Es klingelt.
Ich schaue verdutzt auf die Uhr.
Wer klingelt denn um diese Zeit noch an meiner Tür?
Es ist doch bereits nach 22 Uhr abends.
Ich möchte eigentlich meine Ruhe haben. Die Kinder sind endlich im Bett, mein Mann mit Freunden unterwegs, die Arbeit endlich getan. Nichts mehr hören, nichts mehr sehen. Außer das Abendprogramm im Fernsehen. Am besten schön schnulzig. Nichts, worüber ich zu tief nachdenken muss.
Aber vielleicht ist etwas passiert, vielleicht braucht jemand Hilfe.
Dem Besucher draußen vor der Tür dauert es vielleicht ein bisschen zu lange, bis ich
ihm endlich die Tür öffne, denn es klingelt gleich noch einmal.
Also gut, vielleicht hat er das Licht gesehen, das durch einen Spalt der Jalousien auf die Straße dringt. Hat gesehen, dass ich auf alle Fälle noch wach bin nach meinem langen Tag. Vielleicht ist es doch etwas Wichtiges.
Ich schiebe mich also vom Sofa hoch, schlüpfe in die Latschen, die ich bequemerweise ausgezogen habe und schlurfe zur Tür.
Vielleicht sollte ich dem Besucher nett und freundlich beibringen, dass es unhöflich ist, um diese Zeit noch an Türen zu klingeln. Ich meine, um diese Zeit möchte doch jeder seine Ruhe haben. Möchte nicht
mehr gestört werden. Möchte seinen Tag für sich beenden.
Nach meinen Tagen will ich einfach nur Zeit für mich haben. Zeit zum Abschalten.
Möchte nichts mehr hören.
Möchte nichts mehr sagen.
Möchte einfach nur ich sein.
Möchte die Welt da draußen auch draußen lassen können.
Noch bevor ich an der Tür bin und sie öffnen kann, klingelt es bereits zum dritten Mal.
Ja, ja, ich komme ja schon, knurre ich und werde langsam ärgerlich.
Die Welt ist so schnell und ungeduldig geworden, denke ich.
Auch ich bin so geworden, gestehe ich mir
ein.
Ich bin unbarmherzig geworden, hart und unzufrieden.
Warum immer ich? Warum nicht mal die anderen? Sehen die anderen nicht, wie schlecht es mir geht? Warum ist mein Leben so, wie es eben ist, denke ich nicht zum ersten Mal an diesem Tag.
Als ich schließlich die Tür öffne, steht da keiner.
Ich schaue nach rechts - da tigert eine Katze durch den Mondschein.
Ich schaue nach links - da schmiegt sich im Schatten der Nacht ein Liebespaar aneinander.
Habt ihr bei mir geklingelt, frage ich sie und störe ihr Liebesgeflüster.
Nein, wie kommst du darauf, sagen sie und gehen eng umschlungen weiter.
Ich zucke mit den Schultern.
Als ich wieder zurück ins Haus gehen will, bleibt mein Blick an einem Päckchen hängen, das auf meinem Türvorleger liegt. Es ist nicht sehr groß, beinahe hätte ich es übersehen. Aber es ist auch nicht so klein, dass man es nicht finden könnte.
Ist das für mich, frage ich. Für wen denn sonst, antworte ich mir. Immerhin liegt es hier vor meiner Tür.
Ich bücke mich und hebe das Päckchen auf, schließe die Tür hinter mir und trage es in mein Wohnzimmer, wo der Fernseher mir noch immer seine schnulzige Familienromanze zeigen will. Ich stelle den
Ton leise und blicke auf das Päckchen, das ich vor mich auf den Tisch gelegt habe.
Was wird da wohl drinnen sein, überlege ich. Geburtstag habe ich doch nicht. Vielleicht eine Überraschung von meinen Freunden. Einfach mal so. Wäre ziemlich nett.
Aber wann habe ich das letzte Mal etwas von ihnen gehört?
Wann haben sie das letzte Mal etwas von mir gehört?
Ich schaue mir das Päckchen genauer an. An einigen Stellen ist das graue Packpapier schon schmutzig. Ja, sogar eingerissen. Ein bisschen unansehnlich, denke ich. Wahrscheinlich ist es schon lange
unterwegs gewesen.
Vielleicht hat es einen weiten Weg zurück gelegt.
Es steht kein Absender darauf. In schwarzen kleinen Buchstaben geschrieben, entdecke ich an einer schmuddeligen Ecke meinen Namen. Gut, nun bin ich mir ganz sicher, dass es für mich ist. Dann kann ich es ja auch öffnen.
Ich reiße also das schmuddelige graue Papier ab und lasse es neben dem Tisch auf den Boden gleiten. Unter dem Papier kommt eine graue Schachtel zum Vorschein. Vorsichtig hebe ich den Deckel hoch und schaue darunter. Sicher ist sicher. Wer weiß, was mir da entgegen kommen kann. Aber ich entdecke wiederum
eine Schachtel, ein bisschen kleiner als die erste, aber wieder ist sie grau.
Nunja, schön ist sie nicht, aber ich öffne auch diese Schachtel.
Ich frage mich, wer mir das Päckchen vor die Tür gelegt haben könnte.
Einer meiner Freunde?
Oder will mich etwa jemand ärgern?
Der Nachbar von schräg gegenüber, dessen Hund mir immer und immer wieder direkt vor die Türe kackt? Und dem ich schon hundertmal gesagt habe, er soll den Haufen seines vierbeinigen Riesenköters gefälligst mit nach Hause nehmen? Dann sollte ich beim Öffnen der Schachtel vielleicht etwas vorsichtig sein.
Zaghaft schnuppere ich an der Schachtel,
aber es kommt kein unangenehmer Geruch heraus. Es duftet eher nach einem riesigen Strauß Sommerblumen.
Dann ist vielleicht die ältere Dame im Haus neben mir die unbekannte Schenkerin. Ich hatte ihr vor ein paar Tagen geholfen, ihre Einkäufe nach Hause zu tragen. Oder die junge allein stehende Mutter drei Häuser weiter, auf deren Kind ich einen Nachmittag lang aufgepasst habe, weil sie dringend etwas in der Stadt erledigen musste.
Gut gelaunt und neugierig packe ich weiter aus. Ich öffne den Deckel der grauen Schachtel und finde darin ein kleines Päckchen. In buntes Blümchenpapier ist etwas eingepackt.
Also doch kein Hundehaufen, sondern ein schönes Präsent.
Das kleine Päckchen ist mit zarten bunten Seidenbändern stilvoll verschnürt. Ich habe etwas Mühe, den festen Knoten, der alles zusammen hält, aufzubinden. Ich möchte keine Schere benutzen. Es wäre schade um die Bänder.
Als ich es geschafft habe, falte ich langsam und erwartungsvoll das bunte Papier auseinander.
Die innerliche Vorfreude steigert sich in unbändige Neugier. Eigentlich kann ich es kaum noch erwarten und fühle mich wie ein Kind am lange herbei gesehnten Geburtstag.
Ja, und dann halte ich es endlich in den
Händen und betrachte mit feuchten glänzenden Augen das Geschenk:
Mein Leben.
Auf der Karte, die dabei liegt, steht:
Für dich.
In Liebe.
Papa.