Unbefleckt, doch keine Weihnachts-geschichte
Sie waren wirklich alle etwas geworden. Nun saß die 12b plaudernd beim Rotwein, zer-fallen in dieselben Grüppchen wie vor zwanzig Jahren.
„Da eben Weihnachten war“, begann der Gynäkologe schmunzelnd, „bei uns im Dorf hatten wir einen Fall unbefleckter Empfängnis ... das Leben spielt wirklich verrückt.
Das Mädchen hieß mit zweitem Vornamen Marie, ich kann's nicht ändern. Marie also war
für ihre Mutter das einzige, was ihr verblieben war. Als sie mit 14 ihren ersten Freund hatte, ein lieber, heiterer Bursche, paßte der natür-lich der Mutter hinten und vorn nicht. Ständig gab es Streit, bei dem Gott und alle Heiligen mißbraucht wurden, und alle paar Monate mußte ich Maries Unversehrtheit testieren. Im Fall des Falles hätte ich natürlich gelogen, die Fachliteratur bietet da genug indifferente Diagnosen. Aber ich konnte jedesmal den kranken Verdacht der klammernden Mutter ehrlich für eine Weile zerstreuen. Marie nahms gelassen: Ein regelmäßiger Arztbe-such könne doch nur gut sein.
Und dann trat zum Schrecken aller eines Ta-ges das Befürchtete ein: Nach einem Jahr war
die kleine Marie eindeutig schwanger. Da hat-te ich wochenlang Leben in der Praxis: Die Mutter nannte mich einen Lügner, Betrüger und Zuhälter, den sie bei Kirche und Kammer verklagen würde ... Aber auch im Dorfkret-scham war damals von nichts anderem mehr die Rede.“
„Und die Ausschüttung gabs dann am 24. Dezember?“ fragte der Banker skeptisch.
„Du überforderst den Zufall. Doch ich erzähle euch keine Rias-Ente. Die dicke Marie war nun wirklich mit sich beschäftigt, mußte aber zudem die ständige Wut ihrer Mutter ertragen, die dabei gern auch Herzattacken und Ohn-machten auf Knopfdruck erlitt. Zum großen Glück hielt der Freund zu ihr; das Paar
überstand diese Zeit erstaunlich gut. Sie bekamen einen sehr süßen Jungen. Maries Mutter wurde zunächst das Sorgerecht zu-gesprochen; mit kleinen Geistern konnte sie tatsächlich gut umgehen. Nur klein hätten sie bleiben müssen ... So entspannte sich die Lage in der Familie ein wenig, ins Dorf kehrte der Alltag zurück, und ein paar Jahre ver-gingen. Bis das Paar mit Söhnchen über-raschend eine Wonung in der Stadt fand.“
Die Anwältin nickte bitter: „Anscheinend der Typ Mutter, der bis zuletzt an der Überzeu-gung festhält, Kinder hätte man zur Alters-versorgung, egal was man ihnen die ganze Zeit antat.“
„Leider wahr. Einsam und verbittert erzählt die Frau heute jedem von ihrem ungerechten Da-sein. Du kannst die Menschen nicht ändern.“
„Und war es Windbestäubung?“ brachte ihn der beschwipste Banker zum Thema zurück.
„Dieses Rätsel löste sich in einer Sprechstunde ein paar Jahre später. Wegen des Verbots hatten die jungen Leute Späße er-kundet, von denen die eifersüchtige Mutter wohl bis heute nichts ahnt. Einmal saß Marie in der Wanne und zerrte den vorbeikommen-den Freund in voller Kleidung zu sich ins Wasser. Es blieb nicht beim Schmusen, bald hatte sie seinen Reißverschluß geöffnet ... Einer der kleinen Torpedos hat dann offenbar das Badewasser und alle Hindernisse über-wunden.“
„Heftige Geschichte“, resümierte der Banker. „Eine vernunftbegabte Mutter hätte der Toch-ter Vertrauen und eine Familienpackung Gummizeug geschenkt.“
„Genau so“, bestätigte der Gyn, „statt dessen rief Maries Mutter gerade das hervor, was sie am meisten befürchtete.“
„Ja“, sagte die Anwältin mehr zu sich selbst, „aber ist es nicht immer so?“
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