1. Rotwalden. 775 ÄIII n.Br. – Bitterweid, Lothan Er schwebte irgendwo im Nichts, unter sich nur die schwindelnde Tiefe, von der ihn kein Boden mehr trennen konnte, und dennoch fiel er nicht, obgleich er jeden Augenblick fürchtete, in diesen nie enden wollenden Abgrund zu stürzen. Er ersehnte den Sturz sogar, der Sturz würde Gewissheit bedeutet und endlich alles beenden, aber nicht einmal das war ihm vergönnt. Er hing in der Ungewissheit, die ihn zerriss, über einer Finsternis, aus der ihn die namenlosen
Schrecken der Vergangenheit anglotzten. Sein ganzer Körper verkrampfte er sich, er wollte schreien, wollte freibrechen, doch sein eigenes Fleisch hielt ihn gefangen, gehorchte nicht mehr seinem Willen und mahnte ihn, dass er nichts mehr ändern konnte. Dieser Schmerz war von einer Art, die ewig brannte, ewig zerrte. Und es würde nur eine einzige Flucht geben, einen einzigen Ausweg. Der Sprung. Aber er konnte nicht, so sehr er auch wollte, denn selbst wenn er sich dem Abgrund entgegenlehnte, hielt ihn doch eine ebenso ungreifbare wie unsichtbare Macht zurück, eine eiserne, ätherische
Barriere. Sogar das sollte ihm verwehrt sein. Keine Gnade, kein Mitleid. Der Abgrund begann zu rotieren, formte Farbspektren, deren Schlieren sich zu einer einzigen Iris vereinigten. Ein gewaltiges Auge funkelte ihn mit perfektem Azur an, in dem nur Vorwürfe schwammen. Der Blick selbst war eine Anklage und er stach mitten ins Herz, so schmerzhaft, dass erneut Krämpfe seinen Körper erschütterten, bis die Iris zersplitterte und der ganze Abgrund in Wellen tiefroten Blutes ertrank. Blut, das durch seine eigene Kehle flutete, das nicht nur die Welt, sondern auch ihn selbst
ertränkte. Er riss die Augen auf, schnellte keuchend aus dem Schlaf, wobei seine Hand irgendwo über ihm ins Leere langte. Schweiß perlte eiskalt auf seiner Stirn, jedoch fühlte er sich, als würde er von innen heraus verbrennen. Ohne etwas zu sehen, tastete er hastig über den Nachttisch, während das Brennen in seiner Kehle nach Wein verlangte. Wein, Schnaps und Tabak, die einzigen Dämme, die seinen Geist noch gegen den flutenden Wahnsinn schützen konnten. Offenbar hatte er sich am vorherigen Abend nicht stark genug betäubt, um dem Alb zu entfliehen. So sehr steckte der Schrecken der Visionen
ihm noch in den Gliedern, dass er mit zittrigen Händen vor den Krug donnerte und ihn vom Tisch stieß, worauf er mit einem lauten Klirren am steinernen Boden zerschellte. Während er sich langsam aus dem schweißgetränkten Laken schälte, hörte er sich Laute fluchen, die er selbst nicht verstand. Seine Füße sackten auf den kalten Holzboden. Zwar gab es einen Teppich, jedoch hatte er diesen bewusst zur Seite geschoben, um die Kälte zu empfangen, in der Hoffnung, sie würde das Feuer ersticken, das in seinem Inneren wütete. Mit ausgestreckter Hand tastete er sich zwei Schritte durch die Dunkelheit, bis es unter seinen Sohlen knirschte und
stechender Schmerz in seinem Fuß gellte. Scherben! Er unterdrückte einen Aufschrei taumelte zur Seite, fing sich an einer hölzernen Kommode und schmetterte diese dabei fast zu Boden. Während der Schmerz sich immer tiefer in seinen linken Fuß fraß, richtete er sich wieder auf und wankte dem Fenster entgegen, wo er mit einem heftigen Ruck einen der Läden aufstieß. Obwohl er sich abwandte, bevor er überhaupt einen Blick nach draußen werfen konnte, brannte das Licht sofort jede Sicht aus seinen Augen, worauf ihn jäher Schwindel befiel und ihn zwang, sich weiterhin am Fenster abzustützen.
