Die Story
Die Kakophonie aus Rauschen, Motorengeräusche, und schuftender Leute war ohrenbetäubend. Mike stand ganz oben auf dem Transportband. Sein Abschnitt hatte sich verklemmt, seine Signallampe leuchtete und der Alarm gellte in seinen Ohren. Wenn er das Paket nicht binnen zwei Minuten befreite, würde die ganze Anlage still stehen und Mike bekam von Wenzel etwas zuhören. Es war nie gut wenn der Betrieb stillstand. Dann floss kein Gewinn, dann bekamen Kunden nicht ihre heiß begehrten Sachen. Eigentlich
war es ihm aber egal, eigentlich.
Fast jedes Paket war mit dem Schriftzug von Amazon, bedruckt. Einige wenige von Otto, manche von Zalando. Nur noch wenige kamen von kleineren Kunden. EBay verschickten seine Bosse nicht, genauso wenig wie private Pakete. Hinz und Kunz sollten zur Post. Hier war Business angesagt. Mike trat gegen das Paket, vielleicht ein Blueray-Player? Das Paket löste sich, rutsche die Röllchenbahn herunter und landete vor dem klaffenden Maul eines Anhängers, vor dem drei Männer und eine Frau tätig waren.
Memo hob den Daumen. Ihm gefiel die Aktion, er konnte weiter machen. Wenzel
war unter ihm, er hielt sich die Hände wie einen Trichter vor den Mund.
„Nicht treten!“ brüllte er rauf.
„Okay!“ rief Mike, Daumen hoch. Fick dich auf Facebook, du Spinner!
Die folgenden Pakete wurden automatisch gescannt und auf ihre Weiterreise geschickt, eins landete noch bei Memo und seinen Leuten. Die Pausenglocke erklang und der Krach in der Halle ließ nach.
„Dreißig Minuten Pause. Danach möchten wir Sie bitten wieder an Ihrem Arbeitsplatz zu sein!“ Die schrille, mechanische Stimme brannte in Mikes Ohren. Er stieg die Leiter herab und landete neben Memo, der ihm auf die
Schulter klopfte. „Hast du gut gemacht alter Mann.“
Mike war dreiundvierzig, Memo gerade zwanzig. Er war noch am Anfang seiner Karriere. Mike hatte nie eine angestrebt. Es war sein X-ter Job in einem X-ten Betrieb. Acht bis neun Euro Lohn, mehr sah er für sich nicht. Mehr musste er nicht haben. Wenn er sich einige Jahre auf Sozialhilfe ausruhen konnte, war das okay, aber kein Muss. Mike hatte keine Angst vor der Arbeit. Sie war aber nicht sein Leben. Er tat was es zu tun gab, wenn es nichts gab, blieb er Zuhause. Whiskey konnte man immer trinken, ein Joint war schnell gedreht und eine Story
war schnell geschrieben.
Mike schrieb seit er dreizehn war und seit zehn Jahren saugte das Internet seine Geschichten auch auf. Kein Geld, kein Beinbruch. Er hatte eine Geschichte für eine Zeitung geschrieben, einige bei verschiedenen Verlagen in Anthologien veröffentlicht und er tobte sich auf den Seiten des Netzes aus. Irgendwem war immer langweilig.
Wenzel kam auf ihm zu. „Seh ich das noch einmal, gibt' s 'ne Abmahnung!“
„Jepp!“ Mike nickte und grinste.
„Lach nicht so Schmierfink!“ Wenzel holte hinten aus seinem Hosenbund eine zusammengerollte Ausgabe der Neuen
Revue hervor und schlug Mike damit auf die Schulter. „Ich werd' jetzt schön scheißen gehen, mir deine Story ansehen und mir dann damit den Arsch abwischen. Für mehr taugst du nicht.“
„Ich glaub nicht, dass Sie nach dem Wichsen noch Lust zum Lesen haben.“ Wieder grinste Mike.
„Ich weiß, dass du fliegen willst!“ knurrte Wenzel und knirschte mit den Zähnen. „Den Gefallen tu ich dir aber nicht, mein Freund! Von meinen Steuern noch mehr Mist verzapfen … Gibt' s bei mir nicht!“
„Auch das Jahr geht rum!“ sagte Mike ganz ruhig und drehte sich weg.
