Was war das Leben schön, so ganz ohne Telefon im Haus. Die ersten acht Jahre meiner Menschwerdung kam ich wunderbar ohne zurecht. Damals machte man noch keine Termine aus, man traf sich. Klappte hervorragend, und dran gestorben ist auch keiner. Unser erstes Telefon, ein bordeauxroter Klotz aus dem Hause Siemens, damals natürlich noch ganz mittelalterlich mit Schnur, kam ca. 1992 ins Haus, als die Telefonleitungen in der Post-DDR-Provinz gerade mal frisch verbuddelt waren. Die Eltern fast all meiner Freunde hatten das gleiche Telefon gekauft, nur in anderen grandiosen Farben: kotzgrün und irgendwas
Pflaumenartiges. Vielleicht war’s der Zeitgeist, vielleicht war das Ding aber auch einfach nur unschlagbar billig. Ein Telefonat im Ort kostete übrigens seinerzeit laut bedrohlich hochratternder Digitalanzeige zwölf Pfennig pro, äh, Minute, Gesprächseinheit oder was auch immer. Das war auf Dauer zwar kein Pappenstiel, aber zumindest wir Preußen bekamen in einer Minute Gesprächszeit eine ganze Menge Inhalt unter.
Knirps, der ich war, hatte das Telefon für mich damals genau zwei Funktionen. Erstens: Freunde anrufen. Das lief in etwa so ab: »Kommste raus?« - »Joa, wann denn?« - »Jetzt? Treffen am
Fußballplatz?« - »Joa, bis gleich.« - »Ciao.« - »Joa.« Zehn Sekunden höchstens, schon war man durch - preußische Gesprächseffizienz in Perfektion! Zweite Funktion: Wenn die eigenen Eltern nicht daheim waren, heimlich bei der Angebeteten anrufen, warten, bis sie ranging, dann schnell auflegen und die mit Raufaser tapezierte Wand anseufzen. Ihre Nummer hatte ich natürlich längst unter Herzklopfen aus dem dicken Telefonbuch gesucht, und während des Freizeichens betete ich innerlich, sie selbst möge abheben und nicht ihre Eltern, von denen ich ja doch immer irgendwie befürchtete, sie würden durch die Stille hinweg sofort erraten,
wer gerade anrief und sich offenbar einen Scherz erlaubte. Fakt ist, ich wurde nie erwischt, aber Fakt ist auch, dass ich während dieser Zeit niemals eine Freundin fand. Komisch.
Irgendwann in den ganz späten Neunzigern entdeckte ich das Telefon neu. Ein »Telefon to go« quasi, ein Handy, wie ich erfuhr. Ganz ohne Schnur und für die Hosentasche. Als Potenzvernichter der Neuzeit das funkende Gegenstück zur Viagra-Pille. Das erste Mobiltelefon, das ich in meinen Griffeln hielt, war das Nokia 3210 eines Freundes - ein für damalige Verhältnisse todchices Gerät in der Form
eines Flaschenöffners, und genau dafür ließ es sich auch verwenden: zum Öffnen von Bierflaschen. In arabischen Ländern, so sagte man, würden Menschen mit Nokia-Telefonen gesteinigt, weil es schlicht nichts Härteres gab. Es war eine Zeit, als Lehrer dachten, mit dem Ende der Tamagotchis wäre die Schwemme des digitalen Irrsinns überstanden. Mitnichten, denn plötzlich machte es im Unterricht ständig: »Piep piep - piep piep«. Haufenweise Schüler hatten die Hände nur noch unterm Tisch, hielten die Köpfe gesenkt, und wer genau lauschte, konnte ein Geräusch wie das Tippeln von tausend Spinnenbeinen vernehmen. Aus den Lehrerschubladen
musste es von all den einkassierten Handys bald mehr gestrahlt haben als aus dem Betonsarg in Tschernobyl.
