42. Mondweihe. 775 ÄIII n.Br. – Fürstentum Ledria Der Sommer schien in Ledria nie enden zu wollen. Obwohl der Kalender bereits Mitte Herbst zeigte, strahlte die Sonne sengend vom Himmel herab, erwärmte die Steine, aus denen die hüfthohen Mauern am Wegesrand aufgeschichtet waren, und verlieh dem Grün der Weinberge eine saftige Helligkeit. Die Vögel zwitscherten und der Wind pfiff leise durch das ewige Violett der Lavendelfelder, deren Duft schwer in der Luft
hing. Die kleine Gesellschaft rastete unter einem gewaltigen Lindenbaum, dessen Krone sich über die Straße neigte und mit ihren immer noch grünen Blättern einen angenehmen Schatten spendete. Eva Nell lehnte am starken Holz des Baumes und betrachtete, wie sich der alte Petron an der Kutsche emporreckte, um das Wasserfass auf dem Dach zu erreichen. Ein Mann, dessen Namen sie nicht kannte, warf dem Kutscher einen missbilligenden Blick zu, bevor er seine Fidel zückte, um ein paar schräge Töne zu leiern. Eine schöne Gesellschaft habe ich mir da
angelacht. Sie hielt ihr gesamtes Reisegefolge für einen Haufen Taugenichtse, der den lieben langen Tag nichts anderes taten, als sie zu umschwirren wie Motten das Licht. Natürlich war ihr schon bei ihrem Aufbruch klar gewesen, dass dies eine vollkommen natürliche Folge des Reisens sein würde. Schon zu König Aldrins Zeiten waren die Straßen mancherorts unsicher gewesen, doch seit der Revolution musste man geradezu lebensmüde sein, um allein und unbewaffnet in abgelegene Gegenden zu reisen. Obgleich ein Großteil der Adligen und Royalisten nach Aldrins Tod
in alle Welt geflohen war, verbargen sich auch in Kalatar noch unzählige Königsgetreue, die nur darauf warteten, einem jedem ehemaligen Rebell aus dem Hinterhalt die Kehle durchzuschneiden. Um dem entgegenzuwirken, hatte der Senat seine Todesschwadronen entsandt, die jedoch, wenn man den Geschichten glauben konnte, selbst nicht fähig waren, einen Royalisten von einem Revolutionär zu unterscheiden. Aber das war, wie sie sehr wohl wusste, nur eine Seite der Medaille, denn die Hälfte ihrer Begleiter verfolgte mit ihrer Anwesenheit ganz andere Pläne. Auch wenn der Adel mit der Revolution untergegangen war, machte ihre
Abstammung sie immer noch zu einer guten Partie. Obgleich sie klein und ein wenig mager war, besaß sie mit ihrem feinzügigen Gesicht, den schulterlangen, blonden Haaren und den bernsteinfarbenen Mandelaugen doch eine zarte Schönheit, die im Verlauf ihrer Reise so manchen Buhler angelockt hatte. Sie wissen nicht, was darunter liegt. Einen jeden hatte sie abgewiesen und auch jene, die jetzt noch an ihren Rockzipfeln klebten, vergeudeten bloß ihre Zeit. Sie war verlobt, verheiratet gewesen und für immer, das stand felsenfest, würde sie ihm die Treue halten, auch über den Tod
hinaus. Treue…hatte das sie an diesen Ort geführt? Nein, Treue war es nicht gewesen, das gestand sie sich selbst ein. Etwas anderes leitete sie, etwas, das in ihr loderte wie die Flammen des Infernos selbst, heißer als die Sonne, die auf sie hinabstrahlte: Rache. Sie hob ihren Blick über die Straße zu dem nahegelegenen Weinberg, auf dessen Gipfel ein hübsches Anwesen aus dunkelbraunem Stein thronte. Doch die Wege lagen wie schon seit einer Stunde verlassen da. Wo bleibt Locres nur, verdammt? Die Erwartung brannte so heiß in ihrem