Wenzel verschwand zum Klo. Memo
schaute Mike mit großen Augen an. „Dem hast du es aber gegeben!“
„Der wichst auch bloß mit rechts. Vor dem knie ich nicht.“
Memo zog eine Neue Revue aus seiner Latzhose. „Hab auch eine mein Freund. Werde sie mir heute Mittag geben. Bin schon ganz gespannt. Wie viel hast du dafür bekommen?“
„Fünfundzwanzig Euro.“ Mike machte eine wegwerfende Geste.
„Fünfundzwanzig Euro? Die verkaufen tausende Magazine und du kriegst fünfundzwanzig Euro?“
„Sie kaufen das Schundblatt nicht wegen mir. Titten und Rezepte. Die wollen nur die Seitenzahlen. So kriegen
sie sie voll. Also keine Kohle.“
„Mann, da verdienst du ja weniger die Stunde als hier.“
„Nicht mal ein Zehntel!“ Mike ließ die Schultern hängen.
Doro trat neben Memo und riss ihm das Magazin aus der Hand. „Ist das Kunst, oder kann das weg?“
Das Mädchen, gerade achtzehn tanzte um die beiden Männer herum, dabei lachte sie ihr typisches Lachen, was die kleine Russin so liebenswürdig machte. Memo versuchte das Magazin zu erhaschen, doch die Blondine war schneller. Ihre großen Brüste hüpften in ihrer Latzhose und dem Baumwollhemd auf und ab. Mike blieb
ganz ruhig stehen, blickte zu Nico und Jan herüber, die dem Treiben mit einem Schmunzeln zusahen. Nicht weil die beiden Griechen es toll fanden, dass ihr türkischer Kollege verarscht wurde, sonder weil sie dies Mädel einfach nur süß fanden. Vor allem wenn ihre Titten so toll hin und her schaukelten. Männer waren schnell zu begeistern. Vor allem von jungen Frauen. Mehr brauchte es nicht. Mike war der älteste aus dem Haufen. Er hatte mit den drei Männern am Wagen angefangen, doch er war Wenzel wohl zu langsam und als Doro angeheuert hatte, verschob der Vorarbeiter Mike nach Oben. Auf den Turm, wie er scherzte. Mike fand das
gar nicht lustig, er hatte Höhenangst. Und er hatte eine kurze und heftige Affäre mit Doro gehabt. Was eigentlich auch klar war. Wenn einer das Mädel aus der Gruppe besteigen durfte, dann war er es, ein ungeschriebenes Gesetz von Mutter Natur. Nicht das er viel dafür tun musste. Sie nahm ihn einfach bei der Hand und blieb bei ihm, solange sie wollte. Das war genau ein Monat.
„Gib sie wieder!“ motzte Memo und schnappte nach dem Magazin. Als er es wieder hatte, schlug er nach dem Mädchen.
Mike schlurfte zu dem Tisch, griff in seine Tasche und holte den kalten Döner heraus,
den er sich vor der Arbeit gekauft hatte. Jan und Nico reichten ihm Trauben und Schafskäse und die Fünf begannen ihre Pause. Memo legte das Magazin neben sich auf den Tisch und schlug die Seite mit Mikes Geschichte auf. Er wollte sie wohl doch früher lesen. Langsam las er die ersten Sätze, dabei bewegten sich seine Lippen. Doro setzte sich auf Mikes Schoss und biss von seinem Döner ab. Dabei lachte sie und spülte mit Cola nach. Eine Fliege summte an ihnen vorbei und schoss auf das Neonlicht zu. Doro stand auf und setzte sich neben den Türken.
„Die ist unheimlich traurig!“ sagte sie und deutete auf das Magazin.
„Hast du sie gelesen?“ fragte Mike.
„Klar schon damals. Konnte nicht schlafen, da hab ich sie in deinen Unterlagen gefunden.“
Die drei Südländer schauten das Mädel an, dann guckten sie zu Mike und zogen die Brauen hoch. Respekt!, sagten ihre Blicke.
„Nun, mein Leben ist halt so. Das Leben der Leute über die ich schreibe ist halt so.“
„Aber sie hat keinen Wert. Literarisch vielleicht, aber wer will das lesen? Ich mein den Leuten geht es dreckig genug. Sie wollen Freude. Unterhaltung. Hoffnung.“
„Amazon wird spätestens in fünf
Jahren darauf kommen, einen eigenen Paketdienst anzubieten. Wie viel Hoffnung macht dir das?“ Mike schaute sie abschätzend an.
