GUT VERNETZT
Eine U-Bahn-Endstation im Norden von Berlin. Im Minutentakt karren Busse Menschenmassen aus der nahen Großsiedlung heran. Der leere Zug läuft ein. Die Menge verteilt sich in die Wagen. Mir gegenüber setzt sogleich eine durchdringende, alles überlagernde Jünglingsstimme ein. Aha, er muss jetzt telefonieren, ein Grundbedürfnis, unabweisbar. Ich mustere ihn kurz. Er ist der typische Berliner Jungmann, und ich frage mich wieder einmal, woher die Kraft für die laute Stimme kommt, für dieses Krähen und Bellen. Er ist nur
mittelgroß, dünn, dabei eher eckig als schlaksig und im Profil schon ein bisschen schartig.
Bis zur zweiten Station sind wir anderen über seine Lage weitgehend aufgeklärt. Er spricht mit einem Freund, seit langem erstmals wieder. Er sagt: „Ich bin ja krankgeschrieben, seit dreizehn Monaten schon, also im vierzehnten, hehe, lach nicht …“ – „Ah, interessant“, sage ich dazu, es fährt mir halblaut eben so heraus. Aber er bekommt es nicht mit, er muss eine Vermutung des anderen zurückweisen: „Nee, nee, die Krankenkasse zahlt ganz ordentlich!“ – Dazu ich, schon deutlich lauter: „Na,
dann ist ja alles in Ordnung.“ Auch jetzt keine Reaktion – mit mir spricht er nicht.
Bald darauf klingelt es bei ihm. „Oh, man ruft mich an“, sagt er zum Freund, es klingt freudig erregt. Er legt sein Smartphone Nr. 1 auf den freien Platz neben sich und hält das Zweitgerät ans Ohr. Es folgt ein kurzes Gespräch, in dem es um die Lieferung eines bestellten Gegenstandes geht.
Dann wird der unterbrochene Dialog mit dem Freund fortgesetzt. Er erklärt, dass es gerade um den Liefertermin für sein Drittgerät ging, als Ersatz für ein
defektes. Und dann folgt eine umständliche Beschreibung von Lieferproblemen, falschen Sendungen, verpatzten Terminen und immer so fort in großer Ausführlichkeit. Außer ihn selbst interessiert das keinen, am wenigsten den Gesprächspartner, der gar nicht mehr zu Wort kommt.
An der sechsten Haltestelle stehe ich auf, gehe zur Tür. Die amüsante Nervensäge redet immer noch ins Erstgerät, das Zweitgerät empfangsbereit neben sich, und redet und redet vom defekten Drittgerät, das jetzt hoffentlich bald durch ein funktionstüchtiges viertes ersetzt wird
… Lebt er so alle Tage, frage ich mich, während mich die Rolltreppe hinauffährt.
Oben zur Linken der Park mit den hohen Bäumen, zwischen denen ein See glitzert. In die Idylle hinein ruft ein junger Mann, dünn, mittelgroß, eher eckig als schlaksig und mit schartigem Profil: „He, Alter …“ (Er meint doch nicht etwa mich?) „He, Alter“, schreit er, „was glaubst du denn – hier wohnen doch nur Assis!“ Er lacht dazu und in diesem Moment überdeckt der Lärm einer abfliegenden Maschine alles am Boden. Ach ja, wieder Ostwind heute, also Schlechtwetter östlich von Tegel -
startende Vögel sind noch lauter als landende. Arm die Stadt, denke ich, ja, aber nicht sexy. Nicht gut so.