Heimkehr ohne Willkommen.
Waren es Tage, Wochen oder Monate, die Mintzita in der Hauptstadt zugebracht hat? Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie gelitten hat, geschuftet für wenig Geld, unbeachtet und verhöhnt. Das Kind aus der Vergewaltigung hatte sie einem kinderlosen Ehepaar „geschenkt“ und als Dank ein kleines Kreuz an einer einfachen Kette erhalten.
„Zurück zur Rancheria“! Nichts anderes konnte Mintzita mehr denken. Dass sie für den Vater tot war, zählte für sie nicht mehr. Nie wieder wollte sie in
dieser grausamen Stadt leben müssen. Beschwingt von dem sehnsüchtigen Gefühl, bald zu Hause zu sein, stieg sie in den Bus nach Uruapan. Während der Fahrt wuchs diese Vorfreude. Sie sah sich auf die Rancheria zugehen. Von weitem schon zeichnete sich die Steinmauer von Doña Elviras Grundstück zwischen den Bäumen ab. Susana stand am Tor und winkte ihr. Die alte Laura humpelte den Weg entlang und rief ihr ein Willkommen zu. Mintzita malte sich aus, wie sie ihre Mutter traf. Die ließ ihren Korb fallen und breitete die Arme weit aus, um die Tochter zu empfangen.
Als die Rancheria tatsächlich sichtbar
wurde, sank Mintzitas Mut. Erschöpft ließ sie neben einem Baum nieder. Die Sonne zeigte es ihr an, bald würde die Mutter vom Markt zurückkehren. Mintzita ließ den Weg nicht aus den Augen, bis die gebeugte Gestalt in der Ferne auftauchte. Schwer trug die Mutter an ihrer Rückenlast. Mintzita lief ihr entgegen und nahm ihr das Bündel ab. Langsam ließ sie es zu Boden gleiten, hielt es aber mit beiden Händen umklammert. Dabei schaute sie die Mutter schweigend an.
Auxilio hingegen wich ihrem Blick aus. Sie heftete ihn starr auf die nahen Bäume „Mintzita“, murmelte sie: „Du, auf der Rancheria?“ Zögernd wanderte
ihr Blick hin zur Tochter. Mit einer Hand strich sie sich übers Haar und verschränkte dann wie zum Schutz die Arme über der Brust. Kein Wort des Willkommens entschlüpfte ihr. Mit keiner Geste kam sie dem Mädchen entgegen.
„Mutter, ich habe es in der Stadt nicht mehr ausgehalten. Bitte, nehmt mich wieder auf“, flehte Mintzita.
Auxilio ließ nicht erkennen, ob sie die Worte vernahm, ob das Flehen der Stimme sie berührte. Würde sie die Arme ausbreiten und ihrer Freude freien Lauf lassen? Nein. Bei Mintzita kam nur Ablehnung an. Wispernd wiederholte sie: „Ja, aufnehmen, bitte.“
Auxilio stammelte: „Sie alle glauben, du bist tot.“
„Aber du hast gewusst, dass es nicht stimmt.“ Unterdrücktes Schluchzen verwischte den Satz.
„Schon“, Auxilio räusperte sich, „ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen.“
„Auch nicht mit Vater?“
Auxilio schüttelte den Kopf. „Mit ihm schon gar nicht.“ Sie langte nach ihrem Bündel, nahm es Mintzita ab. Dabei streifte ihre Hand den Arm ihres Kindes. Die Berührung glich einem Stromschlag, unter dem Mintzita zusammenzuckte, sie mit Hoffnung erfüllte. Aber die Angst vor dem unversöhnlichen Mann war
übermächtig. Ihre Rechtfertigung kleidete Auxilio in die Anklage: „Du bist ein Stadtmädchen geworden. Du passt nicht mehr zu uns.“ Umständlich rückte sie das Bündel auf dem Rücken zurecht und drehte den Kopf zur Seite. Sonst hätte Mintzita ihre Tränen gesehen. „Bitte!“, flehte sie, „sprich mit Vater.“
Die Mutter blieb stumm. Sie beschrieb eine kleine Bewegung mit der Hand und verschwand mit ihrer fast untragbaren Last zwischen den Bäumen.
Mintzita hob die Arme in einer hilflosen Geste. Aber es gab niemanden, der sie beachtete, keinen, der sagte: Ich richte es mit deinem Vater. Kraftlos ließ sie sich neben dem Baum zu Boden sinken.
Sie schrie, rief, weinte und wisperte, bis ihr Zorn allmählich verebbte. Dann raffte sie sich auf und strich den Rock glatt, als sei es gerade jetzt wichtig, ordentlich auszusehen. Tränen standen noch in ihren Augen. Sie ging zwei Schritte, taumelnd, ohne auf den Weg zu achten. Erschrocken hielt sie inne, erstarrte, der Vater leibhaftig. Wie aus Stein gehauen standen sich zwei Menschen gegenüber Vater und Tochter.
„Vater!“ Angst und Freude raubten Mintzita den Atem. Sie brauchte nur die Hände auszustrecken, um ihn zu berühren.
Für einen Augenblick fiel die Maske von
dem Gesicht des Mannes. Der Mund öffnete sich einen Spalt weit. Würde er das erlösende Wort, ihren Namen aussprechen? Die Arme nach ihr ausstrecken? Er konnte es nicht, blieb starr, blieb stumm. Nur seine Augen glitten über sie hinweg, über ihr Gesicht, ihren Hals, verweilten dort. Ein Kreuz, ein Schmuckstück. von irgendeinem dreckigen Kerl.
Er wandte sich ab. Wie von Zauberhand gelenkt, setzte er sich in Bewegung und ging.
Fassungslos starrte Mintzita ihm nach, bis er verschwunden war. „Vater“, brüllte sie, „warte auf mich.“ Sie wollte ihm nachlaufen, war aber unfähig, sich
zu bewegen.
***
Auxilio konnte ihre innere Unruhe, das unüberhörbar schlechte Gewissen nur mühsam zügeln. Noch immer quälte sie der Zwiespalt der Gefühle zwischen Tochter und Mann.
Angespannt lauschte sie, bis sie endlich Juans schwere Schritte auf der Veranda hörte.
Sie musste sich jedoch weiter gedulden. Erst als alle Kinder schliefen, gab sie der Spannung nach.
„Juan“, stieß sie überlaut hervor, „Mintzita ist wieder da.“
Juan zuckte sichtbar zusammen. „Unsere Mintzita?“
„Unsere Mintzita sie hat in der Stadt gearbeitet und möchte jetzt wieder hier bleiben, bei uns.“
„Allein?“, fragte Juan.
„Allein, ja. Warum die Frage? Wen sollte sie mitgebracht haben?“
Juan machte eine Bewegung mit der Hand, als verscheuchte er eine Fliege.
„Sag etwas, Mann!“, drängte Auxilio. „Sie möchte zu uns zurückkehren, so wie es früher war.“
„Mintzita“, es fiel ihm schwer, ihren Namen auszusprechen. „Sie ist tot. Und Tote können nicht zurückkehren.“
„Aber Juan, ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist hier auf der Rancheria.“ Auxilio fasste den Mann
beim Arm. „Willst du ihr die Tür weisen?“
„Diese Person lügt. Sie ist nicht Mintzita.“
Auxilio wusste, es war sinnlos, weiter in ihn zu dringen. Sie würde nichts ausrichten. Juan könnte es nicht zugeben, nicht einmal, wenn sie vor ihm stünde.