Nachdem er für einen Moment seiner Sinne beraubt und ganz dem Schmerz überlassen gewesen war, klarte die Welt langsam wieder auf. Schattenhafte Konturen entwuchsen dem gleißenden Licht, er erkannte sein Gemach, die rohen Wände aus blätterndem Putz, vor dem hier und da ein ausgefranster Wandteppich prangte. Der Boden bot dazu kaum Abwechslung mit Ausnahme des Scherbenmeeres, das umhüllt von einer dunklen Rotweinlache durch den halben Raum geflutet war. Er musste zwei weitere Male blinzeln, bevor er seine Umgebung restlos klar wahrnehmen konnte, womit er sie jedoch keinesfalls verschönerte. Das Quartier
strotze vor Enge und Schmucklosigkeit, die Möbel überboten sich in Alter und schlechtem Zustand. „Ferren Quynt“, harschte er sich selbst an, während er sich rücklings auf die Fensterbank sinken ließ, „Was ist nur aus dir geworden? Tatsächlich wollte er die Antwort nicht aussprechen, obgleich er sich längst für einen kolossalen Versager hielt. Das Erwachen an diesem Tag hatte ihm erneut gezeigt, dass man immer noch tiefer sinken konnte, und als er die Zähne zusammenbiss und sich langsam die Scherbe aus dem Fuß zog, fragte er sich, warum er sich überhaupt noch die Mühe machte. Ebenso gut hätte er sich
mit der Wunde und dem Stück Ton ins Bett zurücklegen können, doch mit einem Blick darauf entsann er sich, dass auch dieses ihn anwiderte, da es nur noch weitere Albträume in sich barg. Er vermied den Schlaf so gut es ging, wissend dass dies sein Leben keinesfalls verbesserte. Wieder einmal konnte er nichts anderes tun, als dem Blut dabei zuzusehen, wie es aus dem Fleisch rann und sich am Boden mit der Lache des Rotweins vereinte. Wein… Er hatte seinen letzten Vorrat verschüttet, was bedeutete, dass er, sobald es eben ging, neuen beschaffen musste. Ein letzter Antrieb, der sich
Durst nannte…oder Furcht. Hinkend, weil er auf der linken Seite nur noch mit der Ferse auftreten konnte, umwanderte er das Scherbenmeer, um zu seinem Bett zurückzukehren. Nachdem er seinen Nachttisch erfolglos nach einem Verband durchstöbert hatte, ergriff er ein vergilbtes Hemd vom Boden, schnitt mit seinem gekrümmten Messer einige Stofffetzen heraus und umwickelte seine Wunde damit. Kaum hatte er den Stoff festgezurrt, quollen die ersten Blutflecke durch die Unterseite, was er jedoch nur mit einem Zähneknirschen kommentieren konnte. Seine Hand langte sogleich zu seiner verdreckten Reiterhose, die noch über dem
Bettpfosten hing, wo er sie am Abend zuvor zurückgelassen hatte. Kaum war er hineingeschlüpft, zog er seine Stiefel an und schnürte sie so fest er konnte, in der Hoffnung, damit einen Teil des Schmerzes zu unterdrücken. Zumindest fühlte es sich so an, als würde er etwas dagegen tun. Ein weiteres Hemd fand sich als eine Lache ergrauten Stoffes auf einem seiner wackligen Stühle und stand dem Rest seines Besitzes an Schäbigkeit um nichts nach. Er streifte es sich über und ließ es anschließend unter einem knielangen braunen Ledermantel größtenteils verschwinden. An einem anderen Bettpfosten fand sich sein Schwertgurt mitsamt Waffe. Im
einfallenden Licht funkelte der klobige Saphir, welcher den Knauf zierte, wie ein Stern aus Azur, der ihn beinahe blendete. Nachdem er die Waffe angelegt hatte, suchte er auf der zerkratzten Kommode nach seinem Geldbeutel, der ihn jedoch mit gähnender Leere verhöhnte. Auch die vier Kupferschillinge, die daneben einen mickrigen Turm formten, würden allerhöchstens für einen halben Brotlaib reichen, keinesfalls aber für eine ausreichende Menge Wein, seinen Geist darin zu ertränken. Erneut knirschte er mit den Zähnen, bevor er sich in seiner spartanischen Bleibe nach dem nächsten Gegenstand
