Biografien & Erinnerungen
Günti

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"Günti's Konversationen fanden stets in aller Öffentlichkeit statt..."
Veröffentlicht am 20. Juni 2014, 14 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Mit Vorliebe schreibe ich Drabbles, Krimis und Kurzgeschichten... Ich liebe diese fabelhaft pointierten Miniatur-Geschichtchen. Zur Abwechslung schreibe ich auch gern mal eine erotische Geschichte... Ansonsten hoffe ich auf viele geneigte Leser und freue mich über jeden ehrlich gemeinten Kommentar. Zwei Städte sind mir neben Berlin besonders wichtig: Paris und Venedig... 09.Mai 2015 Ich habe heute erfahren müssen, dass Silvi ...
Günti's Konversationen fanden stets in aller Öffentlichkeit statt...

Günti

Bleistift






Günti


Kurzgeschichte

Günti

Es ist früher Vormittag. Ich stehe vor meiner Haustüre und schaue missmutig in den mit tiefen Wolken verhangenen Himmel. Ein permanenter Nieselregen fällt aus diesem dunkelgrauen Wolkenmeer und perlt von meiner Brille. Verdammt, dachte ich. Dieser Wetterbericht, den sich die Wetterfrösche für heute ausgedacht hatten, der bewahrheitet sich ausnahmsweise tatsächlich doch einmal.

Dem entsprechend gedrückt ist natürlich auch meine Stimmung. Stimmung hin oder her, ich muss dringend zur Physiotherapie und habe demzufolge überhaupt keine Zeit für irgendwelchen zeitverschwenderischen Firlefanz. Heutzutage ist nämlich alles getimt

und läuft ab wie ein Uhrwerk, zwei bis drei Mal die Woche für jeweils neunzig Minuten.

Und nur wer pünktlich eintrifft, der kommt in aller Regel auch pünktlich dran. Es darf halt nur nichts dazwischen kommen.


Kommt es aber, denn justament in diesem Augenblick biegt ein älterer freundlicher Mann mit einem ewigen Grinsen im Gesicht um die Ecke und winkt mir schon von weitem zu. In der Hand trägt er wie immer seinen kleinen Einkaufskorb aus geflochtenen Weidereisern. Günti... Günti ist Rentner, schon etwas über die achtzig hinaus und ein großer hagerer Typ, der zudem immer zu einem Scherz aufgelegt ist. In seinem früheren Leben war er einstmals

Sankra-Fahrer am hiesigen städtischen Krankenhaus gewesen und fuhr bis zu seiner Berentung tagtäglich etliche Rettungseinsätze. Am Tag, als er dann seinen Abschied nahm, hatte ihm das Krankenhaus ein äußerst großzügiges Geschenk gemacht. Ein Papier in welchem festgeschrieben stand, dass er, Günti, jeden Tag zum kostenlosen Mittagessen in der Betriebskantine des Krankenhauses erscheinen durfte, solange er wollte… Lachend erzählte er mir von diesem Coup.

»Wenn die gewusst hätten, dass ich ihnen mit über achtzig, jeden Tag aufs Neue, immer noch die Haare vom Kopf fressen würde, dann hätten sie mir wohl niemals einen solchen Vertrag kredenzt«, scherzte er. Dazu ließ er

ein lautes Lachen erschallen, wie weiland Alf der Melmakianer, wenn der gerade eine überaus schmackhafte Katze erwischt hatte. Witwer ist er seit langem schon und Kinder hat er keine, wie er mir später einmal sagte. Und so musste er sich selbst versorgen und seinen täglichen Lebensmittel-Einkauf im Supermarkt stets allein organisieren. Dennoch kam ihm das nicht gerade ungelegen. Wenn er nämlich unterwegs war, traf er beim Einkaufen immer irgendwie auf jemanden aus der unmittelbaren Nachbarschaft, mit dem er dann ein Stückweit plaudern konnte.