Handys hatten seinerzeit ebenfalls zwei Funktionen. Die erste hieß »Snake« und war ein ziemlich banales Spielchen, bei dem man eine eckige Schlange über den eckigen Bildschirm steuerte, um kleine eckige Punkte einzusammeln. So aufregend wie das Behandeln von Fußpilz, und trotzdem war’s der Renner, für den man alles stehen und liegen ließ. Funktion Nummer zwei war die SMS. Hatte man in der Prä-Handy-Ära noch jede Menge Inhalt in zwölf Pfennig Telefonzeit unterbringen können, waren
es jetzt nur noch 160 Zeichen in einer Kurznachricht für knapp 40 Pfennig - auch wenn abgewichste Profis Optimierung betrieben, indem sie die Leerzeichen wegließen, wasDannSoAussah. Wahnsinnig ineffizient jedenfalls und genauso bekloppt, trotzdem wurde plötzlich nur noch gesimst, statt telefoniert. Das hatte zwei Gründe. Erstens: Zwar konnte man einer Legende zufolge mit dem Handy auch telefonieren, aber die Gesprächsgebühren waren so hoch, dass es günstiger gewesen wäre, die zu übermittelnde Nachricht mit Tinte aus Einhornblut auf ein Blatt Papier mit Prägung zu kritzeln, dieses um einen
Goldbarren zu wickeln und den dann mittels adliger Brieftaube zum Empfänger zu schicken. Außerdem waren die Funknetze derart mies, dass mit dem Wort Funkloch im Prinzip das ganze Land gemeint war. Empfang gab’s nur vereinzelt, wenn man das Handy lange genug hochhielt und dabei stillstand. Wie viele Menschen während dieser Pose vom Blitz getroffen wurden, ist nicht überliefert. Zweitens: Unter jüngeren Leuten grassierte offenbar eine Angst vor Eltern. Die Panik, bei einem Anruf über das Festnetz könnten die Erzieher rangehen, die man dann erst hätte fragen müssen, ob der Nachwuchs da sei und man diesen auch sprechen dürfe, war
wohl so groß, dass niemand mehr telefonierte und nur noch Kurznachrichten durch die Welt geballert wurden. Diese Form der Kommunikation hatte zwar den Charme, dass man beim Kontaktieren der neuen Freundin nicht mehr befürchten musste, mit dem Vater konfrontiert zu werden, der einen über das Abreißen der Eier und das Hineinstopfen selbiger in die eigenen Augenhöhlen aufklärte, falls man seiner Tochter das Herz brach, es hatte aber auch den Nachteil, dass all jene, die kein Handy besaßen, eigentlich gar nichts mehr mitbekamen, weil niemand mehr auf dem Festnetz anrief. Genau so erging es mir.
Als im Jahr 2003 die sozialen Kontakte derart in den Keller gegangen waren, dass ich mich selbst wie der Außenseiter fühlte, der ich fast schon geworden war, rang ich mich dazu durch und kaufte auch ein Handy. Damals trug ich bei Wind und Wetter für einen Hungerlohn Zeitungen aus, sodass ich mir den kleinen Luxus leisten konnte, einen dieser blöden Nokia-Plastikbomber zu kaufen. Apropos Luxus: Seit Jahren wird geklagt, dass die Armen immer ärmer würden. Wer sich wundert, weshalb am Ende der Kohle immer noch so viel Monat übrig ist, der könnte beispielsweise mal bei Vodafone anrufen
und nachfragen, woran das wohl liegen mag. Die haben sich vor nicht allzu langer Zeit für den schmalen Taler von elf Milliarden Euro Kabel Deutschland mit Schlagsahne und Schokostreuseln einverleibt. Das sind schon zwei, drei Durschnittseinkommen. Für mich diente das Handy seinerzeit nur der Erreichbarkeit. SMS-Nachrichten schrieb ich allenfalls mal nach zwei, drei Bier. Überhaupt ließ ich ziemlich viel von dem Irrsinn aus, den die Seuche namens Handy mit sich brachte, als da wären: Schalen! Seinerzeit ließ sich nicht nur der Geräteakku noch wechseln, sondern praktisch alles. Reihenweise Vietnamesen verkauften plötzlich keine geklauten