umsah, den er für ein paar Silbertaler verpfänden konnte. Ernüchterung umfing ihn, als er erkannte, dass er nichts mehr besaß, für das irgendjemand auch nur noch eine einzige Münze hinblättern würde. Verärgert gruben sich seine Fingernägel in den Griff seines Schwertes, wobei einige ihrer Länge wegen zersplitterten. Die Klinge… Sie würde einen stolzen Preis erzielen, ohnehin widerte sie ihn an, eine stählerne Erinnerung an das, was er einst gewesen war, und an sein endloses Versagen. Die Entscheidung fiel schneller, als selbst er erwartet hatte. Tatsächlich hing er kaum an der Waffe,
er hing an gar nichts mehr, und nicht einmal diese Gewissheit vermochte noch, ihn zu schneiden. Ich sollte in die Murn springen, dachte er, während er schnellen Schrittes sein Gemach verließ, ohne zu wissen, warum er sich überhaupt beeilte. Hinter der Tür erwartete ihn die Mauer des allgegenwärtigen Nebels, tränkte den kleinen Ort in ein milchig, totes Grau, in dem das Leben zu ersticken schien, herrschte Stille. Kein Vogel sang, kein Wind pfiff, keine knarrenden Äste, keine bellenden Hunde. An eine menschliche Stimme war nicht einmal zu denken. Dennoch gab es einen Makel, etwas Flüchtiges, von dem er nicht
wusste, was es war, das ihm aber geradezu entgegenstach. Ein alter, längst vergessener Instinkt quoll in ihm auf, warnte ihn vor Gefahr. Ein halbverstorbener Reflex ließ seine Rechte zum Griff des Schwertes zucken. „Lasst das besser“, mahnte eine Stimme von der Seite, aus der unterschwelliger Hohn wehte. Er wirbelte herum und erblickte einen recht jungen Mann, der beinahe gelassen an der Wand des Hauses lehnte, das er soeben verlassen hatte. Obgleich Ferrens Rechte weiterhin auf dem Schwertgriff ruhte, zeigte sich sein Gegenüber wenig beeindruckt, sondern strich sich eine Strähne des haselnussbraunen Haares aus
der Stirn, wiegte einen prallen, roten Apfel in seiner linken Hand und reckte sich dann, sodass er einen Blick auf die Brust des dunkelvioletten Wams erhaschen konnte. Ein stilisiertes, schwarzes Lilien-Wappen prangte darauf und wies seinen Träger als Diener des Königshauses und Ritter der Königsgarde aus, die allein jene violetten Röcke trugen. Als er einen Blick darauf warf, spie er aus, nur eine weitere schmerzliche Erinnerung, wenngleich er sich entsann, dass die Lilie einst silbrig gewesen war. Seine Hand verkrampfte sich um das Leder des Schwertgriffs. „Das ist nicht nötig. Wirklich“, ertönte
eine weitere Stimme hinter ihm, die ein wenig freundlicher sprach, während sich das höhnische Grinsen im Gesicht des Mannes, den er anstarrte, nur noch weitete. Ferren schimpfte sie Feiglinge und schalt sich dafür, nicht daran gedacht zu haben, dass man Männer der Königsgarde nur in Ausnahmefällen alleine antraf. Sein Instinkt hatte ihn im Stich gelassen, doch empfand er dafür weder Zorn noch Traurigkeit. Stattdessen gellte die Vision in seinem Kopf, ungeachtet des Vorhabens der Männer sein Schwert zu ziehen, um hier und jetzt ein gutes Ende zu finden. Der Mann, den er unverwehrt anstarrte, biss unbeeindruckt in seinen Apfel,
