Lyrus:
Holgers Traum
Als Holger ins Bett stieg, dachte er daran, was für ein aufregender Tag nun zu Ende gegangen war. So mochte er es. Seine letzten Gedanken galten dem verletzten Storch, den er gefunden und versorgt, sozusagen das Leben gerettet hatte.
Dann schlief er zufrieden ein.
Plötzlich wurde es taghell im Zimmer und vor ihm stand ein wild schimpfender Storch.
„Ich bin zu alt für solche Aktionen geworden“, hörte er ihn sagen. „Meine Landungen werden immer schrecklicher. Ich bin zu alt, zu alt, zu alt …“ Als er sich etwas beruhigt hatte, trat er näher ans Bett heran.
Holger starrte ihn mit ungläubigen Augen an.
„He, hab keine Angst, Junge. Ich will dir nichts tun. Im Gegenteil: Ich möchte dich einladen, mich auf unser Fest der jährlichen Danksagung zu begleiten.“
„Wohin soll ich dich begleiten und wer bist du überhaupt?“ Holger konnte das alles nicht fassen und entsetzt sah er nun auch ein riesiges Loch in der Wand,
durch das der Storch gekommen sein muss.
Der seinerseits trat ungeduldig einen Schritt zurück, stampfte mit dem Fuß auf und …
Widibu Widiba … stand der Junge angezogen vor ihm.
„Ich bin der Kurierflieger Kasimir. Unser Ältestenrat gab mir den Auftrag, dich abzuholen. Mach jetzt also keine Geschichten und steig auf.“
Holger glaubte das alles nicht. Was war hier los? Wieder sah er auf das riesige Loch in der Wand.
„Tut mir leid, aber ich bin nicht mehr der beste Flieger“, sagte Kasimir beschämt, ebenfalls auf das Loch
blickend. „Aber ich brauche diesen Job noch eine Weile. Ich möchte noch nicht ins Heim für verdienstvolle Kurierflieger, in dem sich ausrangierte Störche langweilen. Erzähle bitte niemandem etwas über meine Bruchlandung! Abgemacht?“
„Ja, okay. Ich behalte es für mich“, beteuerte Holger und sprang auf Kasimirs Rücken, der durch das Loch hinaus stakste. Er rannte über die Wiese vor dem Haus und schlug mit den großen Schwingen. Nach einigen ersten Balanceproblemen Holger krallte sich an dem langen Hals fest, weil er hin und her rutschte bekam der Storch die Sache doch noch in den Griff, stieg hoch und
flog mit seiner Last ruhig durch die Nacht.
Ab und zu wich Kasimir einigen Vögeln aus, die er zu spät gesehen hatte, aber ansonsten hatte Holger seinen Spaß.
„Halt dich gut fest jetzt, ich setze zur Landung an“, rief der Pilot nach einiger Zeit.
Ehe der Junge aber die Nachricht richtig aufnahm, spürte er schon einen mächtigen Ruck und kurze Zeit später trullerten beide wie Bälle über den Boden.
Kasimir erholte sich zuerst von dem Schrecken der Bruchlandung. „Ist alles in Ordnung, Junge?“
„Ja, alles okay“, antwortete der. „Aber
deine Art der Landung ist schon ziemlich gefährlich, würde ich sagen“.
„Storchenbein und Froschgequake“, entgegnete Kasimir ärgerlich. „Du hast ja keine Ahnung, Junge, wie schwer es ist, in meinem Alter noch zu fliegen. Aber egal: Geh dort hinüber zu den Zelten. Eines davon ist für dich. Zieh dich darin um und läute, wenn du fertig bist, die Glocke am Eingang.“
Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Bruchpilot um und ging.
„Tut mir leid“, rief Holger ihm nach und ging auf die Zelte zu.
Auf die Stoffbahnen waren Gesichter von Menschen gemalt. Überrascht blieb er stehen, als er auf einem der Zelte sein
Gesicht entdeckte.
Ohne sich noch weiter zu wundern, trat er hinein. Gleich neben dem Eingang lag ein Storchenkostüm, dass in aufwendiger Handarbeit gefertigt sein musste.
Als er es übergestreift hatte, fand er doch, dass er ein wenig ulkig aussah.
„Was solls? Von meinen Freunden sieht mich ja niemand.“, kicherte er und trat wieder vor das Zelt, um die Glocke zu läuten. Das machte Spaß und er wollte gar nicht wieder aufhören.
„Hör jetzt lieber auf, sonst platzt mir noch mein Trommelfell!“
Erschrocken drehte sich Holger um und sah eine dicke Storchendame vor sich,
die ihn gutmütig ansah.
„Ich bin Grisella“, sagte sie lächelnd. „Komm mit, wir gehen zum Festplatz!“
Dort loderte ein riesiges Feuer, um das viele Störche herum saßen, die vergnügt mit einander plauderten.
Die dicke Grisella und er setzten sich dazu. Bis auf zwei thronähnliche Plätze schienen alle anderen nun belegt zu sein.
„Warum bin ich eigentlich hier, Grisella?“ Dem Jungen wurde nun doch ein wenig unheimlich zumute.
