Er musterte mich. Ich spürte den stechenden Blick auf meiner Haut, seine Augen waren blutunterlaufen. Ein diffuses Licht schimmerte in seinen Pupillen, das seinen Blick verschleierte. Mit einem unwohlen Gefühl und ohne wirklich zu wissen, ob er nicht schon völlig erblindet war, zwang ich mich zu einem Lächeln und trat tiefer in den Raum. Er wirkte verloren hinter seinem riesigen Schreibstuhl, völlig zusammengesunken starrte er zu mir herüber. Der Absatz meiner Stiefel klackte unnatürlich laut auf dem glatt
geschliffenen Marmor, wodurch die erdrückende Stille wenigstens für einen kurzen Augenblick zerschnitten wurde, bevor sie sich wieder quälend über uns senkte. Für einen Moment hätte ich glauben können, er würde versuchen zu lachen, doch seine Mundwinkel zogen sich bloß vor Schmerzen verkrampft nach oben. Ich hatte meinen Vater noch nie so niedergeschlagen erlebt. Die Lage war ernst. Womöglich ernster als ich erwartet hatte. Das Audienzzimmer war erschreckend kahl, keine Verzierungen wie in den restlichen Teilen des Gebäudes. Ich war verwundert, dass er jeglichen Prunk aus diesem Zimmer fernzuhalten versuchte, obwohl das Haus
nur so vor Reichtum strotzte. Nervös verschränkte ich die Arme hinter dem Rücken und baute mich mit respektvollem Abstand vor dem großen, dunklen Schreibtisch aus Bergahorn auf, der schon seit Jahrhunderten in unserem Familienbesitz war. Ich richtete mich auf, straffte meinen Rücken. Bauch rein, Brust raus. So wie es mir schon seit Kindstagen an gelehrt worden war. Mit einem kurzen Räuspern festigte ich meine Stimme und versuchte laut zu ihm zu sprechen
„Vater?“
Meine Worte hallten durch den leeren Raum, brachen sich an den farblosen Säulen, die bis zur Hälfte in die
aschfahlen Mauern eingearbeitet waren, und drangen als Geräuschwall wieder zu mir herüber. Als sie die Ohren meines Vaters erreicht zu haben schienen, streifte sein Blick kurz den meinen, bevor er wieder ins Leere glitt. Seine halbgeschlossenen Augenlider begannen zu flattern.
„Du weißt warum ich hier bin.“
Ich hatte diesen Satz nicht als Frage formuliert, doch meine Unsicherheit hatte ihn wie eine klingen lassen. Ich senkte den Blick, doch mit diesen Worten hatte ich wohl seine Aufmerksamkeit geweckt, denn er begann sich langsam aufzusetzen, mit einer seiner ledrigen Hände stützte er
sich auf die Armlehne des Stuhls. Seine bleiche Haut hob sich markant von dem dunklen Holz ab und ließ ihn noch kränklicher wirken. Der Sessel knarzte unter seinem Gewicht und ein leises Stöhnen entfuhr meinem Vater. Er strich sich über den Bart, dessen Haare weiß und strohig waren, ich konnte sie beinahe unter seinen Fingern brechen hören. Geräuschvoll blies er die Luft aus seinen Nasenlöchern und murmelte etwas Unverständliches. Entschlossen trat ich näher heran, legte meine Hand behutsam auf das alte, naturbelassene Holz und strich vorsichtig darüber. Ich starrte allein auf meine eigene Hand.
„Wie lange weißt du es schon?“
Ich spürte die kleinen Vertiefungen, die von den vielen Jahrzehnten zeugten, die der Tisch bereits miterlebt hatte, sowie die vereinzelten Erhebungen, aus denen einst junge Äste heraussprießen hatten wollen. Ich sah zu ihm auf, weil er meine Frage missachtet hatte und fühlte mich plötzlich wieder wie das kleine Mädchen, das vor vielen Jahren auf seinem Schoß gesessen hatte, während er Geschichten seiner Jugendzeit wieder aufleben hatte lassen. Ich hatte diese Abenteuerstunden mit ihm geliebt. Vielleicht wollte ich es nicht zugeben, aber ich vermisste sie sehr.