Den täglichen Einkaufsweg nutzte er für seine gesellschaftliche Konversation. Dabei ist ihm sogar das Wetter wurstpiepegal… Allerdings war diese Plauderei meistens nur

sehr einseitig, denn Günti begrüßte jeden seiner Mitmenschen immer mit demselben stereotypen Satz, »Warte mal, kennste den...?« Er holte tief Luft, tippte sein Gegenüber leicht gegen den Oberarm und im selben Atemzug kam ihm bereits der erste Witz des Tages über die Lippen. Der so Überrumpelte hatte meist gar keine Chance, den allerneusten Witz zu verpassen, der ihn nun von Günti in durchaus theatralischer Manier und gar gut pointiert zu Gehör gebracht wurde. Wenn Günti also etwas richtig gut konnte, dann war es Witze erzählen. Extra zu diesem Zweck hatte er sich einen alten, ausgedienten Laptop im Technik A&V für billig Geld organisiert und sich die Klappiste von einem hilfsbereiten Nachbarn

zuhause anschließen lassen. Über eine Mailadresse verfügte er nicht. Wozu auch, er hatte ja ohnehin niemanden der ihm schrieb, oder mit dem er sich hätte schreiben können. So wurde die Witzseite zugleich zur Startseite festgeschrieben und Günti ward alssobald der treuste Stammkunde auf dieser witzigen Spaß und Humor verbreitenden Internetseite…

Einmal empfahl ich ihm meine Schreibseite, wo er auch einige lustige Geschichten lesen könnte. Aber Günti schüttelte nur traurig lächelnd den Kopf und meinte,

»Selbst wenn ich deine Seite gefunden hätte, so hätte ich doch niemals wieder zu meiner Witzseite zurückgefunden. Nee, nee, lass' man gut sein, Louis. Ich weiß, es ist gut von dir gemeint und bestimmt auch sehr

interessant, aber von diesem ganzen blöden Internetkram, davon hab ich doch überhaupt keine Ahnung...«

So blieb es denn dabei, dass er jeden Tag nur seine Witzseite besuchte und die allerneusten Witze quasi in sich aufsaugte... »Tut mit leid, Günti, sagte ich, leider gar keine Zeit heute, ich muss jetzt nämlich…« Günti nickte verstehend, »Ich weiß, du musst zur deiner Physio. Na dann erzähle ich dir heute eben nur mal einen ganz kurzen. Also, kennste den….?« Ich musste innerlich schmunzeln und nachdem Günti seine gut auswendig gelernte Pointe freudestrahlend abgefeuert hatte, lachten wir beide sogar herzlich darüber. Er wie Alf und ich wie Louis. Sogleich erschien

uns beiden dieser total verregnete Tag schon sehr viel freundlicher...


Wochen später begann ich irgendwann einmal Günti und seine Witze zu vermissen. Als die sanfte Vorfrühlingssonne bereits ihre ersten wärmenden Strahlen losschickte, das noch schlummernde Grün aufzuwecken, traf ich die Postbotin auf der Straße und fragte, ob sie vielleicht wüsste, was denn mit Günti los sei. »Der Witzerzähler?«, fragte sie zurück. Ich nickte. »Na, der ist doch schon kurz vor Weihnachten an Krebs gestorben, wussten Sie das denn nicht?« Ich schüttelte betroffen den Kopf. Sie sah mich mitleidig an, »Tja, ich muss dann mal wieder...«, sagte sie

entschuldigend und setzte sich auf ihr gelbes Postfahrrad. So war Günti still und ohne ein leises Servus von uns gegangen... Es hätte ihm übrigens gefallen, dass ich diese Geschichte über ihn geschrieben habe, denn er liebte Geschichten. Hatte er in seinem Leben doch selbst sehr viele davon erlebt. Gute und weniger gute… Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass er Petrus an der Himmelspforte mit den Worten begrüßt hatte,

»Kennste den…?«



***







Impressum

Cover: selfARTwork

Coverpicture : Rainer Sturm_pixelio.de

Text: Bleistift

© by Louis 2014/6 Update: 2019/4

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Über den Autor

Bleistift
Mit Vorliebe schreibe ich Drabbles, Krimis und Kurzgeschichten...
Ich liebe diese fabelhaft pointierten Miniatur-Geschichtchen.
Zur Abwechslung schreibe ich auch gern mal eine erotische Geschichte...
Ansonsten hoffe ich auf viele geneigte Leser und freue mich über jeden ehrlich gemeinten Kommentar.
Zwei Städte sind mir neben Berlin besonders wichtig:
Paris und Venedig...

