wie der Bambus auf die Erde kam
Es war lange vor unserer Zeit, als in einem fernen Land die Menschen schon einmal die Bäume gefällt hatten. In ihrer Gier nach Reichtum und Luxus war das geschehen. Tag und Nacht brannten die Feuer, um es hell zu haben. Oder um immer und an jedem beliebigen Ort braten und backen zu können. Oder um es bei kühler Witterung warm zu haben. Dann brannten auch wieder Wälder, weil die Menschen glaubten, noch mehr Land für Felder und Weiden haben zu müssen. Und ihre Häuser und Paläste wurden aus den kostbarsten Hölzern gebaut, welche die Natur je hervorgebracht hatte. Die Menschen hatten
auch keine Ehrfurcht vor uralten Baumriesen. Nein, sie mussten ihr Holz für die Bedürfnisse der Menschen opfern. Die Bäume konnten gar nicht so schnell wachsen wie sie wieder gefällt wurden.
So geschah es eines Tages, dass auch der letzte Baum gefällt wurde. Wo einst herrliche, schattige Wälder üppig wuchsen, da gab es jetzt nur noch heiße, staubige Grasländer. Langsam wurde den Menschen bewusst, dass sie etwas falsch gemacht hatten, denn auch ihre Feuer erloschen und ihre hölzernen Gebäude wurden von Schädlingen zerstört.
Eine der Dorfgemeinschaften berief eine Versammlung ein und sie berieten, was nun zu tun sei.
„Es ist wichtig, wieder Bäume zu pflanzen.“ - „Aber wir haben keine Samen und Stecklinge mehr.“ - „Wie töricht. Wir haben alle Samen und Stecklinge dadurch vernichtet, dass wir die Bäume schon gefällt haben, ehe sie überhaupt blühen und Früchte tragen konnten.“ - „Lasst uns zu anderen gehen und dort Samen oder Setzlinge gegen die kunstvollen Stoffe unseres Dorfes tauschen.“
Der Vorschlag wurde angenommen und eine Gruppe Abgesandter ausgewählt, die sich auf den Weg machte.
Aber überall, wohin diese kamen, fanden sie das gleiche Bild: kein Baum, kein Strauch, nur die vielen Arten Gras, die sie so gut kannten. Doch die ersetzten kein Holz für
Haus oder Feuer. Überall schlossen sich neue Bittsteller der Gruppe an. Aber Hilfe fanden sie nicht.
Als sie schon völlig verzweifelt wieder bei einer Dorfgemeinschaft eintrafen, meldete sich ein altehrwürdiger Greis zu Wort:
„Wenn wir keine Lösung finden, so lasst uns die Götter um Hilfe bitten. Ich will noch sechs würdige Männer mitnehmen.“
Sorgfältig wählte er seine Begleiter aus. Der mit dem längsten Bart meldete sich zuerst zu Wort:
„Ehrwürdiger Mann, wir wollen zuerst den Flussgott befragen. Er wohnt hinter dem Hügel in einem Schilfdickicht am Fluss.“
So machten sich also die sieben Weisen auf den Weg. Wie erschraken sie aber, als sie am
Fluss ankamen. Er war nur noch ein Rinnsal und das ehemals üppige Schilf eine dürftige Ansammlung gelbbrauner Stängel mit trocken raschelndem Laub.
Alle warfen sich am Fluss nieder und der Alte bat mit demütiger Stimme:
„Hochverehrter Flussgott. Wir sind einen langen und weiten Weg gewandert, um deine Hilfe zu erbitten.“
Da raschelte es aus dem Schilf: „Sprecht nur, Kinder, sprecht.“
Wieder verneigt sich der alte Mann: „Wir sind traurig, weil wir erfahren mussten, dass wir durch das Fällen der Bäume nun kein Feuerholz und kein Holz für unsere Häuser haben. Bitte sage du uns, was wir tun müssen, damit wir wieder Holz haben und
neue Bäume wachsen.“
Erneut raschelte es aus dem Schilf: „Leider kann ich euch nicht helfen. Seht, selbst der Fluss leidet unter Wassernot, weil die Bäume fehlen und es nicht mehr regnet. Geht zum Gott der Tiere. Vielleicht weiß der einen Rat.“
Traurig verneigten sich die Weisen, dankten dem Flussgott und der mit dem langen Zopf meinte:
„Ich weiß, wo der Gott der Tiere lebt. Kommt mit zu dem großen Felsen nicht weit von hier.“
So machten sie sich auf und kamen zu der Höhle des Gottes der Tiere. Wieder warfen sie sich nieder und riefen ihn um Hilfe. Ein dumpfes Grollen drang aus der Höhle.