Ich starrte ihn an. Mit großer Anstrengung versuchte ich direkt in
seine Pupillen zu schauen, doch die nebelhaften Schleier ließen keine mehr erkennen. Wütend ballte ich meine Hand zu einer Faust und schlug auf den Tisch. War er denn zu feige, seiner Tochter zu sagen, dass er verloren hatte? Dass er am Ende seiner Kräfte war?
„Warum hast du uns nichts gesagt?“
Meine Stimme klang verzweifelt, ich sprach so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. Er wandte sich ab, starrte zur Wand, an genau die Stelle, an der einmal das große Familienportrait gehangen hatte. Ich folgte seinem Blick. Man konnte die Umrisse noch erkennen, die das kolossale Bild hinterlassen hatte. Wehmut spiegelte sich in seinem
Gesicht, als er stillschweigend die leere Mauer betrachtete.
Ich wusste genau, was los war. Er gedachte seines einzigen Sohnes, meines großen Bruders. Ich konnte die Abscheu schmeckten, die bei diesen schandhaften Erinnerungen in mir aufkam. Ein kleines Mädchen, keine zehn Jahre alt war ich gewesen, als er uns verlassen hatte. Er war nicht gestorben, aber ich wünschte, er wäre es. Er war ein Deserteur, ein Verräter. Ja, das war er. Er war zu den Lichtalben übergelaufen. Ein Weib dieses niederträchtigen Volkes hatte ihn verführt, und dieser törichte Tölpel hatte sich überreden lassen durchzubrennen. Durch seine
Blauäugigkeit hatte er nicht nur Schande über unsere Familie gebracht, nein, sondern er hatte unseren Vater an den Rand des Wahnsinns getrieben. Seit dieser Zeit hatte mein Vater sich verändert. Er wirkte müder als sonst, war schwach und gebrechlich. Auch sprach er kaum noch mit uns, hatte seine Geschäftsräume ans Ende des Hauptkorridors und seine Gemächer in den hintersten Teil unseres Hauses verlegen lassen, fernab jeglichen Lebens. Dadurch bekam ich ihn kaum noch zu Gesicht, und die Sorge in mir wuchs stetig, ich könnte meinen Vater verlieren. Er zog sich immer weiter zurück, verschwand allmählich aus
meinem Leben.
Einmal hatte ich ihn schweigend in seinem großen Lesestuhl, in der leeren Bibliothek sitzend, vorgefunden. Er hatte dort gesessen und aus den bodentiefen Fenstern gestarrt, die ihm Einblick in die Welt außerhalb dieser Mauern gewährten, die Sehnsucht nach der Weite und Grenzenlosigkeit unseres Reiches nährend.
Stunde um Stunde war vorübergeflogen und ich hatte die ganze Zeit über neben ihm gestanden, hatte ihn beobachtet, doch er wollte mich nicht bemerken. Irgendwann fing er an zu schreien, unkontrollierbar schlug er um sich und rief mit lauter Stimme den Namen meines
Bruders. Mir blutete das Herz, wenn ich nur daran dachte. Sein Anfall hatte mehrere Minuten gedauert. Mit geröteten Wangen und bebenden Schultern hatte er in dem Sessel gekauert. Das war das erste und letzte Mal gewesen, dass ich meinen Vater weinen sah.
Doch noch verstörender als damals war der Anblick, den er mittlerweile bot. Mit eingefallenen Wangen lehnte er in seinem Schreibstuhl, sein Blick glitt immer wieder von der Wand zu mir und dann ins Leere ab. Er war eindeutig viel zu alt für das alles. Die letzten Jahre hatten ihn mitgenommen. Er war am Ende seiner Kräfte, auch wenn er sich
das nie eingestehen würde. Erschrocken sah ich ihn an, als plötzlich ein rasselndes Husten aus seiner Kehle drang.
„Du musst etwas unternehmen.“
Es musste etwas geschehen. Die Welt stand vor ihrer größten Herausforderung und ihr Herrscher sah ihr dabei zu, wie sie in Flammen aufgehen würde. Noch war es nicht so weit, doch wir hatten nicht mehr viel Zeit. Das schien auch er endlich einzusehen. Er seufzte leise, als ihm bewusst zu werden schien, weshalb ich hier war.