Zigaretten mehr, sondern glitzernde Kunststoffschalen mit Hello-Kitty- oder pseudocoolem Blitzaufdruck fürs Mobiltelefon. Bloß nicht beim Standard bleiben, wenn man sich auf dem Schulhof nicht zum Löffel machen wollte. Ein weiteres Übel, inzwischen zum Glück nahezu in der Versenkung verschwunden, löst noch heute Kotzkrämpfe bei mir aus: Jamba! Was mit billigen Piepsklingeltönen und Furzgeräuschen für eingehende Nachrichten anfing, endete irgendwann bei Videos von singenden Elchen mit herumbaumelnden Eiern und Schlimmerem. Wer meint, die Erfinder dieser Abzockmaschinerie, auf die
reihenweise Jugendliche der Generation Alkopop hereinfielen, würden verdienterweise in der Hölle Pfannen voller Angetrocknetem mit herkömmlichem Spülmittel schrubben, der irrt: Die Schlitzohren gründeten von der vielen Kohle hübsche neue Firmen, etwa den freundlichen Schuhlieferanten aus der Nachbarschaft, bei dem noch so richtig geknüppelt wird wie auf den Sklavengaleeren der alten Römer. Schrei vor Glück!
Das dritte Mal entdeckte ich das Telefon im Jahr 2007 neu. Die Firma Apple hatte es irgendwie geschafft, ein Mobiltelefon aus der Zukunft in die Gegenwart zu
teleportieren. Seinerzeit gab es zwar bereits Smartphones, aber die waren so schwer zu bedienen, dass man mindestens Philosophie, höhere Mathematik und transzendentale Informatik studiert haben musste, um da durchzusteigen. Die Finnen schienen mit derlei Unbedienbarkeit besser klarzukommen, denn deren Wirtschaftsprimus sowie einstiger Reifen- und Gummistiefelfabrikant Nokia verpennte glatt den Trend zu leicht benutzbaren Mobiltelefonen. Heute existiert Nokia bekanntermaßen nur noch zum Selbstzweck und damit Finnland nicht lediglich für Exportholz, Finnen und die Band Lordi bekannt ist. Apple änderte
mit seinem völlig neuen Konzept aber auch andere Dinge: Mobiltelefone, die bis zuletzt immer kleiner und kleiner werden mussten, bis die Tasten nur noch von Menschen mit angespitzten Fingern zu bedienen waren, konnten plötzlich nicht mehr groß genug sein. Heutige Mobiltelefone sind von Großbildfernsehern kaum mehr zu unterscheiden. Zudem erreichen die Preise für die digitalen Fußfesseln inzwischen ungeahnte Höhen. Dass Chantal aus Marzahn sich trotz Hartz-IV und Kippensucht jedes Jahr das neuste Bling-Bling-Gerät für satte 500 Kröten leisten kann, um alle zwei Tage ihre Duckface-Hackfresse mit möglichst viel
Megapixeln fürs Facebook-Profil abknipsen zu können, zeigt immerhin, dass es um Deutschlands Wohlstand so schlecht nicht stehen kann. Ansonsten hat sich im Prinzip nicht viel geändert. Menschen, die früher morgens im Bus eine Flappe zogen, während sie aus dem Fenster starrten, tun heute dasselbe, nur sie während des Schweigens auf ihr Telefon-Display glotzen, sich die Nackenwirbel ruinieren und die Smiley-Palette via WhatsApp und Co. rauf und runter versenden. Das mag spätrömische Dekadenz sein, das oft beschworene Ende der Menschheit ist es gewiss nicht. Wenigstens nicht, bis ich demnächst das Telefon zum vierten Mal entdecken
muss, weil jeder um mich herum mit seiner scheiß Armbanduhr spricht! Das sah nämlich schon in den 80ern bei David Hasselhoff in »Knight Rider« dämlich aus, und was aus dem geworden ist, wissen wir ja.