Im Krankenhaus wurde ich gründlich durchgecheckt, aber trotz der Menge an Wasser, die ich geschluckt hatte (Hamburger Hafenwasser!), war ich in Ordnung. Die Ärztin lächelte mich an. „Na, da haben Sie ja Glück gehabt, das freut mich! Ihr Freund wartet draußen, darf er rein kommen?“ „Er ist nicht mein Freund“, beeilte ich mich zu sagen, „nur mein Lebensretter.“ Das letzte Wort spuckte ich fast aus und sie verzog irritiert das Gesicht. Einer plötzlichen Eingebung folgend stellte ich dann noch eine Frage, die regelrechtes Entsetzen auslöste. Ich glaube aber, die Antwort war ehrlich, trotz allem, nur leider so, wie ich befürchtet hatte.
Als die Ärztin das Zimmer verlassen hatte, zog ich mich rasch an und schlüpfte aus der Tür. Am Ende des Ganges sah ich sie mit Mr. Rockstar reden, aber sie bemerkten mich nicht. Wahrscheinlich wollte er eh nur ein Bild von uns in der Zeitung, um sich von der Öffentlichkeit feiern zu lassen. Das jedoch wäre dann tatsächlich mein Ende! Gehetzt tigerte ich durch die Eingangshalle, wo mir manch fragender Blick wegen der feuchten Kleidung folgte. Endlich hatte ich es hinaus geschafft! Jetzt musste ich nur noch meine Sachen holen. Die kleine Tasche enthielt das Nötigste und war mein wertvollster, dabei auch einziger Besitz. Kurz bevor ich an die Brüstung getreten war – wobei ich noch immer selbst
nicht wusste, warum und wozu! - hatte ich das Bündel in einem Gebüsch verstaut. An der Haltestelle der Straßenbahn überlegte ich, ob ich jetzt überhaupt zur Unfallstelle fahren sollte. Nachher hatte sich die Geschichte schon rum gesprochen und Tonis Männer warteten dort auf mich ... Aber andererseits brauchte ich die Sachen und seit dem, sagen wir mal, Unfall waren erst knapp zwei Stunden vergangen. Es war also eher unwahrscheinlich, dass dort schon jemand nach mir suchte, die Zeitung würde erst morgen berichten. Ich stieg ganz hinten aus und schlenderte betont gemütlich auf die Brücke zu. Die Gegend war leer und windig wie eh und je, die Aufregung des Vormittags hatte sich gelegt, meine Chancen standen also gut! So unauffällig wie möglich steuerte ich auf das Gebüsch zu, in dem ich mein Bündel versteckt hatte, aber voller
Enttäuschung stellte ich fest, dass es verschwunden war und hätte am liebsten laut geschrien! Im nächsten Moment drohte aus der Enttäuschung Panik zu werden. Darin war mein Führerschein, das einzige Dokument, das wenigstens ansatzweise bewies, dass ich existierte. Was hatte ich nicht alles getan, ihn zu schützen und zu behalten!! Ein kehliges Schluchzen stieg in mir auf und ich sank auf die Knie. Ohne das Ding hatten sie gewonnen. Ohne hatten sie das Ziel erreicht, meine Existenz zu löschen. Da konnte ich ja jetzt eigentlich gleich zurück gehen. Hinter mir hörte ich Schritte und wusste, jetzt war es zu spät. Langsam stand ich auf und drehte mich um. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Ärger erkannte ich, dass es schon wieder er war, Rollen D. Rubel, mein 'Retter'.