09.Mai 2015
Ich habe heute erfahren müssen, dass Silvi Bredau am Samstag, dem 25. April 2015
ihren Kampf gegen den Krebs endgültig verloren hat...
Ich schäme mich meiner Tränen nicht...
Louis

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Brubeckfan Eine schöne Erinnerung, Louis.
(Kleiner Tipp?: "Coup")
Viele Grüße,
Gerd
Vergangene Woche - Antworten
Bleistift 
Ha, merci Gerd, auch für den Schusselfehler, den ich natürlich sofort an seinen Finder verschenke, quasi als Anzahlung für den zustehenden Finderlohn... ...smile*
(kleiner Scherz von mir... ...grinst*)
Was mich aber auch auf den Gedanken an eine erneute Veröffentlichung einer anderen "Fehlergeschichte" bringt... ...smile*
Merci, also für diesen hübschen kleinen Denkanstoß... LOL*
LG von dem eisigen Berlin nach dem frostigen Berlin...
Louis :-)

Vergangene Woche - Antworten
FranckSezelli Lieber Louis,
vielen dank, dass ich Günti kennenlernen durfte. Eine schöne Geschichte, die einen erst traurig macht, dann aber das Herz erwärmt.
Liebe Grüße ins verschneite Berlin
Franck
Vergangene Woche - Antworten
Bleistift 
Lieber Franck,
merci, fürs Lesen und den freundlichen Kommentar von Dir dazu... ...smile*
Allerdings konnte ich damals, als ich alles erfahren hatte, diese Geschichte irgendwie nicht so aufschreiben, weil es mich doch ziemlich mitgenommen hatte. Erst auf Drängen meiner Frau ist dann doch noch eine kleine Geschichte daraus geworden, über die er sich sicher bestimmt sehr gefreut hätte, denn er war ja im übertragenen Sinne selbst ein pointierter Geschichtenerzähler... ...smile*
LG aus dem eisigen, aber unverschneiten Berlin...
Louis :-)
Vergangene Woche - Antworten
FranckSezelli Ich hatte Fotos mit Schnee in Berlin gesehen (meine Schwester wohnt dort). Aber inzwischen ist er wohl schon wieder weggetaut.
Vergangene Woche - Antworten
Bleistift lacht*
Bestenfalls gibt es hier nur noch tiefgefrorenen Matsch, was aber äußerst schlecht ist für mein Vorwärtskommen im Rolli... :-/
LG
Louis :-)
Vergangene Woche - Antworten
Gast Das ist klar und zu bedauern. Aber lange dauert die Kälteepisode sicher auch in Berlin nicht.
ich drücke dir die Daumen.
LG Franck
Vergangene Woche - Antworten
Enya2853 Nach so langer wieder sehr gern gelesen, mit leichtem Schmunzeln und doch Wehmut.
Eine Hommage für Günti, stellvertretend für doch einige, die so leise gehen.
Stimmt sehr nachdenklich.
Kennst du den Spruch: "Von jedem Menschen, der dich berührt, bleibt ein Stück an dir hängen."?

Und wenn ich an den Schluss deiner so einfühlsam erzählten Geschichte denke, dann weiß ich in diesem Fall auch, was hängengeblieben ist. Und das ist gut so.

Hab eine gute Nacht, Louis
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
Liebe Enya,
ich danke Dir sehr herzlich für das erneute Lesen,
dieser alten Günti-Geschichte, and last but not least,
auch für diesen tollen Kommentar von Dir dazu... ...smile*
Und nein, diesen Spruch, den kannte ich noch nicht,
aber wenn ich es mir genau überlege, dann könnte
vielleicht sogar wirklich etwas dran sein... ...smile*
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
welpenweste Toll!
Zumal mich einmal eine Freundin von mir dauernd mich Günti nannte, das mir gar nicht so als Spitznahme gefiel.
Herzlich
Günter
Vor langer Zeit - Antworten
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