Prolog
Liebe Sally,
verzeih mir, dass ich, wenn du das hier liest, nicht mehr da bin.
Verzeih mir, dass ich dich in den letzten Tagen mies behandelt habe.
Verzeih mir, dass ich nicht fĂĽr dich da war.
Verzeih mir, dass ich dir nichts gesagt habe.
Bitte.
Verzeih mir.
Liebe Sally, ich weiĂź, du wolltest immer nur das Beste fĂĽr mich, aber ich konnte
dir nie glauben. Ich bin nicht wie du; ich bin nicht fĂĽr diese Welt geschaffen.
Verzeih mir, dass ich das hier tue.
Es tut mir Leid.
Es tut mir aus tiefstem Herzen leid.
Es tut mir so Leid, aber ich kann nicht mehr. Ich kann wirklich nicht mehr.
Ich halte all das nicht mehr aus.
Ich halte es nicht mehr aus immer nur das fĂĽnfte Rad zu sein sobald eine weitere Freundin da ist.
Ich halte es nicht mehr aus bis spät in die Nacht aufzubleiben, zu viel zu denken und zu weinen.
Ich halte es nicht mehr aus euch alle anzulächeln und „Es geht mir gut“ zu sagen.
Es geht mir nämlich verdammt noch mal überhaupt nicht gut!
Es geht mir beschissen um ehrlich zu sein.
Alles was ich will, alles was ich tue, alles was ich sage, alles ist falsch.
Ich kann nichts, ich bin wertlos.
Sag jetzt nicht, dass ich etwas wert bin. Ich bin es nicht.
Ich frage dich, Sally, wie kann jemand, der so hässlich und dumm ist wie ich, etwas wert sein?
Sag nicht, dass ich das nicht sei, Sally.
Ich besitze einen Spiegel, Sally. Und ich hasse den Menschen, den ich in ihm sehe. Ich hasse mich mehr als jeden anderen
Menschen auf dieser Welt.
Ich habe es satt.
Ich kann nicht mehr.
Ich kann dich nicht mehr anlĂĽgen. Ich kann euch alle nicht mehr anlĂĽgen.
FĂĽr mich gibt es aber keine Hilfe, Sally.
Sag nicht, es gäbe sie.
Es gibt sie nicht.
Nicht fĂĽr jemanden, der so kaputt ist wie ich.
Sally, wenn ich es heute beende, dann trauere nicht um mich.
Lebe dein Leben so wie du es wolltest.
Erfülle dir deine und unsere Träume.
Geh nach Paris, bestehe dein Abi, heirate, bekomme Kinder; tu, was immer du wolltest.
Sally, ich warte auf dich auf der anderen Seite.
Verzeih mir, Sally, aber die Welt ist besser ohne mich dran.
Das hier ist nicht mein Ort zum Leben. Das ist deiner. Aber nicht meiner.
Ich gehöre nicht hierher; nicht in diese Welt.
Trauere also nicht, wenn ich es heute beende.
Ich tue uns allen und mir einen Gefallen.
Bitte, verzeih mir.
Verzeih mir, dass wir uns so auseinander gelebt haben.
Es ist besser fĂĽr uns alle.
Nun ja, ich wĂĽrde dir noch so gerne so
viel mehr sagen, Sally; wie viel du mir bedeutest, wie wichtig du mir bist, wie dankbar ich dir bin, aber mir geht der Platz aus.
Daher: Wenn es dunkel wird, schau zum Himmel hinauf, ich bin einer der Sterne und sehe auf dich herunter und passe auf dich auf.
Ich liebe dich, Sally.
Leb wohl,
deine beste Freundin Lue
Der Zettel flog zu Boden und wenige Sekunden später weckte ein Schrei das gesamte Haus, während die Person, die schrie, zu Boden stürzte. „LUE!!!!!!!!!!!NEIN!!“
Jack
„Sally? Hey, Sally! SALLY!“
Verdattert öffnete ich die Augen und sah zu Ann, die neben mir saß. „Hm?“, kam es von mir und Ann nickte in Richtung Tafel. Verwirrt sah ich nach vorne. Die komplette Klasse starrte mich an und auch unser Lehrer musterte mich prüfend. „Stimmt etwas nicht?“, fragte ich unsicher und Herr Martins sah mich mit einem Blick an, der mir sagte, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
„Sally, ich verstehe, dass es dir im Moment nicht gut geht, daher ist es vollkommen in Ordnung, wenn du geistig nicht ganz anwesend bist, allerdings
solltest du vielleicht dem Krankenzimmer einen Besuch abstatten. Du siehst im Moment nicht sehr gesund aus.“
Verwirrt über die Antwort meines Lehrers sah ich Ann, die mich nur unsicher anlächelte, an.