„Ihr habt meinen Kindern Heimat und Nahrung
genommen. Alle sind umgekommen. Ich kann euch nicht helfen. Geht zum Gott der Pflanzen.“
So machten sie sich denn auf den Weg. Der Älteste der sieben Weisen führte sie hinaus in die Grassteppe und bei Sonnenuntergang forderte er seine Begleiter auf, sich auf den Boden zu werfen. Gemeinsam wollten sie jetzt den Gott der Pflanzen anrufen.
Da vernahmen sie ein Wispern: „Die Göttin der Gräser müsst ihr rufen. Wenn ihr das Kostbarste opfert, das ihr jetzt noch besitzt, wird sie euch helfen.“
„Und was ist das Kostbarste“, fragten die Männer wie mit einer Stimme.
„Opfert jetzt alles Getreide, das ihr als Nahrung bei euch tragt. Und lasst keinen
Zweifel daran, auch weiterhin jedes Jahr Opfer zu bringen, wenn euch die Göttin hilft.“
„Wo finden wir die Göttin der Gräser?“ „Nach einem weiteren Tag, den ihr in Richtung Sonnenuntergang gehen müsst, werdet ihr die Göttin der Gräser treffen.“
So fanden sich die sieben Männer am folgenden Abend nach einem von der Sonne durchglühten Tag mitten in der Grassteppe. Weit und breit war nichts zu hören oder zu sehen. Sie warfen sich nieder auf die Erde. Dann begann der Älteste zu sprechen:
„Hochverehrte Göttin der Gräser, wir sind gekommen, um dich um Hilfe zu bitten. Wir haben einen großen Fehler gemacht und alle Wälder abgeholzt. Wir haben auch vor den ältesten Baumriesen nicht Halt gemacht. Wir
wissen, dass wir viel zerstört haben. Aber wir brauchen Holz zum Heizen und für unsere Wohnungen. Und es muss ganz schnell gehen, denn wir wissen sonst nicht, wie wir überleben können. Schließlich brauchen Bäume viel Jahre zum Wachsen und die Zeit haben wir nicht mehr.“ Doch nichts geschah.
Da meldete sich der mit dem Zopf zu Wort: „Gestern Abend haben wir dir alle unsere kostbaren Vorräte zu Füßen gelegt, damit du siehst, dass es uns sehr ernst ist. Wir haben auch erkannt, dass wir wieder Wälder brauchen. Und wir wollen sie hegen und pflegen. Bitte hilf uns, verehrte Göttin der Gräser.“ Der mit dem längsten Bart fügte noch an: „Und jedes Jahr wollen wir dir reichlich Opfer bringen und ein großes Fest
feiern. Erbarme dich der Erdenkinder, hoch verehrte Göttin der Gräser.“
Eine Weile geschah gar nichts. Die Männer wollten sich in ihrer Verzweiflung zurückziehen, als rundherum alle Gräser erzitterten und es allenthalben raunte und wisperte. Rasch nahmen sie ihre demütige Haltung wieder ein. Dann vernahmen sie leise und eindringlich die Stimme der Göttin:
„Erdenkinder, es ist sehr schlimm, was ihr Mutter Natur angetan habt. Aber ihr seid einsichtig und so will ich euch helfen. Einige meiner Kinder sind ganz besondere Gräser. Wenn ihr diese künftig hegt und pflegt, wird sich die Welt und euer Leben in kurzem zu eurem Glück wenden. Nun legt euch nieder. Und morgen, wenn ihr bei Sonnenaufgang
aufbrecht, findet jeder von euch ein Bündel mit Gräsern. Nehmt es mit, verteilt die Pflanzen in euren Dörfern und sorgt dafür, dass sie umgehend eingepflanzt werden. Und wenn ihr sie gut pflegt, werden sie euch bald alles geben, was ihr zum Leben braucht. Ihr findet Holz für eure Häuser und die Geräte, welche für ein angenehmes Leben nötig sind. Ihr bekommt Fasern für eure Kleidung und eure Betten. Und zuletzt bleibt noch Holz für eure Feuer übrig. Die aber entzündet nur, wenn es sehr kalt ist. Und Nahrung werden euch die Gräser auch geben. Versucht es einmal.“