„Was willst du, Kind?“
Seine tiefe Stimme schwängerte die Luft im Raum mit uralter Macht, kroch auf
mich zu und ging mir durch Mark und Bein. Die Worte rollten quälend langsam über seine Lippen, als wäre er gerade aus einem tiefen, langen Schlaf erwacht. Ich musste mich zusammennehmen, um bei ihrem Klang nicht ein paar Schritte zurückzuweichen. Plötzlich kam mir der Abstand, der vorher schützend zwischen uns gelegen hatte, viel zu klein vor, jeglicher Mut wollte aus meinem Herzen fliehen.
Doch ich durfte nicht nachgeben. Ich war nicht gekommen, um mit ihm zu plaudern.
„Du hast also bereits davon erfahren“, schloss ich unbeirrt.
„Dann sollte dir auch gewiss sein,
warum ich zu dir gekommen bin.“ Wieder versuchte ich ihm tief in die Augen zu schauen. „Du musst es verhindern. Wenn du weiterhin nichts unternimmst, wird es unser sicheres Ende bedeuten. Dein Volk und all seine Kinder wäre dem Untergang geweiht.“
Ich merkte, wie er die Augen weitet, als ich die vielen Kinder erwähnte, die durch sein Nichtstun sterben würden. Man konnte fast meinen, er hätte eine Schwäche für Kinder, und das wusste ich geschickt einzusetzen. Ich versuchte, selbstsicher aufzutreten, mein Harnisch knirschte bei jeder Bewegung. Jede Faser meines Körpers sträubte sich, doch mit viel Überwindung machte ich
einen weiteren Schritt auf ihn zu, bis meine Stiefelspitzen das Verdeck des Schreibtisches berührten. Aber alles, das ich zur Antwort bekam, war ein missbilligender Blick des alten Mannes. Nicht einmal mit Kindern konnte ich ihn überzeugen. Der Ärger in mir wuchs. Plötzlich nahmen seine Züge einen Ausdruck an, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Und damit begann ich zu verstehen.
Er traute es mir nicht zu. Er hielt mich immer noch für dieses kleine Mädchen, dem er einst die Legenden und Mythen ihres Volkes erklärt hatte. Mein Vater konnte mich einfach nicht als Frau sehen, als junge Kriegerin, die bereit war
zu kämpfen. Stattdessen musterte er mich nun abwertend und als sein Blick auf meine Schwertscheide fiel, sah er enttäuscht zur Seite. Ein leises Schnauben entfuhr mir, ich konnte meine Gereiztheit nicht länger verbergen. Seit Tagen hatte ich nicht mehr richtig gepirscht und die Müdigkeit stieg mir langsam zu Kopf. Etwas verzweifelt erhob ich erneut meine Stimme.
„Wenn du es nicht tust, dann lass mich ziehen, Vater! Ich werde diese Bürde anstelle des gesamten Volkes auf mich nehmen.“ Sanft neigte ich mein Haupt. Anstelle meines Bruders, fügte ich in Gedanken hinzu.
Er wäre rechtmäßiger Thronfolger gewesen, diese Aufgabe wäre eigentlich ihm zugefallen. Doch nun war ich es, die das Schicksal der Alben, ob licht, ob dunkel, auf meinen Schultern zu tragen hatte.
„Das kann ich nicht.“
Überrascht sah ich auf. Konnte er es denn nicht sehen? Dass unser Reich, die Welt unserer Ahnen, aber auch die Welt unserer Nachfahren, auf Messers Schneide stand? Ich hielt mich zurück, nicht mit meinen Stiefelhacken den Marmorboden zu zersplittern. Meine Hände ballte ich zu Fäusten und presste sie fest an meinen Körper, aus Angst, die Kontrolle über sie verlieren zu
können. Unfassbar war es mir, dass er so leichtfertig mit der Situation umging.