Verschiedene Gefühle durchzuckten mich, Erleichterung, weil es doch nicht Tonis Schergen waren, Ärger, weil er etwas in seiner Hand provokativ in die Höhe hielt. Mein Bündel! „Suchst du das hier?“, grinste er mich an und ich schloss müde die Augen. Mir fehlte plötzlich die Kraft , ihn anzuschreien oder sonst wie zur Schnecke zu machen. „Ja, das gehört mir. Wärst du so freundlich, es mir auszuhändigen?!“, sagte ich leise, wohl wissend, dass dieser Wunsch eitel und nichtig war. Tatsächlich schüttelte er den Kopf. „Nein, jedenfalls NOCH nicht. Erst würde ich dich gerne etwas fragen.“
Ich zuckte nichtssagend mit den Achseln. Was sollte ich auch tun? Körperlich war ich ihm auf jeden Fall unterlegen, also gut, sollte er seine soziale Ader an mir auslassen. Ein paar Lügen würde ich ihm schon auftischen können. Auch wenn es in der Tat seltsam war, dass eine erwachsene Frau statt mit einem Köfferchen mit einem Landstreicherbündel umherzog ... „Warum bist du so? So … kratzbürstig und darum bemüht, jede freundliche Seele von dir zu stoßen?! Wieso wolltest du Selbstmord begehen und warum hast … in der Klinik diese Frage gestellt?” Mein Ärger richtete sich abrupt auf diesen Nebenschauplatz. „Sie hat es dir gesagt? Soviel zur ärztlichen Schweigepflicht!” „Sie nahm an, wir wären verwandt. Nimm es ihr
nicht übel, bitte.” „Oh, jetzt stehst du wahrscheinlich dumm da, weil deine 'Cousine' nach einer Abtreibung gefragt hat!”, ätzte ich und versuchte, mich meinem Bündel unauffällig zu nähern. Doch er durchschaute mich und hielt es wieder in unerreichbare Höhen. „Ach, das ist nicht so schlimm, ich bin als Freigeist bekannt”, grinste er und ich dachte, °Respekt, er nimmt es gelassen!° „Na, das freut mich ja dann. Gibst du mir jetzt meine Sachen oder soll ich laut um Hilfe schreien?” „Hm, irgendetwas sagt mir, dass du das eh nicht tun würdest”, gab er zurück und am liebsten hätte ich ihm den ironisch-triumphierenden Ausdruck aus dem Gesicht getreten. Doch gleichzeitig senkte er die Tasche, so dass ich sie endlich ergreifen konnte, hielt sie aber immer
noch fest. „Ernsthaft”, meinte er plötzlich mit seltsamer Miene, „natürlich kannst du sie haben. Aber glaubst du nicht, dass du mir einen Gefallen schuldest?!” Entsetzt sprang ich einen Schritt zurück. Das schlug dem Fass den Boden ins Gesicht! „WAS?!! Ich dachte, euer blödes Lied sei ironisch gemeint; und jetzt stehst du hier und willst von mir, dass ich mit dir-” „Etwas essen gehst, was denkst du denn?” Die Antwort auf die Frage schien ihm selber gerade einzufallen und er machte nun seinerseits einen Schritt zurück, streckte mir meine Sachen entgegen. „Um Himmels Willen, was denkst du denn da!!”, wiederholte er. „Wenn es das ist, was du glaubst, hier nimm deine Sachen, ich halte dich nicht weiter auf!” Rollen D. Rubel schien ernsthaft gekränkt zu sein und während ich mein Bündel nahm,
stammelte ich eine leise Entschuldigung. „Schon gut”, brummelte er daraufhin. „Aber wie sieht es aus, ich könnte mir vorstellen, dass du genau so großen Hunger hast wie ich nach unserer Schwimmaktion ...” Ich musste unwillkürlich lachen, denn er sah so süß aus in diesem Moment, mit bettelndem Dackelblick und gefurchter Stirn. So nickte ich. „Okay, ich könnte schon was vertragen. Aber nur an der Imbissbude da drüben, ja?” Mein Magen hing mir nämlich wirklich auf halb Acht, wie man so schön sagt, seit meiner letzten Mahlzeit waren schon ca. 24 h vergangen. Als wir uns dem Stand mit dem schönen falschen Genitiv „Mitzi's Currywurst” näherten, ließen die leckeren Gerüche meinen Magen heftig knurren und Rollen konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Grins nicht so”, murrte ich, musste aber im