Jetzt herrschte wieder völlige Stille. Die Männer verharrten immer noch in ihrer ehrfürchtigen Haltung, als der Älteste
begann:
„Große Göttin der Gräser, wir danken dir für deine Hilfe und wir versprechen, alles so zu tun, wie du es uns aufgetragen hast.“ Und der mit dem längsten Bart fuhr fort: „Und einmal im Jahr werden wir dir zu Ehren, große Göttin, ein wunderbares Fest feiern und dir stets für diene Güte und Hilfe danken.“
Danach schliefen alle vor Erschöpfung rasch ein.
Als sie am Morgen erwachten, lagen sie im kühlen Schatten hoher Pflanzen, die sie an Palmen erinnerten. Doch bei genauer Betrachtung erkannten sie, dass es riesige Gräser waren. Haushoch waren viele gewachsen, andere nur so hoch wie sie selbst
oder kleiner. Und jeder der Männer fand ein Bündel Setzlinge neben sich, sorgfältig in ein großes Blatt gewickelt. Voller Dankbarkeit warfen sie sich nochmals vor der Göttin der Gräser in den Staub, ehe sie sich auf den Heimweg machten.
In ihren Dörfern angekommen, berichteten die Rückkehrer von ihren Erlebnissen mit den Göttern und überreichten die Gaben der Göttin der Gräser. Nachdem sie die Setzlinge verteilt hatten, überwachten sie das Pflanzen und Pflegen der göttlichen Geschenke.
Kaum dass der Mond seinen Lauf zum zwölften Mal vollendet hatte, erhoben sich wieder dichte Wälder in der ganzen Gegend und es regnete regelmäßig. Die Flüsse führten genügend Wasser und eine große
Zahl Tiere war zurückgekehrt. Jetzt war die Zeit für das große Fest gekommen, um endlich der Göttin der Gräser mit reichlichen Opfergaben für ihre Güte und Hilfe zu danken.
Erstmalig bauten die Menschen mit den neuen Materialien ein großes Haus, brachten von allem, das sie aus dem Holz der Riesengräser hergestellt hatten, ein Stück und legten es in dem Haus nieder. Hier wollten sie künftig immer die Göttin verehren. Und sie gaben den neuen Pflanzen einen Namen: BAM BUUS, welches in ihrer Sprache “Baum der Gräser“ bedeutete. Der Älteste der weisen Männer trat vor das Haus, neigte sich tief zur Erde, ehe er einen seltsamen Gesang anstimmte. Darin dankte er im Namen
aller der Göttin der Gräser für ihre Güte und Barmherzigkeit und für ihr großes Geschenk an die Kinder der Erde. Da begann ein Wispern und Rascheln rundum und die Leute konnten darin die Stimme der Göttin vernehmen: „Kinder der Erde, ich danke euch für dieses Fest. Die Gaben von Mutter Erde und die Geschenke der Götter sollen euch für immer heilig sein.“
Als das Rascheln und Wispern wieder verstummt war und der Mond strahlend vom gestirnten Himmel leuchtete, holten die Männer ihre Musikinstrumente hervor, um zum Tanz aufzuspielen. In den Pausen gab es reichlich zu Essen und zu Trinken und sie zeigten stolz ihre neuen Kleider. Dann wiegten sie sich erneut im Tanz.
So endete das rauschende Fest erst bei Sonnenaufgang.