„Warum nicht? Ich habe die beste Ausbildung genossen, wurde von den erfahrensten Kriegern und Mentoren des Landes in der Kunst des Kampfes unterwiesen! Wie kannst du mich nicht gehen lassen? Ich weiß mich zu verteidigen. Schutzes bedürfe ich schon lange nicht mehr! Ich bin nicht mehr das Mädchen, das du kanntest. Die Wahrheit ist nämlich, dass du mich mit der Zeit zu kennen verlernt hast!“
Ich tat einen tiefen Atemzug. Mit war nicht aufgefallen, wie sehr ich mich in Rage geredet hatte. Aber ich sah, wie sehr ihn die letzten Worte getroffen
hatten. Trotzdem bedauerte ich keines davon. Alles, was ich ihm gerade vorgehalten hatte, war nichts als die Wahrheit gewesen. Ungeduldig wartete ich auf irgendeine Reaktion von Seitens meines Vaters. Doch er blieb stumm. Wütend fuhr ich ihn an.
„Vater!“
Ein lauter Knall ließ mich zurückschrecken. Mit flacher Hand hatte er auf seinen Tisch geschlagen und den ganzen Raum zum Schwingen gebracht. Peinlich berührt blickte ich zu Boden, als er sich zu mir nach vorne beugte und mit mahnender Stimme auf mich einredete.
„Du hast wohl vergessen, deinem Herr
und Vater genügend Respekt zu zollen! Bedenke, welchen Rang du innehast, meine Tochter.“
Schwer atmend ließ er sich zurücksinken und strich sich ein weiteres Mal durch den widerspenstigen weißen Bart. Nach einer kurzen Stille sprach er weiter.
„Ich habe bereits jemand Erfahreneren schicken lassen. Ich werde dich nicht auch noch gehen lassen. Du bist doch das Einzige, das mir geblieben ist.“
Eine einzelne Träne glitt über seine Wange und verschwand zwischen seinen Barthaaren. Ungläubig starrte ich ihn an. Von so etwas ließ ich mich nicht mehr beeindrucken. Zu lange hatte sich mein Vater schon vor uns versteckt, so
lange hatte er sich schon aus meinem Leben zurückgezogen, als dass ich mich dadurch noch abhalten ließe. Verächtlich stieß ich die Luft aus. Durch zusammengebissene Zähne presste ich die Worte hervor.
„Wen hast du schicken lassen?“
Ein Geräusch zerschnitt die Luft. Ich hörte das Surren einer Waffe ganz dicht an meinem Ohr. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ein Dolch an der Wand hinter dem alten Mann stecken blieb. Mein Vater hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ängstlich stellte ich fest, dass das Messer sich bis zum Griff in die Mauer gebohrt hatte. Wer auch immer es geworfen hatte, er war
verdammt nochmal stark.
Plötzlich spürte ich, wie sich mein Haarband langsam löste und über meine Schulter zu Boden glitt. Perplex griff ich mir an den Kopf, während ich dem braunen Tuch nachsah. Er hatte es wahrhaftig geschafft, den Knoten zu durchtrennen, der die Enden zusammengehalten hatte, ohne, dass ich es bemerkt hatte. Wie hatte er das geschafft? Ich konnte meinen Schrecken nicht länger verbergen, doch mit ihm war die Neugier gekommen. Aber ich drehte mich nicht um. Ich betrachtete meinen Vater eingehend, dessen Blick an der Tür festhing. Mit zitternder Stimme wiederholte ich meine Frage.
„Vater, wen hast du schicken lassen?“
Eine verführerische Männerstimme drang an mein Ohr und ließ mein Herz ungewollt schneller schlagen. Ich schnappte nach Luft. Seine Stimme war mir so unheimlich vertraut, dass ich fast aufgelacht hätte. Ich hätte jeden erwartet, nur nicht ihn. Dabei war die Wahl, die mein Vater getroffen hatte, gar nicht so abwegig, wenn man bedachte, dass er und ich eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Ich hatte diese Zeit schon beinahe vergessen. Und trotzdem brachte mich sein plötzliches Auftauchen fast aus der Fassung.
„Mich.“
EagleWriter Bis hierhin wirklich super geschrieben. Bin ich mal gespannt lg E:W |