nächsten Moment selber lachen. „Also, was darf's denn nun sein?”, fragte er dann galant und ich entschied mich für eine Currywurst mit Pommes, ganz klassisch. Rollen hielt sich nur an Pommes. So sehr ich mich auch bemühte, manierlich zu essen, kaum hatte ich die ersten Bissen gekostet, fing ich an zu schlingen wie eine Geisteskranke. Ich schielte zu meinem Gastgeber, aber der sah nicht so amüsiert drein, wie ich befürchtet hatte. Er schob mir nur stumm seine noch fast volle Schale rüber und bestellte per Handzeichen noch eine Portion. Ja, ich schämte mich für meine Gier, aber der Hunger war übermächtig. Irgendwann war ich dann zum Glück doch gesättigt und Rollen nicke anerkennend. „Nicht schlecht für ein Mädchen mit so schlanker Figur.” Kurz zuckte ich die Schultern. „Wird sich in
nächster Zeit ja auch ändern.” Er wurde wieder ernst. „Was du gerne verhindert hättest”, stellte er fest und ich seufzte. „Ja, aber es ist jetzt eh zu spät. Ich werde es wohl austragen müssen.” „Ist das der Grund … Wolltest du dich deswegen umbringen? Hat dein Freund dich im Stich gelassen?” Rollens Stimme war leise und sanft, als fürchte er, ich könne jeden Moment wieder abhauen. Ich schloss die Augen und dachte einen Moment nach. Wenn es doch so einfach wäre! Dann schüttele ich den Kopf. „Nein, also, um genau zu sein, ich weiß nicht mal selber, ob ich mich umbringen wollte oder nur aus Blödheit ins Wasser gefallen bin. Das musst du mir glauben! Ich weiß nur, für einen Moment lang habe ich … diese Lösung willkommen geheißen.
Es fühlte sich gut an, so, ich weiß nicht, in einer großen Wattewolke aufzugehen ...” Erschrocken stellte ich fest, dass er seine Hand auf meine gelegt hatte und zog sie hastig weg. „Aber dann setzte wohl der Überlebensinstinkt ein und dann kamst auch schon du”, beendete ich meine Rede und sah ihn an. „Also noch einmal vielen Dank für die Rettung. Ich hoffe, der kleine Ausflug schadet deiner Stimme nicht. Deiner Karriere bestimmt nicht!” Er drehte die Augen nach oben. „Na, ich kann die Schlagzeilen morgen kaum abwarten. Dabei wollten wir nur in Ruhe unser Video drehen.” „Das hab ich jetzt geschmissen, tut mir leid!” Noch einmal wollte er nach meiner Hand greifen, stoppte sich aber rechtzeitig mit einem entschuldigenden Lächeln. „Das muss es nicht. Aber ich gebe zu, es interessiert mich einfach … Du interessierst mich! Wie kommt es, dass du so um ein schäbiges Bündel kämpfst, die
Helfer so von dir stößt und dann auch noch … ” Ein tiefer Seufzer entfuhr mir. „Es ist kompliziert.” Etwas enttäuscht antwortete er „Das dachte ich mir.” Hinter uns war das Geräusch eines rasch näher kommenden Autos zu hören und ich sah mich alarmiert um. „Rollen, ich danke dir noch einmal für alles, aber ich werde jetzt besser gehen!”, verabschiedete ich mich, doch er griff noch einmal kurz nach meinem Handgelenk. „Warte! Nimm das hier mit.” Dabei drückte er mir eine Visitenkarte in die Hand. „Ich glaube daran, dass es ein besonderes Band zwischen zwei Menschen durch eine Lebensrettung gibt. Also ruf an, wenn du … Hilfe brauchst. Oder einfach einen Freund zum Reden, ja?!!” Ich nickte stumm, da es mir gerade die Kehle
zuschnürte. So nett war schon lange niemand zu mir gewesen, schon gar kein Mann! Doch dann übermannte mich wieder die Angst angesichts des auf uns zu schlingernden Autos und ich rannte davon.