„Ja, aber du solltest anders schreiben. Dann könnte echt was aus dir werden. Schreib doch Fantasy!“
„Ich habe keine Phantasie! Ich schreib über das was ich kenne!“ Die Fliege surrte an seinem Kopf vorbei, er versuchte sie zu fangen.
„Ganz schlecht Mr. Mijagi!“ Memo lachte. Dann las er weiter, er hatte gerade den ersten Absatz erreicht.
Mike biss wieder in seinen Döner. Doro drehte einen Kreis mit ihrem Zeigefinger auf der abgewetzten Tischplatte.
Sie lächelte. Mike kannte das Lächeln, mit dem Lächeln sagte sie immer, dass sie langsam geil wurde. Nach einem halben Jahr fand sie ihn immer noch interessant, wenn auch nur für ihr Bett. Doch er wusste, wenn die Schicht vorbei war, würde sie wieder zu ihrem Freund fahren und es mit ihm treiben. Vielleicht würde ihr Fahrradsattel und die Erinnerung an die gemeinsamen Nächte sie noch etwas geiler machen, aber die Früchte würde ihr Patrick ernten. Und es war auch richtig so! Ein Mädchen wie Doro sollte mit Jungs wie Patrick, oder vielleicht mit einem jungen Mann wie Memo in die Federn hüpfen. Er war immer nur ein Wanderer,
der weiter musste. Im Job, wie in der Liebe. Seine Liebe galt dem Wort. Seine Obsession gehörte den Welten zwischen seinen Ohren.
„Vampire machen jetzt eine Menge Geld.“ stellte das Mädchen fest.
„Vampire können mich am Arsch lecken!“ Mike warf den Rest seines Döners in die Tonne. Die Fliege flog hinterher.
„Ich möchte in deinem Alter nicht mehr hier sein.“ Doro raufte sich die Haare.
„Wenn du Glück hast brauchst du das auch nicht.“ sagte Mike lapidar. „Wenn du dich für eine Karriere auf dem Strich entscheiden solltest, muss du
aber schnell umsatteln. Deine Uhr tickt Mädchen!“
„Du bist so ein Arsch!“ Doro war sauer, Mike hatte übertrieben - was ihm aber egal war.
„Ja!“
Das Mädchen verließ den Tisch und ging wieder zu dem Schlund des LKW-Anhängers. Schmollte.
„Das war nicht nett!“ meinte Memo und blickte von der Story auf.
„Ich bin nicht auf der Welt um nett zu sein.“
Die Fliege landete auf den Tisch. Mike griff blitzschnell nach dem Magazin, es zerriss, den Rest rollte er zusammen, schlug nach der Fliege, die
schon wieder verschwunden war, sah sie an Jans Gesicht vorbei huschen und erschlug sie auf dessen Stirn.
„Hey Mann, bist du blöd!“ fluchte der Grieche.
„Ich wollte das Lesen!“ motzte der Türke.
„In drei Minuten ist Ihre Pause vorbei!“ erklang die mechanische Stimme durch die Halle, die Motoren wurden gestartet.
Wenzel stand neben ihrem Tisch und starrte Mike giftig an. „So Hemingway, die Oben wollen mit dir sprechen!“
Mike zuckte mit den Achseln.
„Püppchen!“ brüllte der Vorarbeiter zu Doro. „Du gehst auf den Turm!“
Mike folgte Wenzel durch die Halle, überall sah er Kollegen, mit der neusten Ausgabe der Neuen Revue. Wenzel führte ihn durch den Betrieb, der wieder mit einem lauten Alarm zum Leben erwachte, wie Gandalf die Gemeinschaft durch die Minen Morias. Als sie in den Verwaltungstrakt eintraten, wurde es ruhiger.
„Du hast Talent!“ Wenzel grunzte es fast. „Warum hängst du in deinen Pausen immer mit den Kanaken ab? Du könntest nach oben in den Aufenthaltsraum kommen. Der Kaffee ist gut und es riecht nicht nach Öl.“
„Ich mag Menschen!“ gab Mike knapp wieder.
Wenzel schwieg.