Herzen, dass sie aufspringen musste. Er muss etwas erfahren haben. Er würde sonst nicht so lange brauchen. Er muss ihn gefunden haben… „Wollen Milady einen Apfel?“ In der feurigen Erregung hatte sie den Ankömmling nicht bemerkt, der nun vor ihr stand und ihr einen glänzend grünen Apfel präsentierte. Da sie aufgehört hatte, sich für ihre Reisegefährten zu interessieren, kannte sie auch seinen Namen nicht, jedoch flüsterte eine verblasste Erinnerung, dass er sich ihnen erst vor kurzem angeschlossen hatte. Seine weiche, blumige Aussprache legte jedenfalls nahe, dass er aus der Gegend
stammte. Haben die Menschen denn gar keinen Anstand mehr, dass nun schon die Ledrianer um mich buhlen? Ledrianer…sie hasste das Volk, hasste jeden Menschen, der ihr auf den Straßen begegnete, hasste die Bauern, die Kinder, die Frauen, die alten Herren mit ihren feinen Nasen, die Öl aus den Lavendelblüten pressten, die Winzer, die Orangenhändler, die Musiker. Sie alle sind überhaupt erst verantwortlich für meine Misere. Sie alle sind schuldig. Am liebsten hätte sie alle umgebracht. Ihr Blick haftete auf dem Apfel, der tatsächlich lecker aussah, weshalb sie
ihn ergriff, um anschließend wortlos davon zu stolzieren. Sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, während sie sich ausmalte, welch betrübtes Gesicht der Buhlende nun machen würde. Als sie in den Apfel biss, fraß sich saurer Geschmack in ihre Zunge. Klarer Saft rann aus der Frucht. Wässrig und sauer, fluchte sie in Gedanken, bevor sie den Apfel in ein angrenzendes Lavendelfeld schleuderte. Erneut hob sie den Blick zum Hügel, wo sich noch immer kein Reiter auf der Straße abzeichnete. Die Erwartung brannte so feurig in ihr, dass sie an der niedrigen Mauer entlang hin und herwandern musste. Siebzehn Schritte
vor bis zum Ende des Schattens, den der Baum warf, und wieder siebzehn Schritte zurück. Als ihre Füße in den hölzernen Sandalen zu schmerzen begannen, loderte die Gier immer noch, dass sich all ihre Muskeln verkrampften. Hastig eilte sie zu Petron hinüber. „Gebt mir von dem Wein!“, verlangte sie. Aus den grauen Augen des Alten starrte eine Mischung aus Missbilligung und Verwunderung zurück, bevor er zum strahlend blauen Himmel blickte. „Es ist kaum Mittagszeit, Milady“, entgegnete er, wobei er den Kopf neigte. Unterdessen stachen die hohen, schrägen
Töne, die einer ihrer Reisebegleiter auf seiner Fidel zupfte, wie Nadeln in ihre Ohren, „Ihr wisst, was Euer Bruder darüber sagte.“ „Mein Bruder ist ein Idiot und noch dazu jünger als ich“, faucht sie, während die abartige Symphonie das Feuer in ihr nur noch weiter anfachte, „Sagt diesem Narren, dass er damit aufhören soll!“ „Nun, er ist ein freier Mann, wie wir alle. Ich könnte ihn bitten, aufzuhören, aber das heißt nicht, dass er es auch tun wird“, Petron zuckte mit den Schultern, während sie sich für einen Moment die alte Weltordnung zurückwünschte. Sie wird niemals zurückkehren, niemals
und das ist auch richtig so! Sie würde das Opfer ihrer Familie nicht entehren, indem sie jene lobte, gegen die sie erbittert gekämpft hatten. Stattdessen musste sie sich mit den Umständen arrangieren, dass ihr Titel nur noch Prestige war. „Dann bin auch ich ein freier Mensch; frei, mir den Wein zu nehmen“, konterte sie, was Petron nur dazu verleitete, erneut mit den Achseln zu zucken. „Nehmt ihn Euch, wenn es Euch beliebt. Ich sage nicht, dass es weise ist.“ Er trottete mit einem Wassereimer davon, um die Pferde zu tränken. Kopfschüttelnd blickte sie ihm nach, bevor sie in das dunkle Innere der