Ich blinkte ein paar Mal mit den Augen, bevor ich meine Sachen in meine Tasche schmiss.
Mein Kopf brummte. Ich musste raus hier.
„Ich denke…Sie haben Recht, Herr Martins“, sagte ich, während ich meine Jacke und Tasche nahm und aufstand.
„Ich…Ich sollte dem Krankenzimmer einen Besuch abstatten“, murmelte ich,
während ich mit gesenktem Kopf Richtung Tür lief.
„Soll ich mitkommen?“, hörte ich Hanna fragen, aber ich schüttelte den Kopf.
Ich kam eigentlich ganz gut klar mit Hanna, aber sie stellte die meiste Zeit Fragen und im Moment war ich nicht in der Verfassung ihre Fragen zu beantworten.
Ich öffnete die Tür und ohne einen Blick nach hinten zu werfen, verließ ich den Raum und schloss sie wieder.
Automatisch schlossen sich meine Augen und ich lehnte mich gegen die Wand.
Obwohl es fast eine Woche her war seit Lue sich umgebracht hatte, konnte ich immer noch nicht gerade denken. Wann
immer ich versuchte etwas anzufangen, meine Gedanken wanderten automatisch zu Lues Brief.
In drei Tagen war Lues Beerdigung und ich musste so tun als ob es mir gut ginge. Schon allein der Gedanke daran ließ mich schwer schlucken und ich wollte mich wie an den ersten Tagen wieder mit meiner Decke zu einer Kugel zusammenrollen und schlafen. Einfach nur schlafen.
Erneut spĂĽrte ich die MĂĽdigkeit, die sich bereits vorhin im Klassenzimmer, wo ich dann auch kurz weggedriftet war, gelegt hatte. Obwohl ich mĂĽde war, wusste ich, dass selbst wenn ich mich hinlegen wĂĽrde, es nichts bringen wĂĽrde. Meine
Gedanken fanden keine Ruhe. Nie fanden sie Ruhe. Ich kam mir vor als würde ich in einer Blase, in der die Zeit zwar weiterging, ich aber nicht weiterging, leben.
Ich seufzte.
Auch wenn Lue meinte, dass ich weitergehen sollte, ich glaubte nicht, dass ich das schaffte.
Â
„Hey, alles in Ordnung?“, hörte ich plötzlich eine männliche Stimme fragen.
Ich öffnete meine Augen und drehte den Kopf in die Richtung aus der die Stimme gekommen war.
Ein Junge mit seidig aussehenden braunen Haar und grĂĽnen Augen sah
mich besorgt an.
„Hä?“, kam es äußerst intelligent von mir und der Junge kam auf mich zu.
„Ich fragte, ob alles in Ordnung ist. Du siehst nicht sonderlich gut aus. Soll ich dich ins Krankenzimmer bringen?“
Verwirrt sah ich ihn an, bevor ich fauchte: „Ich weiß, dass ich nicht gut aussehe! Ich brauche nicht jemanden, der mich daran erinnert! Und ich komme gut allein klar!“
Überrascht über meine bissige Antwort, machte der Junge einen Schritt nach hinten und ich sah ihn böse an, bevor ich mich von der Wand abstieß und es sofort bereute.
Der Schlafmangel machte sich bemerkbar
und die Welt drehte sich vor meinen Augen. Ich schloss die Augen erneut, aber immer noch drehte sich die Welt um mich herum.
„Hey, ist wirklich alles in –.“
„Ja, verdammt noch mal!“, fluchte ich und machte einen Schritt nach vorne.
Nun im Nachhinein wäre es wohl doch besser gewesen Hanna zu erlauben mitzukommen. Oder dem Kerl zu sagen, dass er mit mir zum Krankenzimmer kommen sollte.
Wohlmöglich wäre das weniger schlimm gewesen, als in den Armen gerade eben genannten Jungens durch die Schule zum Krankenzimmer getragen zu werden.
GlĂĽcklicherweise war noch keine Pause.
„Ich weiß zwar nicht, was du hast, aber du solltest besser nachhause gehen“, meinte der Junge und ich gab nur ein „Hm“ als Antwort.
„Ach ja, ich bin übrigens Jack. Und du bist?“
„Sally.“
Jack stoppte und ich wusste, dass er wahrscheinlich daran dachte, dass ich das Mädchen, dessen beste Freundin sich umgebracht hatte, war.
Ich erwartete schon ein weiteres
„Entschuldige, ich wusste nicht…“ oder ein „Es tut mir leid für dich“ zu hören, aber Jack sagte nichts, sondern ging einfach wieder los, öffnete die Krankenzimmertür und meinte dann, als er mich auf die Liege legte: „Freut mich dich kennen zu lernen, Sally.“