wobei die Finger der behandschuhten Rechten jedoch seinen Schwertknauf streichelten, in dem, wie für die Königsgarde üblich, ein lupenreiner Iolith funkelte. Hastig warf Ferren einen Blick über die Schulter, um den zweiten Mann auszumachen. Er nahm ihn nur beiläufig wahr, erkannte aber, dass er ebenfalls das Wams der königlichen Garde trug und deutlich muskulöser war, als der erste. Auch seine Hand ruhte auf dem Schwertgriff. Bislang hatten beide ihre Worte gedämpft gesprochen, womit sie zu solch früher Stunde sicherlich keinen Bewohner dieses verschlafenen Kaffs aus seinem bett locken würden. Doch
selbst wenn es jemanden auf die Straße gezogen hätte, Ferren würde sich von ihnen keine Hilfe erhoffen können. Sein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln, als er sich vorstellte, wie es wohl von außen wirken musste, zwei königliche Ritter in ihren maßgeschneiderten Wamsen, mit ihren juwelenbesetzten Schwertern, die seine armselige Gestalt geäugten. Er, der kaum noch mehr sein konnte, als ein ausgemergelter, zerzauster Vogel; er, der im Spiegel sein eigenes Gesicht nicht mehr sehen konnte, da es hinter einem Vorhang verfilzter, langer Haare ruhte. Und darüber war er froh. „Bitte“, sprach der zweite wieder, immer
noch mit gedämpfter Stimme, „Das hier ist nicht nötig, wir wollen, lediglich mit Euch reden.“ Die Milde des Mannes ekelte ihn an. „Ich aber nicht mit Euch“, blaffte er und setzte einen Schritt vor, um seiner Wege zu gehen. „Diese Option habt Ihr nicht“, dementierte der erste und schleuderte, nachdem er noch einmal abgebissen hatte, den Apfel seitwärts in den Schlamm. „Versucht, mich aufzuhalten“, murrte Ferren. „Ihr mögt einmal der beste…einer der besten Schwertkämpfer der Gebrochenen Welt gewesen sein“, tönte sein
Gegenüber, „Aber nun, seht Euch doch an, Ferren Quynt. Ich nehme es nur allzu gerne mit Euch auf.“ Die Worte schallten ihm entgegen wie das Echo einer vergangenen Zeit, einer vergangenen Welt. Wie oft hatte er diese Worte gehört, wie oft war er mit einem Lächeln auf sie ein- und als Sieger aus ihnen hervorgegangen? Was war geschehen, was hatte ihn hier und so enden lassen? Die Antwort stach so schmerzlich durch seine Brust, dass er fürchtete, sein Herz würde zerreißen. Er knirschte mit den Zähnen, bevor der Schmerz in einem Anfall makabrer Freude ertrank. Das war die Gelegenheit auf ein besseres
Ende als jenes, welches die kalten Fluten der Murn versprachen. Eine bessere Gelegenheit würde er wohl nicht mehr bekommen. Er wähnte sich erneut am Abgrund, doch diesmal waren alle Grenzen und Ketten, die ihn hielten, gebrochen. Zeit, zu springen. „Dann sei es so, zeigt mir, was Ihr könnt“, lachte er, worauf sein Gegenüber sich über die Lippen strich und sein Schwert zog. „Evenett“, rief der Mann seinem Begleiter zu, „Kommt mir nicht in die Quere, ich erledige das allein.“
EagleWriter Ferren scheint es ja auch nicht grade gut erwischt zu haben. Jetzt interessiert mich aber, ob seine Träume irgendetwas bedeuten oder nur Teil seines offenbar gestürzten Lebens sind. Und ob er da wieder rauskommt oder seinen Wunsch erfüllt bekommt lg E:W |
Crawley Hm, wenn er seinen Wunsch erfüllt bekommen würde, wäre das zumindest aus literarischer Sicht wohl eine ziemliche Überraschung. Was seine Träume angeht, wird man sicher im nächsten Kapitel, das ihn behandelt, mehr darüber erfahren. Davon ab: Danke fürs Lesen und Kommentieren. LG Crawley |
EagleWriter Bin gespannt lg E:W |