Kutsche stieg, das sie mit stickiger Schwüle umfing. Schnell griff sie nach dem silbernen Kelch, der noch in einer hölzernen Halterung neben der Sitzbank ruhte. Unter der Bank fand sie ein kleines Weinfass, mit dessen blutroten Inhalt sie den Kelch füllte. Zugleich mahnte sie sich, im nächsten Dorf ein neues Fass zu kaufen, da sie fürchtete, dieses müsse fast leer sein Zumindest guten Wein musste man in Ledria nicht lange suchen. Nachdem sie sich aus der Kutsche zurückgezogen hatte, setzte sie den Kelch an ihre Lippen und goss den gesamten Inhalt in ihren Rachen, in der Hoffnung, er würde das Feuer und die Schreie der Rache ertränken. Doch nichts
dergleichen geschah, denn der Wein war in der Kutsche lauwarm, schal und sauer geworden, sodass sie ihn fast wieder herausgewürgt hätte. Erbittert rang sie gegen ihre eigene Natur, um sich nicht vor der gesamten Reisegesellschaft übergeben zu müssen. Der Schwindel ergriff sie, zwang sie, sich auf der Mauer abzustützen. Die scharfkantigen Steine schnitten beinahe in ihre Haut. „Da kommt Locres zurück!“, rief irgendwer auf der anderen Seite der Kutsche, bevor ein beißend schriller Ton der Fidel seine Stimme verschluckte. Ausgerechnet jetzt! Hastig rappelte sie sich auf und stolperte an der Kutsche entlang, wobei
sie spüren konnte, wie die spöttischen Blicke zweier Edelmänner aus Vaska in ihren Nacken stachen. Obwohl es die Übelkeit nur noch verstärkte, schaffte sie es irgendwie, den Kopf zu heben, um zum Hügel zu blicken. Tatsächlich entdeckte auch sie die weiße Stute, die ihren Reiter von dort herabtrug. Wenig später konnte sie ihn genau erkennen. Ein Gesicht, das sich in Durchschnittlichkeit selbst verwischte, ragte über dem Kragen eines weißen Seidenhemds auf. Darüber trug Locres Olyr ein leichtes, dunkelbraunes Lederwams, auf dessen Brust die achtzehn Zacken des königsblauen Sterns strahlten. Jeder Zacken
repräsentierte eines der ehemaligen achtzehn Fürstentümer, aus denen sich die kalatarische Republik zusammensetzte. Seinen Träger ehrte der Stern als Angehörigen der Sternengarde, die sich selbst Erste Verteidiger der Freiheit nannten. Obwohl diese darum bemüht war, im Eindruck strenger Disziplin und elitärer Stärke zu walten, hatte Locres bislang nur durch seine Unfähigkeit bestochen. Eva glaubte bisweilen, sein einziger Verdienst sei es, als Sohn des berühmten Marque Olyr geboren worden zu sein. Dieser hatte während der Revolution mit seiner Brigade die westkalatarischen Fürstentümer verraten und so den
Streitkräften des Königs den Dolchstoß versetzt. Seitdem waren immer wieder tapfere, aber wenig ehrenhafte Männer über die Meerenge aus Lothan gekommen, um für seinen Verrat Rache zu nehmen. Sie freute sich stets darüber, dass ein jeder in seinem Vorhaben gescheitert war, denn sie kannte und mochte den alten Olyr. Tatsächlich hatte er einst zugegeben, dass ihr Schicksal ihn dereinst zu seinem Verrat an König Aldrin bewegt hatte. Daher hatte sie ihm die Bitte nicht abschlagen können, sich auf ihrer Reise von seinem Sohn begleiten zu lassen. Immerhin schien Locres aufrichtiger zu sein als der Rest der Reisegesellschaft. Darüber hinaus
war er jedoch eher schwächlich und unsicher. Wenn er vom Pferd stieg, benahm er sich so ungeschickt, dass sie stets fürchtete, er würde stürzen und sich den Hals brechen. Aber irgendwie gelang es ihm auch dieses Mal, lebend auf seinen Füßen zu landen. Wie immer kniete er zunächst vor ihr nieder. Zu Beginn ihrer Reise hatte er dabei sogar noch versucht, ihre Hand zu küssen, was sie ihm jedoch schnell ausgetrieben hatte. „Steht auf und sagt mir, was Ihr erfahren habt!“, verlangte sie. Ihre Übelkeit war unterdessen in der Neugier ertrunken. „Nicht viel, wie ich wohl gestehen