Sie standen vor der Türe eines der vielzähligen Büros, indem die großen Männer saßen. Wenzel klopfte. Der Betriebsleiter für die Nacht bat sie rein.
„Latour! Herr Direktor.“ er stand zackig da, wie beim Appell.
„Danke Wenzel!“ Frosch tat großzügig. „Sie dürfen uns verlassen.“
Wenzel verschwand und Mike blieb stehen.
„Setzen Sie sich Herr Latour.“ Frosch bot Mike einen Platz an.
Mike setzte sich.
„Sie schreiben also Herr Latour?“
Mike nickte.
Frosch lächelte.
Mike wartete. Schweigen. Langes Schweigen. Ein Schweigen, das ihn an eine Story erinnerte. Keine von seinen. Eine, die er mal gelesen hatte. Frosch holte aber keine Zigarre hervor. Die Neue Revue lag auf Froschs Schreibtisch. Seine linke Hand parkte darauf. Schweigen.
Dann: „Wissen Sie Herr Latour, ich schreibe auch.“
„Als hätte ich' s gewusst!“ Mike lächelte.
„Sie schreiben Scheiße!“ Frosch lächelte nicht mehr. „Sie glauben, Sie könnten mit Ihrem Bukowskidreck die Welt verändern! Den Armen aufs Maul schauen, den Reichen verprellen! Damit
werden Sie nicht groß. Damit stoßen sie nur auf!“
Mike sagte nichts.
„Sie werden nicht einmal einem Menschen von Ihren Ideen überzeugen. Wissen Sie warum nicht? Weil die Welt nun mal so läuft und sich diese Stubenfliegen nicht widersetzen. Sie ertragen alles, sie wehren sich nicht. Und sie beschuldigen Leute wie Sie als Nestbeschmutzer! Sie haben Talent, nutzen Sie es! Verkaufen Sie sich. Wie es alle tun. Diese Scheiße hier, in einem Scheißmagazin, zwischen Titten und Apfelkuchen, macht Sie vielleicht stolz, aber es ist nichts! Dreck! Nichts was einem weiter bringt. Glauben Sie,
Sie sind der Einzige, der sich nach seiner Arbeit in den Kopf schießen will? Der auf der Suche nach dem nächsten Fick ist und hofft, dass es noch einen geben wird. Nein, mein Freund! Sind Sie nicht. Aber es sollte Ihnen egal sein. Weil es den Anderen auch egal ist!“
„War' s das?“ fragte Mike.
„Nein! Ich habe Sie gegooglet. Wissen Sie unter welchen Vorschlägen Sie auftauchen?“
Mike zuckte mit den Schultern, es war ihm furzegal.
„Dreizehnjährige in den Arsch gefickt, Oma in den Mund gefickt, Spermafest im Altenheim, Kinder
erschlagen und und und! Und wissen Sie was auch bei Ihrem Namen auftaucht?“
Mike schüttelte den Kopf.
„Michael Latour arbeitet bei Paketdienst Haase!“ Frosch schlug wild auf die Tischplatte. „Sie mein Herr sind schlecht für unser Geschäft. Wir haben hier also Leute beschäftigt, die sich mit Kinderschänder identifizieren, Sex im Altenheim haben möchten? Glauben Sie, so können wir schwarze Zahlen schreiben? Das Sie gut für unser Geschäft sind?“
Mike lächelte. Er war ganz ruhig und starrte Frosch in die Augen.
„Ich weiß, Sie wollen gefeuert werden. Nein, sie werden hier arbeiten.
Sie kommen zu den Lageristen. Ich werde Sie Überstunden fressen lassen. Es sei denn, Sie hören mit dieser Schmiererei auf!“
Mike stand auf. „War' s das?“
Frosch schaute ihn grimmig an.
„Ich soll mich morgen dann also im Lager melden?“
Froschs Gesicht zerlief wie heißes Wachs. „Ja …“
Mike ging. Er stempelte aus, verabschiedete sich bei seinen vier Kollegen. Wenzel starrte ihn wild an, sagte aber nichts. Mike wusste, dass der Job im Lager der einfachste seines ganzen Lebens sein würde. Er würde keinen Handschlag machen. Er würde
kommen und gehen. Er würde seine kleine Welt verändern. Nur mit seinen Geschichten. Und vielleicht, wenn er hier ging, heuerte er bei Amazon an ….
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