gender-Mainstreamer, und wie all diejenigen sich auch nennen mögen, die ihre Lebensfreiräume mit Sojamilch-Chai-Latte aufgießen, noch so sehr zetern.
Als meine Mutter mich im Flur stehen sah, hörte sie natürlich sofort auf zu tanzen und sah mich ein wenig beschämt an. Auch etwas, das ich von ihr nicht gewohnt war. Sie war wie ein elektronisches Gerät mit genau zwei Zuständen: normal und wütend, weil irgendwas nicht korrekt gemacht wurde. Freude beschränkte sich zumeist aufs Monetäre, und ob hinter der inzwischen von Falten verzierten Stirn noch so etwas wie Hoffnungen und Träume
schlummerten, vermochte niemand zu sagen. Sie war immer fürsorglich und wollte nur das Beste für uns Kinder, aber äußerlich wahrnehmbare Gefühlsregungen suchte man vergeblich bei ihr.
»Was ist denn hier los?«, fragte ich, noch ganz perplex von dem Anblick meiner tanzenden Mutter. Sie drehte die Musik etwas leiser.
»Ach lass mich doch mal tanzen«, sagte sie und lachte kurz.
»Na von mir aus mach, was du willst«, antwortete ich hoffentlich mit einem Lächeln. Ich ging anschließend die Treppe hoch in mein Zimmer. Was hätte ich auch sagen sollen? Da war ja
die Korrektheit in mir, die Dinge so hinnahm, wie sie waren, auch wenn sie nicht so recht in die Realität zu passen schienen. Was half es denn, die Gedanken und Eindrücke herumzuschwenken wie ein Glas Wein? Besser wurden sie davon jedenfalls nicht.
Die andere Hälfte meines Denkens, die von meinem Vater genetisch und irgendwie auch erzieherisch geprägte - obwohl ich ihn immer eher als großes Kind wahrnahm, vielleicht, weil ihm jene Kontrolliertheit völlig fehlte - sah die Sache etwas anders. In diesem Teil meines Oberstübchens erkannte ich die Tragik der Situation. Meine Mutter, die
Oberkorrekte, die niemals irgendwelche überbordenden Emotionen zuließ, die zwar streiten und verzeihen, die aber nicht offen leiden konnte, war eben doch ein normaler Mensch. Ich dachte später oft, dass sie sich, während sie im Wohnzimmer tanzte, in ihre eigene Jugend zurückgeträumt haben mochte. In diese eine Dorfdiskothek vielleicht, so ganz mit Ostliedquote, mit den jungen Männern, die sich scheußliche Flaumbärte wachsen ließen, wo jeder diese komische Ostmode trug, alle so individuell gleich. Und trotz des durch den Sozialismus vorgezeichneten Lebenspfades hatte jeder eine große Portion Träume vom aufregenden Ding
namens Leben im Gepäck. Und dann, fast dreißig Jahre später, blieb davon nicht viel mehr übrig als ein Tanz im Wohnzimmer. Eingekerkert im Kleinbürgertum, im Leben, das meine Mutter zum Großteil selbst gewählt aber vielleicht nie gewollt hatte.
Einige Jahre später, ich war auf dem Weg von der letzten Abiturprüfung nach Hause, war die Euphorie des Kommenden so präsent wie hinterher niemals wieder in meinem Leben. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien auf unsere kleine Stadt herab, als versprach sie alles Glück der Welt. Während ich spazierte, schaute ich auf meine Füße. Zur mündlichen Prüfung musste man
sich fein anziehen. Warum, das hätte ich damals noch nicht hinterfragt, ich war ja korrekt. Ich trug schwarze Schuhe, vermutlich aus Kunstleder. Einen Fuß setzte ich vor den anderen, schlenderte und genoss die Wärme. Bildlich im Gedächtnis geblieben sind mir vom Heimweg an jenem Tag nur die Sonne und diese voranschreitenden Schuhe. Alles andere war die pure Magie des Augenblicks.
Ich bin sehr nach meiner Mutter geraten, nur das Familienleben, mit dem mag ich mich nicht recht anfreunden. Wenn ich an den Tag denke, an dem meine Mutter im Wohnzimmer tanzte, fällt mir auch immer der Tag meiner
mündlichen Prüfung ein. Nicht, dass beides kausal zusammenzubringen wäre, oh nein. Aber ich frage mich immer, werde auch ich eines Tages mit grauen Schläfen und müden Augen im Wohnzimmer zu einem alten Lieblingslied tanzen und in meiner dreiminütigen Blase des geborgten Glücks doch begreifen, dass ich das bittere Ende einer unendlich überhöhten Aufbruchstimmung zelebriere? Heute bin ich sicher, meine Mutter war sich ihrer eigenen Lebenstragik, nie wirklich aus dem Wohnzimmer herausgekommen zu sein, immer bewusst. Vielleicht weil man sie ihr heute ein bisschen ansieht. Und das macht die Erinnerung daran, wie sie
im Wohnzimmer tanzte, so traurig.