muss“, entgegnete Locres aufrichtig betrübt. „Dieses Gut gehörte einst Comte Avel Jonathras, einem guten Freund der Schwarzschilds. Sie müssen etwas wissen!“, fauchte sie. „Ihr habt natürlich Recht. Das Weingut gehörte Comte Jonathras, doch ist er mit dem Großteil seiner Gefolgsleute nach Lothan geflohen. Jetzt sitzt ein Weinhändler der Südkalatarischen Handelszunft auf dem Anwesen und beteuert, während der gesamten Revolution auf den Splitterinseln gewesen zu sein und gar nichts zu wissen.“ „Und das glaubt Ihr
ihm?“ „Nun ja…es könnte schon sein, dass er mich angelogen hat“, gestand Locres, wobei er mit den Achseln zuckte, „Ihr wisst, dass die Leute in der Gegend mich hassen. Die Westlande standen immer voll und ganz hinter König Aldrin und mein Vater hat sie damals verraten. Sie haben allen Grund dazu.“ „Macht Euch darüber keine Gedanken, Locres. Mich hassen sie auch“, entgegnete sie mit unterschwelligem Stolz. „Wie Ihr meint, Milady“, er machte einen Knicks. „Ich möchte selbst mit diesem Händler reden“, entschied sie, „Er soll die
Reisegesellschaft bewirten, dann gelingt es mir vielleicht, ihm etwas zu entlocken.“ „Ich fürchte, das wird er nicht tun. Uns bewirten, meine ich. Ihr vergesst, dass das alte Gastrecht nicht mehr gilt. Der Händler ist ein freier Mann und nicht verpflichtet Euch zu beherbergen und durchzufüttern. Und solange er nicht verpflichtet ist, wird er es auch nicht tun. Ich meine, er ist ein Händler: Er tut nichts, das ihm Kosten einbringen könnte.“ „Und wenn wir ihn bezahlen?“, der letzte Keim ihrer Hoffnung welkte dahin. „Vergesst es, Milady“, knurrte Petron von den Pferden her, „Dafür fehlt uns
das Geld.“ „Also schön“, sie senkte die Schulter, während die unbefriedigten Flammen der Rache zornig durch ihre Eingeweide tobten, „Ziehen wir also weiter. Was ist der nächste Ort?“ „Travelle, Milady“, antwortete Locres sofort. Travelle, es wird ja immer besser. Travelle war die Hauptstadt des Fürstentums Ledria, die Stadt der Schwarzschild und des Mannes, der ihre Seele mit seiner Grausamkeit gebrandmarkt hatte, den sie nun jagte und um den sich nun schon seit Jahren ihr ganzes Leben drehte. „Ich bin mir sicher, dass wir dort eine
Spur von Renard Schwarzschild finden werden“, versicherte Locres, aus dessen Worten die Aufmunterung triefte. Der Name stach wie ein glühender Schürhaken in ihren Geist, der Zorn loderte in ihren Augen und ihre Stimmbänder brannten: „Erwähnt den Namen niemals in meiner Gegenwart!“, fauchte sie Olyr an, der sogleich einen Satz zurückwich. „Verzeiht, Milady. Ich wollte nicht…“ „Natürlich nicht“, ihre Stimme klang wie das Zischen einer Giftschlange, „Geht mir aus den Augen!“ „Natürlich, ich…bin schon weg“, stammelte Locres, bevor er davontapste. „Macht die Pferde klar!“, herrschte sie
Petron an, „Wir brechen sofort auf!“
EagleWriter Eva scheint ja der Inbegriff an Freundlichkeit zu sein^^ Beginnt auf jeden Fall schon mal spannend und die Welt ist auch nach meinem Geschmack. Ein entmachteter Adel, der offenbar immer noch seine alten Fehden ausfechten muss, das wird auf jeden Fall interessant lg E:W |
EagleWriter Eva scheint ja der Inbegriff an Freundlichkeit zu sein^^ Beginnt auf jeden Fall schon mal spannend und die Welt ist auch nach meinem Geschmack. Ein entmachteter Adel, der offenbar immer noch seine alten Fehden ausfechten muss, das wird auf jeden Fall interessant lg E:W |