„Weil du ein mutiger, kleiner Junge bist, der sich viel um uns und andere Tiere kümmert. Und weil du nichts darauf gibst, dass deine Freunde dich hänseln,
wenn du, anstatt mit ihnen zu spielen, lieber Storchennester baust oder Futterplätze für andere Tiere. Weil es nicht mehr viele Kinder deiner Art gibt, bist du hier.“
„Und ich habe dieses Fest gestaltet, denn ich bin hier der Schatzmeister, man nennt mich Eurodus. Und glaub mir, wenn … “ Der Storch wurde jäh durch laute Fanfaren unterbrochen.
Alle schauten zum Himmel hoch. Holger sah einen großen, roten Teppich, der auf jeder Seite von einem kräftigen Storch gehalten wurde und darauf saßen zwei prächtig geschmückte Storchenvögel.
„Das sind der König und die Königin“, rief Grisella mit kräftiger Stimme und
ringsum brach lauter Jubel los.
Nachdem die Beiden wie rohe Eier abgesetzt worden waren, bestiegen sie ihre Thronstühle. Der König hob seine Flügel und gebot seinen Untertanen Ruhe und …Widibu Widiba … wurde es totenstill auf dem Festplatz.
„Meine Freunde“, begann der König feierlich. „Viele Jahre kommen wir schon in dieses Brutgebiet und nutzen die liebevoll vorbereiteten Nistplätze. Hier, im vom Menschen geschaffenen Naturschutzgebiet finden wir ausreichend Nahrung. Dadurch haben die Menschen einen großen Anteil daran, dass wir weiter existieren können. In diesem Jahr wollen wir den
kleinen Holger ehren, der sich sehr um uns und andere Tiere bemüht und der genau weiß, dass Mensch und Tier von einander abhängig sind und wir alle bei gegenseitiger Achtung eine glückliche und lange Zukunft haben können.“
Wieder brach tosender Jubel aus. Holger trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Als er zum König sah, winkte dieser ihn zu sich heran.
Gemeinsam mit dem Königspaar schaute er nun in die Runde und nur das Knistern des Feuers störte die Stille. Von diesem Platz aus konnte Holger sehen, dass am Rande des Festplatzes auch andere Vögel saßen. Er erkannte Raben, Eulen, einen Habicht, Finken,
Spatzen und sogar einen Zeisig.
Holgers Herz klopfte wild, er war wahnsinnig aufgeregt.
„Du musst jetzt nichts sagen, mein Junge. Es ist dein Fest und wir alle hier wollen dir damit unseren großen Dank ausdrücken. Nimm hier zwischen uns Platz und sieh dir unser Geschenk an, dass die Schönsten unter uns für dich vorbereitet haben.“
Ein kräftiger Paukenschlag ertönte und aus allen Richtungen traten Störche mit Musikinstrumenten in den Feuerschein. Die Melodien erinnerten Holger an die russischen Volkslieder, die seine Mutter immer spielte.
Der Rhythmus wurde immer feuriger und
dann … kamen die Tänzerinnen. Sie hatten wunderhübsche Kostüme an, die im Schein des Feuers wie Edelsteine glitzerten. Auf dem Kopf trugen sie kleine Kronen, als wären sie allesamt Prinzessinnen.
Der Tanz begann und immer, wenn die Tänzer hoch in die Luft flogen, wurde ihr Gefieder durch das Licht des Mondes geheimnisvoll angestrahlt. Schließlich bildeten die Tänzerinnen einen Kreis und die Musik verstummte bis auf das leise Spiel einer Violine. Langsam öffnete sich der Kreis, indem die Tänzerinnen beiseite traten und ein reglos im Gras liegender Storch wurde sichtbar.
Holger dachte, der Tanz sei nun vorbei, bis … Widibu Widiba … der Storch, der eben noch am Boden gelegen war, mit einem Male hoch in die Luft flog, dann vor Holgers Füßen landete, und ehe der Junge richtig wusste, wie ihm geschah, saß er auf dem Rücken des Vogels, der mit ihm hinauf in den Wind segelte.
Andere Störche erhoben sich auch und behängten Holger im Flug mit Efeukränzen und Girlanden aus Storchenfedern. Das Königspaar kam hinzu und der König setzte ihm eine Krone auf den Kopf.
„Der Storch, auf dessen Rücken du gerade sitzt“, sprach nun der König, „ist
Filippa, unsere Tochter. Sie ist der Storch, dem du gestern das Leben gerettet hast. Dafür gebührt dir natürlich der größte Teil unserer Dankbarkeit.“
Die eben erwähnte drehte lächelnd den Hals und zwinkerte Holger lustig zu. Als sie gerade etwas sagen wollte, spürte Holger eine kräftige Windböe, sah Filippas erschrockenes Gesicht und … er fiel hinab zur Erde.
„Au, verdammt. Was ist jetzt wieder los?“ Holger rieb sich die Augen und fand sich auf dem Boden vor seinem Bett liegend. Langsam stand er auf. Wo sind alle hin, fragte er sich. Der König, Filippa, Grisella: Wo sind sie?
Allmählich dämmerte ihm, dass alles wohl nur ein Traum gewesen war. Als er aber gerade enttäuscht zurück ins Bett steigen wollte, entdeckte er an der Stelle, an der Kasimir in Holgers Traum ein Loch in der Wand hinterlassen hatte, eine lange wunderschöne Storchenfeder.
Da lächelte der Junge und kletterte, die Feder fest an sein Herz gedrückt, zurück ins Bett und schlief sofort wieder ein.